Heft 1/2021, Mosambik

Eine humanitäre Katastrophe

DIE SOZIALE SEITE DES KONFLIKTS IN CABO DELGADO. Die mosambikanische Regierung hat jahrelang sowohl die strukturelle als auch die Erwerbsarmut in den nördlichen Provinzen ignoriert1. Dies schuf erst die soziale Basis für den Terror durch vermeintlich islamistische Aufständische und führte zur nicht mehr zu verschweigenden humanitären Katastrophe. Teil 1 dieses Beitrags beschäftigt sich mit den Fluchtursachen und -schicksalen. In der nächsten Ausgabe werden die Probleme bei der Versorgung, die agierenden Organisationen sowie die Siedlungspläne der Regierung beschrieben.

„2.700 Prozent Steigerung der Geflüchteten in Mosambik in zwei Jahren" titelte das mosambikanische CIP (Centro de Integridade Pública) seine Studie2 über Geflüchtete und Vertriebene. 2.700 Prozent beziffert den Anstieg der Zahl der Menschen, die auf Grund von terroristischen Attacken im Zentrum des Landes – in den Provinzen Sofala und Manica –, aber vor allem in der Nordprovinz Cabo Delgado aus ihren Dörfern fliehen mussten. Es wurden die Zahlen der Vereinten Nationen (UN) von Ende September zugrunde gelegt.

Ende Dezember 2020 – und drei Monate später – hat sich diese Zahl fast verdoppelt. Ging man Ende September von 300.000 Geflüchteten in Cabo Delgado aus, so sind es Ende Dezember laut Berichten der mosambikanischen Regierung und der UN 560.000 geflüchtete Menschen!

Circa 250.000 sind laut Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Kinder. Zwei von fünf Kindern gelten sowieso schon als unterernährt und ihre geschwächten Körper werden durch die üblichen Krankheiten stärker gefährdet. Viele sind durch die Erlebnisse in ihren Heimatdörfern traumatisiert. Ihre Eltern können ihnen keinen Schutz mehr geben und ohne feste Strukturen wie ein sicheres Zuhause, geregelte Mahlzeiten und die Schule haben die Kinder alle Sicherheiten verloren, die für eine gute Entwicklung notwendig sind. Allein für die Versorgung aller Kinder auf der Flucht benötigt Unicef 43,3 Mio. Euro, davon ca. 30 Mio. allein für Cabo Delgado.

Insgesamt sind laut UN-Angaben 207 Mio. Euro für Humanitäre Hilfe nach internationalen Standards für die Geflüchteten in und aus Cabo Delgado notwendig.

Epizentren der Gewalt
Im Zentrum des Landes schwelt der alte Konflikt zwischen der oppositionellen Renamo und der Regierungspartei Frelimo. Zwar wurde im August 2019 ein dritter Friedensvertrag zwischen den beiden politischen Parteien geschlossen, aber der militärische Arm der Renamo stimmte dem nicht zu, spaltete sich unter der Führung von Mariano Nhongo ab und nennt sich seitdem „Renamo-Militärjunta" (vgl. „Von der Endgültigkeit eines Friedensvertrags", afrika süd 4, 2019).

Zum Jahresende 2020 nahmen sowohl Staatspräsident Filipe Nyusi als auch die Renamo-Führung Gespräche mit der militanten Sektion auf, aber im Januar 2021 wurden erneut LKWs überfallen, die ohne den üblichen militärischen Schutz auf der einzigen Nord-Süd-Verbindungsstraße der EN1 unterwegs waren, weil das Militär keine Fahrzeuge oder keinen Treibstoff hatte. Trotzdem: In diesem Konflikt sind die Akteure bekannt. Mit ihnen kann, z.B. über weitere Abfindungen für die Militärs, verhandelt werden.

