Heft 1/2024, Tansania

Grzimeks Erben: Neokolonialer Naturschutz in Tansania

Im Namen des Naturschutzes sind deutsche Institutionen und deutsches Kapital an Menschenrechtsverletzungen und massiven Vertreibungen von Maasai-Gemeinden in Tansania beteiligt. Rene Vesper hat sich für afrika süd mit dem Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivisten Joseph Oleshangay vom in Arusha ansässigen Legal and Human Rights Centre unterhalten. Seine Familie stammt aus dem Dorf Endulen, das im Ngorongoro-Schutzgebiet liegt.

Das Legal and Human Rights Centre (LHRC) ist eine NRO mit Sitz in Arusha, die jedoch in ganz Tansania tätig ist. Es ist der größte Anbieter von Rechtsberatung, verfügt über mehr als 28 Jahre Erfahrung und bietet kostenlose Rechtshilfe für Menschen aus allen Gesellschaftsschichten an. Das LHRC war Teil einer tansanischen Delegation von sechs Personen, die zwischen Mai und Juni 2023 nach Europa reiste, um in Treffen mit verschiedenen Akteuren und Entscheidungsträgern in Deutschland, Italien, Österreich sowie bei der EU in Belgien Lobbyarbeit in Sachen Naturschutz und Menschenrechtsverletzungen zu betreiben.

Oleshangay/LHRC: Wir glauben, dass deutsche Hände und deutsches Geld in die Geschehnisse im Norden Tansanias verwickelt sind, insbesondere im Fall der Maasai-Vertreibungen in Ngorongoro und Loliondo (beide in der Arusha-Region). Die Deutschen finanzieren den tansanischen Naturschutz und ebendieser leistet Menschenrechtsverletzungen Vorschub. Die deutsche Bevölkerung hat eine sehr ausgeprägte Vorstellung davon, was afrikanischer Naturschutz ist oder sein sollte. Es ist fast so, als ob Naturschützer Engel für sie sind, die die majestätischen Tiere Afrikas für sie beschützen. Aber natürlich sind Naturschützer keine Engel. Stattdessen ist der Naturschutzsektor eine der brutalsten Industrien, die man sich vorstellen kann. Mit unserem Besuch in Europa wollten wir das ins Rampenlicht stellen. Naturschutz an sich ist nichts Schlechtes, aber das Modell, das derzeit in Tansania praktiziert wird, ist grundfalsch. Wir wollten mit den Deutschen ins Gespräch kommen, denn sie sind Partner der tansanischen Regierung und haben hier gewissen Einfluss.

Vesper/afrika süd: Wie erfolgreich war Ihre Reise nach Europa im Mai und Juni 2023?

LHRC: Teilweise erfolgreich. Ich denke, wir haben bereits einige Ergebnisse erzielt. Ein Teil des Besuchs in Deutschland bestand darin, einigen der deutschen Akteure zu sagen, dass das, was sie tun, nicht richtig ist. Als 2022 97.000 Menschen in Loliondo gewaltsam vertrieben wurden, dachten wir, dass die tansanische Regierung nicht alleine vorgeht, sondern von verschiedenen Gruppen unter Druck gesetzt wird, dies zu tun. Zu diesen Gruppen gehören Jagdgesellschaften und Hotelkonzerne aus Dubai, aber auch einige Naturschutzorganisationen, wie die Zoologische Gesellschaft Frankfurt (ZGF). In Deutschland können wir mit der ZGF und den deutschen Institutionen, die die ZGF finanzieren, diskutieren. Wenn die ZGF nicht zuhört, können es zumindest ihre Spender:innen tun.

