Heft 1/2018, Südliches Afrika

Es fehlt der Mut zur Dekolonialisierung

DAS HUMBOLDT-FORUM UND DEUTSCHLANDS KOLONIALE AMNESIE. Das Humboldt-Forum in Berlin, das derzeitig teuerste Kulturprojekt Europas, steht seit letztem Sommer im Zentrum der Debatte über die verschleppte koloniale Aufarbeitung Deutschlands. In dieser treffen die Diskussion über den Umgang Deutschlands mit dem Genozid an den Herero und Nama (1904-1908) im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika (Namibia) mit der Debatte über koloniale Beutekunst in deutschen Museen und Archiven aufeinander.

Seit sich im Sommer letzten Jahres die Feuilletons des Themas Humboldt-Forum angenommen haben, erscheinen wöchentlich Berichte und Kommentare. Was die Diskussion um den ersten deutschen Völkermord nicht schaffte, Kritik am Preußentum, scheint nun die Schleusen in den Redaktionen zu öffnen. Die Reaktion der Verantwortlichen in Politik und Kultur bzw. der ihnen zur Verfügung stehenden PR-Maschinerie zielte darauf ab, die Kritik mehr oder weniger pauschal zurückzuweisen. Wenn man daraus Rückschlüsse ziehen kann, dann die, dass die intellektuellen Fundamente des Humboldt-Forums noch morscher waren, als angenommen. Offenbar hatten sich die Verantwortlichen vorab mit der postkolonialen Kritik und ihren theoretischen Grundlagen nicht wirklich auseinandergesetzt.

Worin aber liegt nun genau das (post-)koloniale Erbe des Humboldt-Forums? Welche Wege müsste die deutsche (Kultur-)politik im Allgemeinen und das Humboldt-Forum im Besonderen gehen, um dieser Verantwortung gerecht zu werden?

Der koloniale Kern des Humboldt-Forums manifestiert sich etwa im Gebäude, das auch auf die im deutschen Kolonialreich verübten Gräueltaten verweist: Das Humboldt-Forum wird im wiederaufgebauten Stadtschloss der Hohenzollern untergebracht. Das letzte regierende Mitglied der Dynastie war jedoch Kaiser Wilhelm II, in dessen Namen etwa der derzeit besonders im Fokus des Interesses stehende Genozid an den Herero und Nama verübt wurde. Das mag im Wesentlichen eine symbolische Verbindung sein, aber aus dem Ort ergibt sich eine besondere Verantwortung. Eine Anknüpfung an als positiv empfundene Traditionen (hier des Preußentums) ist nicht möglich ohne eine Übernahme der Verantwortung auch für die negativen Teile der Geschichte.

Diese Verbindung ist um so schwerwiegender, als die Fertigstellung des Humboldt-Forums zeitlich zusammenfällt mit den Klagen der Herero und Nama auf Entschädigung für den im kaiserlichen Namen verübten Genozid und den Regierungsverhandlungen zwischen Deutschland und Namibia. Viele in Namibia empfinden die Positionen und auch das Auftreten der deutschen Verhandlungsführung als paternalistisch, wenn nicht gar kolonial. Da wiegt es schwer, wenn gleichzeitig in der deutschen Hauptstadt der Prunk der Monarchie feierliche Urstände feiert.

Koloniale Leerstellen
Diese Wirkung verstärkt sich durch die koloniale Leerstelle, welche generell in der deutschen Erinnerungspolitik und Vergangenheitsbewältigung klafft. Das Humboldt-Forum will, und unter Marketinggesichtspunkten mag dies bei oberflächlicher Betrachtung auch nachvollziehbar sein, ein positives Bild deutscher intellektueller Weltaneignung zeigen. Dies geschieht aber vor dem Hintergrund des Ausbleibens einer ähnlich prominenten Auseinandersetzung mit dem Unrecht und den Verbrechen der (kolonialen) Weltaneignung. Man denke etwa nur daran, dass sich der Bundestag bis zum heutigen Tag nicht dazu durchringen konnte, den Genozid an den Herero und Nama als solchen anzuerkennen, dass es keinen (zentralen) Gedenkort für die Opfer des Kolonialismus gibt, und dass – mit Ausnahme Hamburgs – keine staatlich forcierte Erforschung des konkreten kolonialen Erbes stattfindet.

