Heft 1/2018, Simbabwe

Den Unsichtbaren eine Stimme geben

FLAWSOME SONENI THANDEKA GWIZI kam mit einer Behinderung auf die Welt. Doch die mit einem Frauenpreis für Afrika ausgezeichnete Medienvertreterin ist hellwach und wird nicht müde, auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Simbabwe und anderswo aufmerksam zu machen. Ein Portrait.

„Die Internetverbindung ist heute nicht stabil, ich hoffe es klappt um 10 Uhr." Diese Nachricht erreicht mich eine halbe Stunde vor unserem Interview. Bis kurz vor unserem Gespräch ist unklar, ob es überhaupt stattfinden kann. Es ist ein Samstag im Januar und um 9 Uhr morgens MET klappt es dann doch. Am anderen Ende der Leitung, etwa 12.000 km entfernt, strahlt eine junge Frau in die Kamera. Sie schafft es, ihre Energie und Lebensfreude auch über eine solch große Distanz und über ein digitales Medium zu transportieren. Auf ihrer kleinen Terrasse in Bulawayo, Simbabwe, sitzt Soneni Gwizi und erzählt von ihrem Engagement für Inklusion und Rechte von Menschen mit Behinderungen, ihrer afrikanischen Identität und ihrer Vision für das Land.

Unheilbar krank, aber hellwach
Soneni Gwizi stammt aus dem ländlichen Simbabwe. Sie wurde mit der Erbkrankheit „Osteogenesis imperfecta" (OI) geboren und ist daher heute kleinwüchsig. Die Krankheit ist im Volksmund besser bekannt unter dem Namen „Glasknochenkrankheit", auch wenn dieser Begriff die Realität der allermeisten Betroffenen nur sehr unvollkommen beschreibt. Es handelt sich dabei um eine genetisch bedingte Kollagenfehlbildung, die zu Fehlern im Aufbau der Knochenmatrix führt. Gegenwärtig kann OI nicht geheilt werden. Während OI zu körperlicher Behinderung führen kann und dadurch die Verwendung von Krücken, Rollstuhl oder anderen Mobilitätshilfen notwendig wird, ist der Geist so wach und leistungsfähig wie bei jedem anderen Menschen auch.

Ihr Vater hatte zwei Ehefrauen, Sonenis Mutter war die jüngere von beiden. Nach ihrer Geburt zog der Vater sich zurück. Die Geburt eines behinderten Kindes ist in Simbabwe mit viel Stigma verbunden. Besonders im ländlichen Kontext herrscht oft die Meinung vor, dass die Geburt eines behinderten Kindes mit Hexerei in Verbindung steht oder, dass es sich um das Kind eines fremden Mannes handeln könnte. Er ließ sich nie offiziell scheiden, aber hat sich auch nicht in die Erziehung eingebracht. Diese Tatsache hat die Beziehung zwischen Mutter und Tochter nur erstarken lassen. „Ich wurde von einer sehr starken Mutter aufgezogen, die mir etwas über die Überlebensfähigkeiten der Behinderten beibrachte. Sie lehrte mich, dass eine Behinderung für mich niemals ein Hindernis sein sollte, um meine Träume zu verfolgen und Freunde zu finden." Die Finanzen der kleinen Familie waren knapp. Soneni konnte damals nicht in die Schule gehen, da diese zu weit weg war und sie aufgrund ihrer Behinderung oft ins Krankenhaus musste.

Neugierig und wissbegierig wie Soneni aber bereits als Kind war, nahm sie sich die Bücher ihrer Geschwister, um zu lernen. Nach einigen Streitereien unter den Kindern haben ihre Geschwister ihre Bedürfnisse anerkannt und ihr nach der Schule beigebracht, was sie zuvor selbst gelernt hatten. So lernte Soneni Schreiben, obwohl sie nicht zur Schule ging. Ihr Arzt im Krankenhaus – sie beschrieb ihn einmal als Vaterersatz – wurde darauf aufmerksam und kümmerte sich darum, dass sie in Bulawayo zur Schule gehen konnte.