Von der Vertreibung in Loliondo waren 15 Dörfer auf einer Fläche von 1.500 km² betroffen. 97.000 Menschen wurden ihres Viehs beraubt, viele Bomas (Häuser) niedergebrannt und viele andere Geschichten dieser Art sind passiert. Obwohl die tansanische Regierung für die Vertreibung der Menschen verantwortlich war, finanzierten die ZGF und viele andere Institutionen sie indirekt. Wir fragten die ZGF, warum sie die tansanische Regierung von der Verantwortung entbinden, wenn sie nicht an diesen Vertreibungen beteiligt waren. Ende September 2023 kam eine Delegation des Bundesministeriums für internationale Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) nach Tansania. Bei einem Treffen mit uns wurde versichert, dass alle finanziellen Verbindungen zu diesem Projekt gekappt worden wären. Der ZGF sei mitgeteilt worden, sich nicht mehr an Themen mit Landbezug in Tansania zu beteiligen. Denn die ZGF hatte zuvor ein Naturschutzprogramm vorgeschlagen, das wir derzeit vor Gerichten in Arusha anfechten. Bereits im September 2019 entschied das Gericht, dass das Programm illegal erstellt wurde. Jegliche Teilnahme daran wird als illegal betrachtet.

Ein zweites Ergebnis unserer Reise nach Europa war die wichtige Bewusstseinsbildung zu den Menschenrechtsverletzungen des tansanischen Staates. Wir wollten das Bewusstsein in Deutschland schärfen, mit Bundestagsabgeordneten sprechen, die deutschen Medien auf unser Schicksal aufmerksam machen und uns mit einigen NROs treffen. Wir haben Gespräche im Bundestag und im EU-Parlament geführt. Viele Politiker:innen unterschätzen jedoch das Ausmaß des Problems. 2019 befragte die tansanische Zentralregierung einige Interessengruppen nach ihrer Meinung über das Vorhaben, die Maasai-Gemeinschaft im Ngorongoro-Schutzgebiet umzusiedeln. An diesem Dialog beteiligte sich auch die ZGF. Sie schlug eine Strategie vor, mit der die tansanische Zentralregierung sicherstellen konnte, die Maasai leicht umzusiedeln. Die Strategie bestand darin, die Bereitstellung von staatlichen Dienstleistungen auf ein Minimum zu reduzieren. Zwei Jahre später teilte die Regierung mit, dass sie neun Grundschulen abreißen will, damit die Kinder keine Möglichkeit mehr haben, zur Schule zu gehen. Wer zur Schule gehen will, muss aus dem Ngorongoro-Schutzgebiet wegziehen. Wir halten dies für absurd und sicherlich nicht für einen Standard, der in Deutschland oder anderswo angewandt werden kann. Diese Maßnahmen der Regierung sind zum Teil eine Konsequenz aus den Empfehlungen der ZGF und anderer. Natürlich ist die tansanische Regierung in erster Linie verpflichtet, ihre Bürger:innen zu schützen, aber warum hat die ZGF eine unaufgeforderte Stellungnahme abgegeben, die nichts mit Naturschutz zu tun hat? Der Abriss bestehender Schulen, Kirchen und Krankenstationen hat nichts mit dem Erhalt zu tun. Diese Infrastrukturen gab es schon vor der Unabhängigkeit im Jahr 1961. Einige Kirchen wurden in den 1930ern gebaut und jetzt kommen sie und reißen alles ab, um die Natur zu schützen? Wenn diese Infrastrukturen in den letzten 70 Jahren keinen negativen Einfluss auf den Naturschutz hatten, werden sie es nie haben. Es gab einen Krankenwagen, der seit 1970 in dem Gebiet im Einsatz war und im April 2022 stillgelegt wurde. Außerdem wurden in den letzten 16 Monaten 31.000 Kinder nicht geimpft, was eine weitere Taktik des Staates ist, um die Menschen aus Ngorongoro zu vertreiben. Wenn man sie vor die Wahl stellt, zu sterben oder das Gebiet zu verlassen, werden sie sich wohl dafür entscheiden, es „freiwillig" zu tun.

afrika süd: Wie zufrieden sind Sie mit der Art und Weise, wie die tansanische Regierung die Rechte ihrer Bürger:innen schützt?