Aus der vielbeschworenen Ausgewogenheit des Urteils über den Kolonialismus, mit der Verteidiger des Humboldt-Forums gerne argumentieren, wird so eine einseitige Fokussierung auf die unhinterfragt als positiv angenommenen Errungenschaften der musealen und wissenschaftlichen Weltaneignung in Zeiten des Kolonialismus. Der insbesondere von der postkolonialen Theorie herausgearbeitete Zusammenhang von Wissen und Macht, der Hinweis darauf, dass das europäische koloniale Ausgreifen über die Welt theoretisch legitimiert und begleitet wurde durch deren „wissenschaftliche" Aneignung, fällt dabei unter den Tisch. Es ist eine weitere (post-)koloniale Leerstelle, welche sich in der zumindest naiv zu nennenden Vorstellung niederschlägt, kolonial gesammelte Objekte würden „für sich" stehen und könnten einfach gezeigt werden.

Dabei lassen sich die Sammlungen eben nicht von ihrer Geschichte trennen, in diesem Fall der des Kolonialismus. Vielmehr vollzogen sich Gründung und Blüte ethnologischer Sammlungen und der sie präsentierenden Museen historisch in einer symbiotischen Beziehung zum Kolonialismus. Das europäische Ausgreifen über die Welt regte nicht nur das Interesse an „exotischen" und „fremden", oftmals als „wild" und „barbarisch" wahrgenommenen Gesellschaften und „Kulturen" an. Dieses erleichterte es auch, deren materielle Zeugnisse nach Europa zu schaffen und auszustellen.

Folgenreiche Aneignungsprozesse
Dieser Prozess hatte weitreichende Folgen, denn die Reduktion komplexer gesellschaftlicher und kultureller Strukturen ist der Logik des Sammelns und Ausstellens eingeschrieben. Indem man Gesellschaften und „Kulturen" durch Erwerb und Auswahl auf einige wenige materielle Objekte reduzierte, homogenisierte man diese. So wurden ganze „Kulturen" repräsentiert, Unterschiede wurden glattgeschliffen. Gleichzeitig wurden Differenzen zu den Betrachtenden betont, schließlich weckte vor allem das „Fremde", das „Exotische" Interesse, nicht das Gemeinsame. Damit wurde das Andersartige herausgearbeitet, dem alsbald oftmals Hierarchisierungen folgten.

Schon allein durch ihre Sammlungen, die des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst, steht das Humboldt-Forum in dieser Tradition. Es ist ein Eindruck, der noch durch die Entscheidung verstärkt wurde, die Sammlungen der europäischen Ethnologie nicht ins Humboldt-Forum in die Mitte Berlins mitzunehmen, sondern in Dahlem zu belassen, gehört doch die Unterscheidung zwischen europäischer und außereuropäischer Kultur zu den Grundkonstanten des kolonialen Blicks.

Aus dieser Erbschaft kann sich das Humboldt-Forum nicht selbst entlassen. Zeigt man die Objekte aus jenen Sammlungen, muss man diese Tradition annehmen, ja sie bewusst thematisieren. Die Geschichte dieser Nutzung der Objekte macht jede Ausstellung dieser Objekte zu einem Kommentar über die vergangene Praxis, denn auch das Schweigen ist laut. Gefordert ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der politischen und ideologischen Gebundenheit von Wissenschaft und Weltaneignung; indem man etwa die Konstruktionsprozesse von Identitäten und Alteritäten in den Blick nimmt, statt blind auf die Macht und Wirkung „echter" Objekte zu vertrauen.

Darin liegt jedoch auch eine Chance. Mutig ergriffen kann das Humboldt-Forum zu dem Ort in Europa werden, an dem über die Entstehung und Popularisierung, aber auch die Wirkung des europäischen, des kolonialen Blicks diskutiert wird. Die Institution „Völkerkundemuseum" würde am zentralen Ort dekolonialisiert, ja sie würde es selbst tun! Das Humboldt-Forum würde seiner selbst zugeschriebenen Rolle als Forum für globale Diskussionen gerecht.

