Heft 1/2022, Südafrika: Desmond Tutu

Der ewige Mahner

ERZBISCHOF DESMOND TUTU IST AM 26. DEZEMBER 2021 VERSTORBEN. Mit ihm starb ein weltweit anerkannter Gigant, ein Mahner für den Frieden und „Quälgeist der Gerechtigkeit", wie ihn manche ob seiner humorvollen Hartnäckigkeit liebevoll nannten. Desmond Tutu war Lehrer, Prediger, „Staatsfeind Nummer eins", Friedensnobelpreisträger, Vermittler, Seelsorger, Schlichter und Rebell. Am zweiten Weihnachtsfeiertag erlag er im Alter von 90 Jahren seinem Krebsleiden.

„Desmond Mpilo Tutu war in den turbulenten 1980er- Jahren das sichtbarste Gesicht der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika und im Ausland. Zum Zeitpunkt seines Todes war er zu einer der beliebtesten Persönlichkeiten der Welt geworden, bekannt für seine Wärme, seine Heiterkeit und seine übernatürliche Fähigkeit, fast jeden, den er traf, zu bezaubern und offen anzusprechen", so Tymon Smith in New Frame vom 26.12.2021 stellvertretend für all die vielen Nachrufe, die auf seinen Tod folgten.

Tutu wurde am 7. Oktober 1931 in der Bergbaustadt Klerksdorp als Sohn des Xhosa-Lehrers Zachariah Zelilo Tutu und der Hausangestellten Aletta Dorothea Mathlare geboren. Er wuchs mit zwei Schwestern auf. Sein älterer und sein jüngerer Bruder starben beide im Säuglingsalter, Desmond selber überlebte eine Kinderlähmung, obwohl es damals noch keinen Impfstoff gab und die Polio-Sterblichkeitsrate 25 Prozent erreichte. Seine rechte Hand verkümmerte und blieb sein Leben lang geschwächt.

1947, während seines dritten Schuljahres an der Johannesburg Bantu High School, erkrankte Tutu an Tuberkulose und wurde nur dank seines Förderers, dem anglikanischen Priester Trevor Huddleston, in einem Krankenhaus in Rietfontein behandelt. Obwohl er dort auf einer Toilette Blut erbrach, überlebte er. Tutu nannte es seinen frühesten „Gottes-Moment". Schließlich habe er später sogar die Apartheid und als deren „Staatsfeind Nummer 1" mehrere Mordanschläge überlebt. Und in den letzten 25 Jahren seines Lebens litt er an rezidivierendem Prostatakrebs.

Ursprünglich wollte Tutu Medizin studieren, da seine Familie aber nicht über die nötigen Mittel verfügte, entschied er sich für den Lehrerberuf. Während seines Lehramtstudiums am Bantu Normal College in Pretoria traf er zum ersten Mal den jungen Anwalt Nelson Mandela und lernte in Fernkursen an der University of South Africa auch Robert Sobukwe und bei seinem Abschluss Robert Mugabe kennen.

1955 heiratete Tutu die Lehrerin Nomalizo Leah Shenxane, eine Freundin seiner Schwester Gloria. Das Paar ließ sich in Munsieville nieder, wo im April 1956 ihr erstes von insgesamt vier Kindern geboren wurde.

Vom Lehrer zum Prediger und Visionär
Nach der Einführung des Bantu Education Act 1955 beschlossen die Tutus, das Lehramt aufzugeben. Sie wollten sich nicht an einem System beteiligen, das schwarzen Kindern eine schlechtere Ausbildung als weißen gibt. Tutu ließ sich am St. Peter's Theological College in Rosettenville, einem Stadtteil von Johannesburg, zum Priester ausbilden. Bei seiner Entscheidung, Priester zu werden, dürfte auch Pastor Trevor Huddleston eine Rolle gespielt haben. Dass dieser seinen Hut vor der Mutter des jungen Tutu zog, als sie zusammen an einer Bushaltestelle in Soweto standen, war für den jungen Tutu ein prägendes Erlebnis. Während Tutu seine geistliche Tätigkeit in der Anglikanischen Kirche von Südafrika aufnahm, machte Leah eine Umschulung zur Krankenschwester. 1960 erhielt Tutu das Lizenziat für Theologie und arbeitete als Diakon, 1961 erfolgte seine Ordination zum Priesteramt.