Für Cabo Delgado gilt das nicht. Noch drei Jahre nach den ersten Überfällen gibt es diverse Theorien zur Urheberschaft des Terrors, die bereits in mehreren Artikeln in afrika süd beschrieben wurden (Hefte 5 u. 6, 2020). Der Nährboden des Konflikts ist aber vor allem die Armut in dieser vernachlässigten Provinz und die Frustration bei jungen Männern, die nichts vom prognostizierten Reichtum durch die Gasfunde und das größte Investitionsprojekt des afrikanischen Kontinents abbekommen. Die Frustration wird von diversen Kräften und Interessen geschürt.

Was bewegte die Menschen zur Flucht?
Bereits 2018 flohen Menschen aus terrorisierten Gebieten in der Provinz Cabo Delgado, wurden aber von der mosambikanischen Regierung in ihre Heimatdörfer zurückgeschickt. Mit der Versicherung, die nationalen Streitkräfte würden für ihre Sicherheit sorgen. Aber die Anzahl der Überfälle nahm zu und die terrorisierte Fläche wurde größer. Traf es anfangs eher staatliche Einrichtungen, wurden nun auch Dörfer überfallen – vor allem an den wenigen, einigermaßen gut ausgebauten Verbindungsstraßen in dieser strukturell schwach entwickelten Region.

Und es betraf von Anfang an die strategisch wichtige Hafenstadt Mocimboa da Praia. In den Orten wurden Menschen getötet, viele enthauptet – eine besonders perfide Form des Tötens durch diese Rebellen. Häuser und Vorratsspeicher wurden abgebrannt. Die Menschen leben größtenteils von der Landwirtschaft, das erfordert regelmäßige, oft lange Wege hin zu den Feldern, um die notwendigen Arbeiten zu tun. Angst bestimmte zunehmend diese Wege: Konnte man die Kinder allein zu Hause lassen? Überließ man sie möglichen Überfällen durch die Rebellen? War man selber sicher auf dem Weg zu den Feldern? Aber die Felder sind die Lebensgrundlage. Kein Essen ohne die Erträge der Felder.

Im Frühjahr 2019 erreichte der Wirbelsturm Kenneth einige Regionen der Provinz. Ein weiteres Desaster, in dem nur punktuelle Hilfe geleistet werden konnte: Auf Grund der unsicheren Lage vieler Dörfer wagten es nämlich nur wenige Nichtregierungsorganisationen, ihre Mitarbeitenden in die betroffene Provinz zu senden. Außerdem verbot auch die mosambikanische Regierung, Nothilfe in jenen Regionen zu leisten, in denen die Rebellen agierten. Sie sorgte sich, dass diese von der Hilfe noch profitieren könnten.

So lebten viele Menschen, darunter ca. 50 Prozent Kinder, Wochen und Monate im Busch – ohne geregelte Essensversorgung, immer in der Angst vor Überfällen. Seit August 2020 aber flüchten immer mehr Menschen. Ihre Hoffnung auf ein Ende der Überfälle ist gestorben. Ein Exodus aus der Region hat begonnen und ließ die Zahl der Geflüchteten auf über eine halbe Million anschwellen. Sie stranden in der Provinzhauptstadt Pemba oder in anderen sichereren Orten in Cabo Delgado und in den Nachbarprovinzen Nampula und Niassa.

Da die Regierung den Terror so lange ignorierte, bereitete sie keine Infrastruktur für die Flüchtenden vor. Einige kamen bei Verwandten, Bekannten oder auch Fremden unter, die selber oft in prekären Situationen leben – sowohl was die Lebensmittelversorgung, als auch den Wohnraum und die sanitären Verhältnisse angeht. Laut der CIP-Studie befanden sich Ende September nur 4,6 Prozent in den provisorischen Auffanglagern des Staates. Alle anderen sind irgendwo untergebracht.