Journalismus als Leidenschaft
Mit 18 musste sie das staatliche Schulsystem verlassen, was sie aber nicht davon abhielt, weiter zu lernen. Am Tag ging sie einer normalen Arbeit nach und widmete sich am Abend ihrer Leidenschaft, dem Journalismus.
Heute beschreibt sich Soneni selbst als Rundfunk- und Fernsehsprecherin, Schwester, Freundin und Mentorin, Weltbürgerin und Medienvertreterin. Sie gibt Workshops an Schulen, hält Vorträge und wird nicht müde, die Verantwortlichen im Land auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen hinzuweisen. Für ihr Engagement wurde sie unter anderem mit dem „Women 4 Africa"-Preis ausgezeichnet.

Wenn man mit ihr spricht, bekommt man nicht den Eindruck, dass diese Frau jemals Probleme damit gehabt hätte, was sie tut. Dieser Eindruck trügt. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass man es als afrikanische Frau schwer hat – als behinderte, afrikanische Frau erst recht. Ihren Aktivismus kann man als frauenbewegt und behindertenbewegt charakterisieren. Das Vorbild: ihre Mutter, die sich trotz fehlender formeller Bildung immer für sie eingesetzt hat. Soneni bedauert, dass kaum über Frauen wie ihre Mutter berichtet wird, die den Alltag in Afrika gestalten. „Das ist die typische afrikanische Frau, das ist die Hausfrau, die aufwacht und aufs Feld geht, das Land bebaut und am Ende des Tages Brot auf dem Tisch hat, weil Weizen da ist. Jemand hat das getan, aber wir hören nie von ihnen."

Noch weniger Aufmerksamkeit schenkt die Gesellschaft aber Behinderten. Sie sind schlicht unsichtbar, obwohl sie laut UN-Statistik über 10 Prozent der Bevölkerung in Simbabwe ausmachen. In der Realität ist die Zahl aber wohl weitaus höher. Das simbabwische Gesundheitssystem ist heute zumeist überfordert, Mobilitätshilfen sind teuer und für viele unerschwinglich.

Soneni hat sich zur Aufgabe gemacht, den Unsichtbaren eine Stimme zu geben. Ihrer Auffassung nach sind Bildung und Kommunikation der Schlüssel dafür. Bildung macht den Unterschied, ob jemand für sich selbst sorgen kann oder nicht. Durch einen reinen Wohlfahrtsansatz sei Behinderten nicht geholfen, denn dieser fördere Armut. Fördert man hingegen ihre Bildung und befähigt sie innerhalb ihrer Leistungsfähigkeit, so schafft man einen nachhaltigen Beitrag. Bildung alleine reicht jedoch nicht, wenn die relevanten Themen nicht auch kommuniziert werden. Trotzdem versucht Soneni in ihrem Aktivismus nicht, ihr eigenes Schicksal in den Vordergrund zu stellen. Besonders in ihrer Arbeit mit der Regierung setzt sie auf Fakten: „Ich arbeite nicht an persönlichen Maßnahmen. Es hat nichts mit meinem Leben, meinen Problemen zu tun, aber es ist das, was Menschen durchmachen. Sobald sie [die Regierung] die Tatsachen vorliegen haben, können sie das nicht mehr leugnen. Und die meisten Fakten beruhen auf der Verletzung des verfassungsmäßigen Rechts von Menschen mit Behinderungen in Simbabwe."

Unabhängiger Freigeist
Als Kanal für ihre Kommunikationsarbeit schätzt Soneni moderne Technologien, die Social Media. Die Tatsache, dass sie für unser Gespräch keine 12.000 km zurücklegen muss, sondern das einzige Hindernis eine etwas ruckelige Internetverbindung ist, ist für sie revolutionär. Die Möglichkeit, über Social Media von zu Hause aus ein Millionenpublikum zu erreichen, ist für ihre Arbeit von großer Bedeutung – vor allem, weil diese Form von Kommunikation barrierefrei ist. Über Facebook und Twitter vernetzt sie sich zum einen mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten im Ausland und schaltet sich zum anderen immer wieder in politische Debatten ein. Dabei ist sie sicher, dass ihre Stimme auch gehört wird: „Der Minister für Arbeit und Soziales hat mir [auf Twitter] eine Nachricht gesendet: Wir lieben deine Ideen, was können wir tun? Also hören sie mir zu, ich glaube fest, dass sie mir zuhören. (...) Sie werden Dinge vielleicht nicht sofort ändern, aber sie wissen, da draußen ist jemand."