Während der Jahre seines Theologiestudiums am Londoner King's College in den 1960er-Jahren erfuhren die Tutus, was es bedeutet, sich auf den Straßen Londons frei bewegen und seine Meinung sagen zu dürfen, im krassen Gegensatz zur strikten Rassentrennung der Apartheid in ihrer Heimat. 1972 reiste Tutu erneut auf die britische Insel, um eine Stelle als afrikanischer Direktor des Theological Education Fund anzutreten. Auch wenn die britische Gesellschaft damals nicht frei von Rassismus war, seine Aufenthalte in England haben seine theologischen Ansichten und Visionen für ein Südafrika nach Apartheid ebenso beeinflusst wie die verschiedenen Reisen in gerade erst unabhängig gewordene afrikanische Staaten. Er sah die katastrophalen Auswirkungen von Diktaturen wie in Zaire unter Mobutu Sese Seko und unter Idi Amin in Uganda mit der Vertreibung der Asiaten, sorgte sich um die Folgen des Biafra-Konflikts in Nigeria. Dem entgegen war er von der Regierung von Jomo Kenyatta in Kenia beeindruckt. Es waren Lehren, die später seinen realistischen Blick auf Fehlentwicklungen unter dem ANC in demokratischen Südafrika geschärft haben.

Schwierigster Gegner des Regimes
Tutu hatte zwar schon die Mitte der 1960er-Jahre aufkommende Black Consciousness-Bewegung unter Steve Biko unterstützt, doch erst nach seiner zweiten Rückkehr nach Johannesburg, wo er zum ersten schwarzen anglikanischen Dekan der Stadt ernannt worden war, entwickelte er sich zur neben Nelson Mandela bekanntesten Figur im Kampf gegen Apartheid. Er zog nach Soweto, um nahe an der Verzweiflung und Wut der Menschen zu sein, und führte Proteste und zivilen Ungehorsam gegen die Regierung an. Im Mai 1976 schrieb er einen berühmten Brief an Premierminister BJ Vorster, in dem er diesen eindringlich vor Blutvergießen und Gewalt in Südafrika warnte, wenn nicht bald etwas Drastisches getan werde. Vorster tat Tutus Brief als Propaganda ab, aber der Schüleraufstand von Soweto vom 16. Juni 1976 zeigte, wie berechtigt Tutus schlimmste Befürchtungen waren.

Tutu stieg zum Bischof von Lesotho und dann zum Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates auf, den er als größte rechtlich anerkannte Institution des Landes für die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu einem mächtigen Fürsprecher für die Menschenrechte machte. 1985 wurde er Bischof von Johannesburg und 1986 zum Erzbischof von Kapstadt gewählt, dem höchsten Amt in der anglikanischen Kirche im südlichen Afrika. Er forderte öffentlich die Freilassung Nelson Mandelas und sprach sich für Sanktionen gegen das Apartheidregime aus, womit er sich gegen die Positionen prominenter weißer Liberaler wie Helen Suzman oder Alan Paton stellte.

Anders als sein damaliger geistlicher Kollege, der reformierte Pastor und Anti-Apartheid-Aktivist Alan Boesak, hielt er sich aus der Ausarbeitung politischer Strategien oder Organisationen heraus. „Ich bin kein Denker. Ich kann die Dinge nicht analysieren. Ich bin ein Gefühlsmensch; vielleicht lasse ich mich inspirieren", verriet er später seinem Biografen John Allen („Rabble-Rouser for Peace", 2006). Tutu blieb politisch ungebunden, seine Kraft schöpfte er aus seiner Spiritualität. Mit eiserner Disziplin widmete er sich der täglichen Eucharistie, dem Morgen- und Abendgebet und dem regelmäßigen Fürbittengebet mit Zeit für Exerzitien und stille Tage.

