„Wir wenden uns entschlossen gegen die zunehmende und gezielte Einschränkung von Zivilgesellschaften (Shrinking Spaces), die sich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen." So etwas sagt natürlich auch die issa, aber dieses Zitat ist dem Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung entnommen. Und nun?
Was noch in unserem Dossier „Zivilgesellschaft unter Druck" in der Ausgabe 5/2018 (Gemeinsam für das Gemeinwohl? von Rupert Graf Strachwitz) als mögliches Szenario benannt wird, ist eingetreten. Der deutschen Sektion von Attac ist durch das oberste Finanzgericht die Gemeinnützigkeit aberkannt worden. Ist dies nur die Spitze eines Eisbergs? Schon Anfang der 2000er-Jahre musste sich Greenpeace jahrelang gegen Zweifel an seiner Gemeinnützigkeit wehren. Aktuell wird die Gemeinnützigkeit der Arbeit der Deutschen Umwelthilfe mehr als kritisch hinterfragt, ebenso die der Tierschutzorganisation Peta und selbst einzelne Gliederungen des Verbands der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN-BdA) werden bezüglich ihrer Gemeinnützigkeit infrage gestellt. Den Anliegen der Gemeinnützigen, die eben nicht gewinnorientiert handeln, stehen dagegen sehr wohl eigennützige Lobbyorganisationen gegenüber, die ihre Arbeit auch noch als Betriebsausgaben von der Steuer absetzen können.
Während in anderen Staaten mit Unterdrückung und blanker Gewalt auf die „bedrohlichen" Aktivitäten der Zivilgesellschaft reagiert wird, wählt man in Deutschland den vermeintlich korrekten Weg über den Rechtsweg. Grundlage ist dafür die Abgabenordnung (AO), in der geregelt ist, welche Aktivitäten als gemeinnützig gelten (§ 52). Und damit die derzeitige Fassung, die einem modernen Verständnis von Aufgaben und Aktivitäten einer heutigen Zivilgesellschaft offensichtlich nicht mehr entspricht. Viele wichtige Zwecke sind darin nicht benannt, z.B. die Förderung der Menschenrechte, der Kinderrechte oder der Einsatz gegen Rassismus. Mit seinem Urteil hat der Bundesfinanzhof (BFH) nun die Spielräume unzähliger gemeinnütziger Organisationen eingeengt.
Dagegen steht das durchaus moderne Verständnis der Aufgaben einer engagierten Zivilgesellschaft, wie es im Strategiepapier des BMZ (5/2014) zur „Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft in der Entwicklungspolitik der Post-2015-Welt" beschrieben ist. Darin heißt es unter anderem: „Weltweit setzt sich Zivilgesellschaft für die Lösung von Problemen ein, die aus ihrer Sicht von staatlichen oder privatwirtschaftlichen Institutionen nicht ausreichend bewältigt werden, und nimmt, wo immer möglich, politischen Einfluss auf Regierung, Parlament aber auch Wirtschaft und internationale Institutionen." Konsequenterweise ist das weiter oben erwähnte Dossier seitens des BMZ über Engagement Global bezuschusst worden.
Heißt das also: Kritik an den Zuständen in den Ländern des globalen Südens ja gerne, aber bei uns, wenn es denn zu unbequem wird, bitte nein? Zur Erinnerung: Die sehr umfassenden Nachhaltigkeitsziele der UN gelten nicht nur für die Länder des globalen Südens, sondern auch für vermeintlich entwickelte Länder wie Deutschland.
Was folgt aus alldem? Die Welt verändert sich rasant. Täglich sehen wir uns neuen Herausforderungen gegenüber, die der einzelne oft nicht mehr versteht und schon gar nicht als Individuum beeinflussen kann. Und nicht jeder möchte sich nur im Rahmen von politischen Parteien engagieren. Klimawandel, Digitalisierung, Globalisierung, die weltweiten Skandale um Kindesmissbrauch etc. fordern das Engagement des einzelnen Bürgers geradezu heraus. Wie sehr es die Menschen drängt, zeigt das mutige Beispiel junger Schülerinnen und Schüler (schon fast im Sinne einer transnationalen Sozialen Bewegung), die in diesen Tagen für ihre bedrohte Zukunft freitags nicht zur Schule gehen und stattdessen das (Nichts-)Tun von uns Erwachsenen kritisch hinterfragen.
Was ist also zu tun? Das Positive an diesem Urteil ist: Es hat zu einer unmittelbaren erhöhten Aufmerksamkeit geführt – nämlich für die Notwendigkeit, möglichst schnell und nachhaltig zu konkreten Verbesserungen für die unerlässliche Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen zu kommen. Grundlage dafür kann u.a. die Studie „Wie das Gemeinnützigkeitsrecht politisches Engagement erschwert" der Otto Brenner Stiftung und des Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement vom März 2018 sein. Der Bundestag hat sich vor kurzem erstmals mit einem Antrag der Partei Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Gemeinnützigkeit braucht Rechtssicherheit statt politischer Willkür" befasst. Und neben einer möglichst sofortigen Modernisierung der Abgabenordnung täte es unserer Gesellschaft gut, wenn der Bundestag darüber hinaus eine breit geführte Grundsatzdebatte über das Verständnis der wichtigen Funktion zivilgesellschaftlicher Organisationen in einer liberalen Demokratie im 21. Jahrhundert initiiert.
Klaus-Dieter Seidel
P.S.: Wer tiefer in die Debatte einsteigen möchte, sei neben der o.a. Studie auf die „Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung" e.V. hingewiesen, in der sich mehr als 80 Stiftungen und Vereine zusammengeschlossen haben.
https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/die-allianz/