Die Fluchtwege – erlebte Odysseen
Aus Mocimboa da Praia und Umgebung fliehen die Menschen mit überladenen Segelbooten nach Pemba. Sie haben Odysseen hinter sich: Erst die Terror-Erlebnisse in ihren Dörfern, ausharren am Strand und Kampf um einen Platz auf einem Fischerboot. Dann sind sie vier Tage und Nächte in den überladenen Booten – immer in der Angst, diese Fahrt nicht zu überstehen, zu kentern und zu ertrinken. Angst vor dem Ozean. Seekrankheit. Viele waren noch nie auf dem offenen Meer. Der Ozean ist tückisch und bedrohliche Strömungen machen auch diese Fahrt zum Horrortrip. Alle Notdurft muss unter den Augen der Mitreisenden erledigt werden. Nur einmal kann während der Fahrt an einer Insel angelegt werden, um sich „die Beine zu vertreten", das Boot etwas zu reinigen und evtl. Lebensmittel zu erstehen. Wenn alles gut geht, kommen die Geflüchteten in Pemba, im Stadtteil Paquitequete, an. Oft dehydriert und geschwächt. Dort helfen ihnen Freiwillige weiter, geben ihnen Wasser, ein wenig zu essen, versuchen Obdach für sie zu finden und suchen deren Familien oder Freunde. Viele sind auf Gutwillige angewiesen, aber einem Teil der Geflüchteten blieb nichts anderes übrig, als sich direkt am Strand Unterschlüpfe aus diversen Materialien zu bauen und dort ihre Notdurft zu verrichten.

Andere fliehen über Land und riskieren, entweder den Rebellen oder den Soldaten in die Arme zu laufen, die sie für Rebellen oder für Unterstützer der Rebellen halten. So floh auch Dias Guibana, eine Frau und Mutter: Drei ihrer Kinder starben bei Attacken, bis sie sich auf den Weg machte. Hochschwanger. Zu Fuß lief sie 90 km bis Mueda. Dort fand sie einen Platz auf einem Transport nach Nampula. Unterwegs gebar sie ihre Tochter. Nun lebt sie bei einer Tante in der Stadt Nampula. Nothilfe in Form von Lebensmitteln bekam sie noch nicht. Sie will stillen, aber ihre Brüste geben keine Milch. Sie weiß nicht, wie sie und ihr Säugling überleben sollen.

Muanacha Abudo, eine Frau von 65 Jahren, floh mit ihren drei minderjährigen Neffen, von denen zwei auf dem Weg verschwanden. Bisher hat sie kein Lebenszeichen von ihnen. In ihrem Heimatort Macomia war sie autark: Sie hatte ein Haus und bearbeitete ihren Acker, auf dem sie unter anderem Reis produzierte, den sie verkaufte, um andere Ausgaben zu decken. „Hier aber haben wir nichts zu essen und schlafen auf dem nackten Boden!"

Mit den beiden Frauen wohnen weitere 35 Flüchtlinge im Haus der Tante von Dias Guibana. Ein Mann hat Lepra und ist hochgradig infektiös. Trotzdem gelten die Leute für die Behörden als versorgt, weil sie ein Dach über dem Kopf haben. Dass viele in den zwei Monaten seit ihrer Ankunft noch keine Lebensmittel aus der offiziellen Verteilung erhalten haben, interessiert nicht. Reklamationen werden nicht ernst genommen, lediglich einige Mitglieder der katholischen Kirchengemeinde bringen ab und zu etwas zum Essen.

Organisation der Hilfe-Verteilungen
Das CIP befragte viele Geflüchtete. Jede und jeder hat eine leidvolle Geschichte von der Zeit vor der Flucht und von der Flucht selbst zu erzählen. Nun leben sie zwar ohne Angst vor Terror, aber es fehlen fast allen die notwendigen Lebensmittel, Schlaf- und Kochmöglichkeiten sowie ausreichende sanitäre Einrichtungen. Kinder konnten teils Jahre, teils monatelang nicht zur Schule gehen. Die internationalen Standards für die Versorgung von Flüchtlingen werden nicht eingehalten.