Selbst kann sie sich eine politische Karriere zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht vorstellen. Sie hat Angst, dadurch den Kontakt zu den Menschen zu verlieren, für die sie sich einsetzt. Gänzlich ausschließen möchte sie die Option dennoch nicht: Ich bin ein Freigeist – ich weiß noch nicht, wo die Reise mich hinführen wird.

Bis November vergangenen Jahres kannte die junge Nation Simbabwe nur einen Präsidenten: Robert Mugabe. Am 15. November 2017 endete seine 30-jährige Amtszeit und der ehemalige Vize Emmerson Mnangagwa übernahm die Regierungsgeschäfte. Seitdem sind viele Augen auf das afrikanische Binnenland gerichtet. Die Zukunft des Landes sieht Soneni seitdem optimistischer. Sie hat das Gefühl, dass seit dem 15. November 2017 Bürger stärker in den politischen Prozess eingebunden werden. Diese Beteiligung sei für sie der Schlüssel für eine positive Entwicklung des Landes, denn die Bürger sollten der Hauptschwerpunkt einer jeden Regierung sein: „Die Situation in Simbabwe ist seit dem 15. November 2017 vergleichbar mit einer Familie mit einem neugeborenen Kind. Jeder hat zu lernen, wie man sich um das neue Familienmitglied kümmert, und keiner ist dem anderen dabei überlegen."

Ihrer Meinung nach sei es für diesen politischen Neuanfang wichtig, die kulturelle Identität als Nation oder als Individuen nicht zu verlieren. Die Bevölkerung müsse sich erinnern, wer sie ist, und die kulturelle Vielfalt annehmen. Mehrfach bezieht sich Soneni in diesem Zusammenhang auf die südafrikanische Lebensphilosophie „ubuntu". Ein Wort aus den Sprachen der Zulu und Xhosa, welches für „Nächstenliebe" und „Gemeinsinn" steht.

Teilen, Einbringen und Gestalten
Dass diese Nächstenliebe und dieser Gemeinsinn für sie eine große Rolle spielen, merkt man schnell, wenn Soneni ihren „Afrikanismus" definiert. Dazu gehört, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist: Ihre Identität als stolze, behinderte Afrikanerin ist ihr sehr wichtig. „Was sind meine Werte als afrikanische Frau? Ich habe Schokoladenhaut, ich habe Dreadlocks, ich beziehe mich auf Menschen, ich bin freundlich, ich bin entgegenkommend, ich liebe, ich verzeihe, ich nehme an. Meine Probleme werden zu deinen Problemen. Wir lösen sie zusammen. Wir teilen. Für mich ist genau das ‚Afrikanismus'. Es ist, wenn ich eine andere Schwester von einem anderen Kontinent, aus einer anderen Gemeinschaft annehme und das wenige Essen teile, das ich habe."

Was von unserem Gespräch bleibt, ist ein prägender Eindruck einer starken Persönlichkeit; jemand, die trotz aller Widrigkeiten nicht nur ihren Platz gefunden hat, sondern sich auch gestaltend und mit positivem Einfluss in die Gesellschaft einbringt. Sie stellt sich gerne als „flawsome Soneni Thandeka Gwizi" vor. Hierbei ist „flawsome" ein zusammengesetztes Adjektiv aus den englischen Begriffen „flawed" (fehlerhaft) und „awesome" (genial, großartig). Es beschreibt eine Person, die ihre Makel akzeptiert und weiß, dass sie trotzdem großartig ist und Großartiges leisten kann. Der Name Soneni übersetzt sich aus isiNdebele in „Was haben wir getan". Thandeka bedeutet übersetzt „geliebt werden". „Die Namen haben zu meiner Identität als behinderte afrikanische Frau beigetragen. Ich habe mein Selbst in ihnen gefunden, im Gegensatz zu dem falschen Verständnis von Behinderung, dass man verflucht sei, wenn man behindert ist."

Julia Müller

Die Autorin ist Humangeografin mit Schwerpunkt südliches Afrika und hat ihren Master an der Universität Köln gemacht.