Neben den unabhängigen Gewerkschaften, die in den 1980er-Jahren das Vakuum füllten, das durch das Verbot des ANC und anderer Organisationen entstanden war, wurden Tutu, Boesak und andere Mitglieder des Klerus zu den sichtbarsten Gesichtern der Opposition gegen die Apartheid. Tutus prominente Stellung und seine Befürwortung von Sanktionen machten ihn zum „Staatsfeind Nummer eins". Der „Heilige Terror", wie ihn weiße Politiker abschätzig nannten, erhielt Hassbriefe und Morddrohungen, wurde eingesperrt, sein Reisepass beschlagnahmt. Aber das Regime wagte nicht, ihn wie so viele schwarze Widerstandskämpfer liquidieren zu lassen. Dazu war er zu berühmt, zumal Tutu sehr zum Ärger der Regierung 1984 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Seine Bekanntheit dürfte auch Leah Tutu geholfen haben, ihre Verhaftung Ende der 1980er-Jahre überlebt zu haben.

Wegen seiner „Unantastbarkeit" war der Erzbischof von Kapstadt der wohl schwierigste Gegner des Apartheidregimes. Der Nobelpreis, seine hohe Position in der Kirche und seine Ablehnung von Gewalt machten es der Nationalen Partei sehr schwer, mit ihm wie mit ihren anderen Gegnern umzugehen. Tutus Einfluss und seine Vermittlerrolle zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften der Regierung im Verlaufe des sich zuspitzenden Ausnahmezustands Ende der 80er-Jahre brachten Präsident PW Botha zur Weißglut, wie Tymon Smith in seinem Nachruf erinnert. Botha warf Tutu vor, sich hinter den „Strukturen und dem Gewand der christlichen Kirche" zu verstecken und „marxistischen Idealen des ANC und der Kommunistischen Partei SACP" das Wort zu reden. In einer vernichtenden achtseitigen Erwiderung sagte Tutu zu Botha, er arbeite für „Gottes Reich ... Für wessen Reich arbeiten Sie mit Ihrer Apartheidpolitik? Ich bete für Sie, wie ich auch jeden Tag für Ihre Ministerkollegen bete. Gott segne Sie."

Auch FW de Klerk, der 1989 nach einem Schlaganfall von Botha das Präsidentenamt übernahm, konnte nicht verhindern, dass Tutu vor 30.000 Teilnehmenden einer Friedensdemonstration zur Beendigung der Apartheid von der Vision eines neuen Südafrika als „Regenbogennation" sprach. Zwar war Tutu nicht in die Verhandlungen hinter den Kulissen eingeweiht, die im Februar 1990 zur Freilassung Mandelas aus dem Gefängnis führten, aber er spielte eine wichtige Vermittlerrolle während der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Inkatha und dem ANC, die eine Verhandlungslösung gefährdeten.

Heilung der Wunden
Tutu blieb auch nach dem Ende der Apartheid und dem Sieg des ANC bei den ersten demokratischen Wahlen 1994 ein mahnender „Quälgeist der Gerechtigkeit". Statt am Ende seiner Amtszeit als Erzbischof im Jahr 1996 in den verdienten Ruhestand zu gehen, machte ihn Nelson Mandela 1995 zum Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC). In seiner Funktion glaubte Tutu, dass Südafrika als Nation am besten vorankommt, wenn es sich der Wahrheit über die Vergangenheit stellt. Statt der Vergeltung und Bestrafung der Apartheidtäter widmete sich die Kommission der so genannten „wiederherstellenden Gerechtigkeit". Tutu ging es um Heilung der Wunden der Vergangenheit im Geiste des Ubuntu, doch der Prozess hatte auch seine Schwächen, wie er später einräumte. Die TRC sei ein „Anfang und kein Ende" gewesen. Doch die Täter kamen ungestraft davon, die meisten Opfer warten bis heute auf Entschädigungen. Die Gerechtigkeit auf dem Altar der Wahrheit geopfert zu haben, ist ein Vorwurf, mit dem Tutu leben musste, ein Vorwurf, der sich freilich eher an die Versäumnisse der ANC-Regierung richten konnte.