Der Bericht kommt zur Erkenntnis, dass die logistischen Mängel durch die rasch anwachsende Zahl der Ankommenden die zuständigen Stellen überforderte und die Menge an notwendigen Hilfsgütern und Lebensmitteln nicht adäquat beschafft werden konnten. Aber es gab auch Fehlverwendungen bei der Verteilung der Hilfslieferungen durch Manipulation der Listen. Es gab sexuelle Nötigung von Frauen durch die Verantwortlichen, die die Listen erstellten und die Frauen zum Sex zwangen, damit diese auf die Listen kamen. So leiden die vor dem Terror geflohenen Menschen auch am Ende ihrer Flucht – nur anders.

Resümee
Der mosambikanische Staat hat seine Sicherungs- und Fürsorgepflicht den Bewohnerinnen und Bewohnern in Cabo Delgado gegenüber massiv verletzt, weil er den Terror sehr lange ignorierte. Es kam zum Exodus der Bevölkerung aus den terrorisierten Gebieten hinaus. Da keinerlei Vorsorge getroffen wurde, um die flüchtenden Menschen adäquat zu versorgen, ist das Ende der humanitären Katastrophe noch nicht in Sicht. Die Pläne des Staates, die Geflüchteten in neu zu bauenden Gemeinschaftsdörfern außerhalb der industriell genutzten Flächen neu anzusiedeln, erinnert an die Pläne kurz nach der Unabhängigkeit und negiert sowohl die traditionellen Landrechte, die damit verbundenen Rechte auf Anhörung und Entschädigung sowie die verfassungsmäßigen Rechte der Gemeinden auf Anteile an Rohstoffgewinnen. Vertriebene Gemeinden ohne Strukturen können diese Rechte noch weniger einfordern als all die anderen, denen diese rechtmäßigen Anteile zustehen und die dafür kämpfen müssen.

Eine Eindämmung der humanitären Katastrophe ist – wenn überhaupt – nur durch rasche, mit den Gemeinden erarbeitete Planung und transparent kommunizierten Aufbau sozialer Infrastruktur möglich. Der würde auch Erwerbsmöglichkeiten für junge Männer schaffen können und diese somit der Verlockung, militant zu werden, möglicherweise wieder entziehen.

Petra Aschoff

Die Autorin war bis 2020 Referentin für Angola und Mosambik bei Brot für die Welt.


Nachrichtenticker:

30.12.2020 - Der tropische Wirbelsturm Chalane tobt nördlich der Hafenstadt Beira vom Indischen Ozean kommend über das zentrale Mosambik: In den Provinzen Sofala und Manica sind über 10.000 Menschen betroffen, weil ihre Häuser zerstört oder beschädigt wurden. 175 Schulen und etliche Gesundheitszentren wurden zerstört.

1.1.2021 – Der französische Konzern Total evakuierte bereits das Personal des Gas-Projekts LNG Afungi auf ein Hotelschiff im Küstengebiet von Pemba, weil die Terrorgruppen bis an die Grenzen der abgesperrten Prospektionsfläche vorgedrungen waren.

22.01.2021 – Im Vorfeld provoziert der tropische Wirbelsturm Eloise Unmengen an Regen in den Gebieten südlich von Beira. Die Stadt Buzi steht unter Wasser.

23.1.2021 – Eloise trifft erneut die Stadt Beira und tobt abgeschwächt weiter in südwestlicher Richtung über Mosambik, Simbabwe in den Norden Südafrikas und weiter nach Botswana. In Mosambik sind nach ersten Erhebungen 163.000 Menschen betroffen, 7.000 obdachlos. 6.000 Häuser, 11 Gesundheitszentren und dutzende Schulgebäude zerstört oder beschädigt. Die Zahlen werden steigen, weil viele Schäden noch nicht erfasst sind.


WIDER Working Paper 2020/69. Evolution of multidimensional poverty in crisis-ridden Mozambique. Eva-Maria Egger, Vincenzo Salvucci, Finn Tarp. June 2020: www.wider.unu.edu

„Numero de deslocados internos em Moçambique cresceu em cerca de 2.700% em dois anos": Centro de Integredade Publica (CIP), Maputo, Oktober 2020. Download 20.12.2020: www.CIP.