LHRC: Seit dieses Thema vor fast zwei Jahren an die Öffentlichkeit kam, war es noch nie so wie jetzt. Ich habe mit dem Fall der Maasai in Ngorongoro und in Loliondo begonnen, aber ich kann noch weitere Beispiele aufzählen, wie die Vertreibung der Sukuma in den Gebieten der großen Seen, die Vertreibung von Hirtengemeinschaften im südlichen Hochland, in Mbeya oder in Kigoma. Es gibt sie fast überall im Lande. Wir setzen uns nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland für Pastoralist:innen ein, aber die Regierung hat hier die Oberhand und ist vorbereitet, bevor wir etwas erfahren. Vor zwei Jahren wussten wir nicht, welche Pläne sie hatte, bis die neue Präsidentin Samia Suluhu Hassan öffentlich sagte, dass sie das Ngorongoro-Problem sofort angehen wolle, unabhängig davon, ob Menschen vertrieben würden oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt war die Präsidentin gerade erst 19 Tage im Amt. Dies lässt vermuten, dass diese Räumungskampagne schon vorher geplant war, denn nur sechs Tage später reagierte der Staat mit der Ankündigung, Schulen, Krankenstationen, Kirchen und einige Polizeistationen abzureißen. Die Regierung sagte, es gehe um den Erhalt der Natur, aber darum ging es nie. Die Kirche stand bereits 1930, bevor der Serengeti-Nationalpark gegründet wurde.

Im Januar 2023, nach vielen Monaten des Schweigens, gingen alle einheimischen Medien nach Ngorongoro und sagten, dass dieses Gebiet zu einem Krisengebiet geworden sei: Hohe Bevölkerungszahl der Maasai, hoher Bestand an Vieh, hohe Armut der Maasai. Sie behaupteten, die Menschen, die hier leben, seien Kenianer:innen, seien Ausländer:innen. Die Regierung hat alles gesagt, was die Umsiedlung von Maasai-Gemeinschaften im großen Stil rechtfertigen würde. Die staatlich geförderten Medien haben diese Propagandaversion der Regierung übernommen. Alle. Als LHRC unterhalten wir auch Medienprogramme. Unseren Versuch, dieses Thema zu erörtern, konterten die Medienvertreter:innen damit, sie seien angewiesen worden, dass es sich um eine Frage der nationalen Sicherheit handele. Von Januar bis Mitte 2023 berichtete kein einziges tansanisches Presseorgan über den Räumungsfall. Selbst als die Menschen in Loliondo vertrieben und 41 Menschen erschossen wurden, gab es keinen einzigen Bericht darüber. Nur internationale Medien haben darüber berichtet. Das ist eine Schande. Es ist schwierig, mit der Regierung über diese Themen zu sprechen, denn die Präsidentin selbst beteiligt sich eifrig an der Propaganda und behauptet, die Maasai seien alle polygam, unkultivierte Barbaren, jüngst eingewanderte Kenianer:innen, etc.

afrika süd: Die CCM regiert Tansania seit der Unabhängigkeit im Jahr 1961 und verfügt derzeit über mehr als 90 Prozent der Sitze in Bunge, dem nationalen Parlament in Dodoma. Welche Lobby haben die Pastoralist:innen, wie die Maasai, innerhalb der CCM-Partei?