Bisher ist aber wenig davon zu spüren, dass überhaupt das entsprechende Problembewusstsein vorhanden ist. Wie sonst ließe sich erklären, dass Mit-Intendant und Kunsthistoriker Horst Bredekamp noch im Sommer letzten Jahres von einem „Spiel" sprechen konnte, „allein und vornehmlich die Kolonialzeit in den Mittelpunkt zu stellen". Vordergründiger Kontext seiner Aussage war seine Ansicht, „die Sammlungsgeschichte Berlins umfass(e) 460 Jahre und in diesem Zeitraum ha(be) es 34 Jahre Kolonialherrschaft gegeben".

Dass in den Sammlungen auch viele Objekte liegen, die im Kontext des französischen, belgischen, spanischen, portugiesischen, russischen, dänischen, niederländischen oder britischen Kolonialismus angeeignet wurden – wie etwa die eindeutig aus einem Raubkontext stammenden, weltberühmten Benin-Bronzen –, widerlegt diese Aussage schon auf der grundlegendsten Faktenebene. Theoretisch ist sie völlig unhaltbar, blendet sie doch den gesamten Bereich der eurozentrischen Wissensproduktion und der Einübung des kolonialen Blicks aus. Bredekamp ist damit selbst Beleg für eine koloniale Amnesie in der deutschen Gesellschaft, die zu bekämpfen Aufgabe des Humboldt-Forums ist und sein muss.

Reaktionen auf postkoloniale Kritik
Fraglich ist allerdings, ob dies wirklich erwünscht ist. So kann man die Geschichte des Humboldt-Forums auch als Versuch lesen, eine neue (alte) Meistererzählung von der deutschen Geschichte als der Geschichte der Dichter und Denker zu etablieren, der Kultur- und Wissenschaftsnation, die ihr dunkles Kapitel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwunden hat, ja nicht darauf reduziert werden darf.

So reagierte der bereits erwähnte Horst Bredekamp auf die postkoloniale Kritik missbilligend mit dem Hinweis, die Betonung der kolonialen Kontinuitäten der Völkerkunde(-museen) sei „eine späte Wiederauferstehung" des Diktums „Von Luther zu Hitler". Es ist hier nicht der Ort, das Für und Wider dieser Kontinuitätsdiskussionen zu erläutern, noch ist der Hinweis darauf schon ein Argument gegen dieselbe. Es zeigt jedoch, dass es bei der Debatte um das Humboldt-Forum um die großen Fragen der deutschen Geschichte und deutschen Identität geht. Das ist per se nichts Negatives, und Deutschland braucht zweifellos einen Ort für solche Debatten. Nur sollten auch diese offen geführt werden, und zwar bevor man in Stein gemeißelte Realitäten schafft. So erscheinen das Humboldt-Forum und das Stadtschloss auch als Versuch, die deutsche Geschichte nach 1945 an die große, vermeintlich nicht-kontaminierte Geschichte des langen 19. Jahrhunderts rückzubinden.

Die Geschichte des Kolonialismus mit seinen inhärenten Praktiken des Rassismus und der Ausbeutung liegt dem quer, ja sie stellt die grundsätzliche Frage an die vielbeschworene Aufklärung und Moderne, für die das Berlin der Akademien und Salons, der Bibliotheken und Universitäten, und letztendlich der Museen angeblich steht.

Und als wäre das nicht schon genug, schiebt sich – ausgelöst und inspiriert durch das Thema NS-Raubkunst – immer stärker auch die Fragen nach der Provenienz der einzelnen Objekte in den kolonialen Sammlungen in der Vordergrund, ja in jüngerer Zeit konzentriert sich die Debatte darauf. Und hier scheinen die Macher des Humboldt-Forums zu reagieren. So wurde nicht nur vor kurzem ein Projekt zur Erforschung von Objekten aus dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika initiiert, sondern der Mitintendant und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, schlug zu Beginn dieses Jahres auch eine internationale Konferenz vor, die verbindliche Richtlinien zum Umgang mit kolonialer Beutekunst beschließen sollte, ähnlich der Washingtoner Erklärung von 1998, welche Empfehlungen für den Umgang mit während des Nationalsozialismus beschlagnahmter Kunst formuliert hatte.