Trotz seines Krebsleidens hörte Tutu nicht auf, die Fehlentwicklungen unter dem ANC, etwa die widersinnige HIV/Aids-Politik unter Thabo Mbeki und die wachsende Korruption unter Jacob Zuma, anzuprangern. Er kritisierte die Haltung der anglikanischen Kirche zur Homosexualität und machte sich für die Rechte der Palästinenser:innen stark. „Im Gegensatz zu zwei anderen Ikonen des 20. Jahrhunderts, die gegen strukturelle Ungerechtigkeit kämpften, Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr., erlebte er noch die ersten Früchte seiner radikalen, aber friedlichen Förderung grundlegender Veränderungen in seiner eigenen Gesellschaft", schreibt John Allen. „Und nicht nur das, er lebte auch dafür, die politischen Führer, die Südafrika befreiten, mit demselben scharfen – manchmal auch wütenden – Blick zu verfolgen wie das Apartheidregime und andere unterdrückerische Regierungen." (Daily Maverick, 26.12.2021).

Seine letzten Jahre verbrachte er wegen des sich verschlechternden Gesundheitszustands größtenteils außerhalb des öffentlichen Rampenlichts. Als 1994 zum ersten Mal Krebs bei ihm diagnostiziert wurde, beschrieb er, wie ihm dadurch seine Sterblichkeit bewusst wurde. Nachdem er weltweit für seinen Beitrag zum Aufbau der südafrikanischen Demokratie gelobt worden war, sagte er, dass er daran erinnert werden müsse, dass auch er „sterblich" sei.

Tutu hinterlässt seine Schwester Gloria, seine Frau Leah, ihre vier Kinder, sieben Enkelkinder und mehrere Urenkel.

Lothar Berger


Hamba Kahle Vater Tutu, ruhe in Frieden
Erzbischof Desmond Mpilo Tutu, allgemein als „Arch" bekannt, wurde in intimen Kreisen einfach Vater genannt. Für mich und so viele andere war er eine echte Vaterfigur, ein herausragendes Vorbild. Sein unerschütterliches Engagement für die Förderung von Frieden und Gleichberechtigung in Südafrika und weltweit wird mir immer in Erinnerung bleiben. Sein Herz, sein Geist und seine Fähigkeit zur Fürsorge waren unermesslich. Diejenigen, die das Privileg hatten, ihn persönlich kennenzulernen, werden sich für immer an seine besondere Aura erinnern.

Wir in Südafrika verstehen nicht immer die ganze Tragweite von Arch, denn wir kennen ihn hauptsächlich wegen seiner politischen Führungsrolle, aber er war auch in Initiativen und Aufklärungskampagnen zu HIV/Aids, Polio und TB aktiv beteiligt. Er war ein lautstarker Verfechter der Rettung des Planeten – denn er verstand, dass alle Dinge zusammenwirken. Der Arch verkörperte den Glauben ans Handeln, er sprach sich stets mutig gegen Rassismus, Ungerechtigkeit und Korruption aus – nicht nur im Südafrika der Apartheid, sondern überall dort, wo er Unrecht in der Welt sah, vor allem, wenn es die Schwächsten und Stimmlosen in der Gesellschaft betraf.
Hamba Kahle Pater Tutu, ruhe in Frieden.

Marlene Le Roux, Direktorin des Artscape Theatre Centre in Kapstadt und frühere Vorsitzende der Desmond und Leah Tutu Legacy Foundation