LHRC: Zu den Viehzüchtergemeinschaften in Tansania gehören u. a. die Barbaig, die Maasai und die Sukuma. Unter den Viehzüchter:innen sind die Sukuma die Mehrheit und zählen fast 7 Mio. Menschen. Natürlich leben nicht alle von ihnen von Weidewirtschaft. Viele sind längst sesshaft geworden und in die Städte gezogen und haben sich in der Geschäftswelt etabliert. Viele Maasai in ländlichen Gebieten leben jedoch auch weiter als Viehzüchter:innen. In Ngorongoro weiß fast niemand, was eine „Farm" ist. Es gibt dort schlicht keine Landwirtschaft. Als im Jahr 2022 die Frage der Vertreibung im nationalen Parlament verhandelt wurde, unterstützten von 393 Abgeordneten nur vier die Maasai. Das war eine völlig einseitige Debatte, denn die ganze Angelegenheit wurde zunächst parteiintern in der CCM verhandelt und erst dann ins Parlament eingebracht. Da Tansania jetzt ein Einparteienstaat ist, unterstützten alle Abgeordneten das, was die CCM und was die Regierung sagten. Und sie wollen, dass die Viehzüchter wegziehen. Es ist schwierig, mit dem Parlament zu verhandeln, wenn man nur vier Abgeordnete hat, die einen unterstützen. Außerdem ist keiner der Staatssekretäre, Regionalkommissare oder Distriktkommissare offen für das Maasai-Problem. Der tansanische Staat ist ein hartes Brett.

afrika süd: War die Menschenrechtssituation für die Pastoralist:innen unter dem vorherigen Präsidenten John Magufuli, der ja ein Sukuma war, besser?

LHRC: Präsident Magufuli ging in vielerlei Hinsicht brutal gegen politische Gegner und gegen die Geschäftswelt vor. Mehr als jeder andere tansanische Präsident vor ihm. Er war ein Propagandist und ein Populist, der sich auf die Unterstützung des einfachen Volkes stützte. Magufuli richtete sich mit seiner Politik v. a. an die sesshafte Bevölkerung. Obwohl auch unter Präsident Magufuli allein in Loliondo 349 Maasai-Bomas niedergebrannt wurden, ging die Zentralregierung nie so offen gegen die Maasai vor wie die derzeitige Regierung. Heutzutage werden viele falsche Behauptungen und Erzählungen verwendet, um staatliches Handeln zu rechtfertigen. Eine der häufigsten ist die Behauptung, dass es sich bei der zu vertreibenden Maasai-Bevölkerung von Loliondo um aus Kenia Eingewanderte handele, die illegal in Tansania lebten. Auf diese Weise rechtfertigt die Zentralregierung die Vertreibungen. Aber wie können 97.000 Menschen all die Jahre illegal in einem Land leben, ohne dass der Staat etwas unternimmt? Der Regierungssprecher behauptete, die Maasai seien 1951 nach Loliondo und Ngorongoro gekommen. Aber 1951 wurde mein Vater hier geboren. Es gibt eine Menge Literatur über dieses Gebiet. Tatsächlich sind einige der Quellen deutsch und stammen aus dem 19. Jahrhundert, eine andere Quelle ist der Reisebericht des Schotten Joseph Thomson aus den 1880er-Jahren. Wenn die Regierung die Theorie vertritt, die Maasai seien erst 1951 nach Ngorongoro gekommen und somit erst jüngst eingewandert, dann versucht sie, die regionale Geschichte zu verzerren, um Vertreibungen zu rechtfertigen. Der tansanische Botschafter in Brüssel sagte, die Maasai seien 1959 gekommen, jemand anderes in der Afrikakommission, der 2022 in Bangun war, sagte, sie seien in den 1830er-Jahren gekommen. Die Behauptung der Präsidentin, sie seien „recent immigrants" und nicht die ersten Landbesitzer, bedeutet juristisch, dass die Maasai keine traditionellen Landrechte besitzen.

afrika süd: Wenn Sie Pastoralist:innen Rechtshilfe leisten, inwieweit vertrauen Sie dann dem tansanischen Rechtssystem?