So richtig und notwendig dieser Vorschlag im Grunde ist, letztendlich kommt er für das Humboldt-Forum zu spät. Man fragt sich, warum dieser Vorschlag in all den Jahren der Planung nicht schon viel früher gemacht wurde. Wenn sich ein derartiges Abkommen überhaupt international realisieren lässt, dann wird es Jahre dauern, alle ehemaligen Kolonialmächte, ehemaligen Kolonien und zivilgesellschaftlichen Verbände und Organisationen in all diesen Ländern an einen Tisch zu bringen. Bis zur geplanten Eröffnung des Humboldt-Forums 2019 ist das nicht zu schaffen. Und so bleibt es der schnellere und bessere Weg, mit gutem Beispiel voranzugehen. Das wäre auch der anvisierten, weltweiten kulturellen Rolle des Humboldt-Forums angemessen.

Restitution afrikanischer Kunstwerke
Wie man so etwas angeht, demonstrierte jüngst der französische Präsident Macron bei seinem Besuch in Burkina Faso, als er ankündigte, sich für die Restitution afrikanischer Kunstwerke in Frankreich einzusetzen. Die Aufmerksamkeit war ihm gewiss. Wie die Umsetzung aussieht, wird sich zeigen. Hier könnte auch das Humboldt-Forum wegweisend wirken. Es gilt, nur den Mut zu haben, wirklich neue Wege zu gehen.

Gefragt ist hier auch die Politik. Und hier schließt sich der Kreis. Wie bis heute die Entschuldigung für den Genozid an den Herero und Nama von allerhöchster Stelle nicht vollzogen wurde, wie die Verhandlungen zur Anerkennung und Aussöhnung nicht wirklich Erfolge zeitigten, sondern für Verärgerung sorgten, so fehlte bisher auch beim Humboldt-Museum etwas der Mut und zuweilen auch das Verständnis für die große postkoloniale Geste. Sollte man diesen demnächst aufbringen, wäre Deutschland vor weiterem Prestigeverlust bewahrt.

Jürgen Zimmerer

Der Autor ist Professor für Globalgeschichte (Schwerpunkt Afrika) an der Universität Hamburg und Leiter der vom Hamburger Senat dort eingerichteten Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung". Von 2005-2017 amtierte er als Gründungspräsident des „International Network of Genocide Scholars (INoGS)".

Dieser Artikel basiert auf Überlegungen, die der Autor im August 2017 in der FAZ zum Ausdruck brachte, und im Januar 2018 in Politik&Kultur weiter ausführte. „Kolonialismus ist kein Spiel. Die Verantwortlichen für das Humboldt-Forum haben noch nicht verstanden, welche Objekte sie zeigen wollen", Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 9.8.2017 https://www.kolonialismus.uni-hamburg.de/kolonialismus-ist-kein-spiel/
„Weltkultur & postkoloniale Kritik. Das Humboldtforum im Zentrum deutscher Identitätsdiskurse, Politik&Kultur 21.12.2017 https://www.kulturrat.de/themen/erinnerungskultur/humboldt-forum/weltkultur-postkoloniale-kritik/


Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe"
Hamburg war als Deutschlands Tor zur (kolonialen) Welt engstens mit der Europäischen Expansion verbunden. Um diese Geschichte aufzuarbeiten und damit einen neuen Start der postkolonialen Erinnerungskultur zu beginnen, entschloss sich der Hamburger Senat 2014 dazu, wissenschaftliche Grundlagenforschung zu fördern. Eine Anschubfinanzierung ermöglichte die Einrichtung der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung" an der Universität Hamburg, wo seitdem ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Zimmerer die Verbindungen und Nachwirkungen des Kolonialismus in Hamburg, Deutschland und den ehemaligen Kolonien in all ihren Facetten untersucht.
https://www.geschichte.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/globalgeschichte/forschung/forschungsstelle-hamburgs-postkoloniales-erbe.html