LHRC: Wir haben in Tansania keine starken Institutionen, auch nicht im Bereich der Justiz. Wenn es sich um einen Rechtsfall zwischen zwei gewöhnlichen Menschen handelt, dann ist der Fall gerecht, denn beide Parteien können die Richter nicht bestechen. Aber bei einem Rechtsfall gegen die Zentralregierung, bei dem ernsthafte staatliche Interessen mit im Spiel sind, muss man sich darauf einstellen zu verlieren. Selbst dann, wenn der Fall klar und eindeutig ist. Über 95 Prozent der Fälle gegen die Zentralregierung werden verloren! Wir haben 11 Klagen zu den Ngorongoro-Vertreibungen aus dem Jahr 2022 eingereicht. Es ist schwierig, die Kämpfe von fast 100.000 Menschen gegen einen einzigen Akteur, den tansanischen Staat, zu vertreten. Eine der Klagen richtete sich gegen einen Bundesminister, der erklärte, dass das Land von 14 Dörfern (unrechtmäßig) in einem Wildschutzgebiet (game controlled area, GCA) liege. Während des Gerichtsverfahrens erklärte die tansanische Präsidentin dasselbe Gebiet zu einem Wildschutzgebiet und versuchte so, den vor Gericht anhängigen Fall zu vereiteln. Als dieser aussichtslos geworden war, reichten wir eine weitere Klage gegen die Präsidentin ein, denn wenn ein GCA erklärt wird, müssen die rechtlichen Verfahren eingehalten werden: Die Bevölkerung muss konsultiert werden, die GCAs dürfen nicht auf gemeinschaftlichem Dorfland liegen usw.. Natürlich wurde keines dieser Verfahren eingehalten. Wir haben dem Richter gesagt, dass die Voraussetzung für die Ausrufung dieser GCA staatliche Gewalt ist. Es gibt ein Video, in dem der Regionalkommissar der Region Arusha dem Militärchef Tansanias für seine Hilfe bei der Loliondo-Operation dankt. Der Richter räumte ein, dass das tansanische Militär eingesetzt wurde, um Menschen zu vertreiben und um ihr Vieh zu beschlagnahmen. Nicht die Polizei – das Militär! Nachdem das Gericht zu Gunsten der Menschen entschieden hatte, sagten wir ihnen, sie sollten abziehen. Doch dann wurde ihr Vieh beschlagnahmt. Obwohl Loliondo in der Region Arusha liegt, wandte sich die Regierung an ein Gericht im 250 km entfernten Musoma (Mara-Region), um einen Gerichtsbeschluss zu erwirken, der den Verkauf des beschlagnahmten Viehs der Maasai von Loliondo vorsieht. Das Gericht in Musoma weiß, dass wir dort keine Anwälte haben und dass man den Serengeti-Nationalpark durchqueren muss, um dorthin zu gelangen. Gerade erst hat das Gericht angeordnet, 806 Kühe, 420 Schafe und 100 Ziegen zu beschlagnahmen und zu verkaufen. Der Zentralstaat bringt diesen Fall absichtlich nicht vor ein Gericht in Arusha und spielt mit den juristischen Institutionen herum. Daher ist es sehr schwierig, Menschenrechtsfragen vor tansanischen Gerichten gegen den Staat zu verhandeln. Außerdem braucht man nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch eine rechtzeitige Gerechtigkeit. Wenn man ein paar Jahre später ein Urteil zu seinen Gunsten erhält, ist der Schaden oft schon angerichtet und zuweilen irreversibel.

afrika süd: Inwieweit können Sie als Anwalt und Menschenrechtsaktivist in Tansania frei arbeiten?

LHRC: Da die Regierung behauptet, dass das, was in Loliondo und in Ngorongoro passiert, eine Frage der nationalen Sicherheit ist, müssen wir vorsichtig sein. Als wir versuchten, über den Fall Loliondo zu berichten, war ich aus Sicherheitsgründen gezwungen, sechs Monate lang nicht im Büro zu sein. Während dieser Zeit wechselte ich alle paar Tage meinen Aufenthaltsort, und ich war der Einzige, der wusste, wo ich war. Als ich mit meinem Vater und anderen Familienmitgliedern nach Endulen, unserem Heimatdorf im Ngorongoro-Schutzgebiet, zurückkehrte, hielten sie uns am Eingangstor an und forderten uns auf, Eintritt zu zahlen. Stellt euch vor, ihr müsst Geld bezahlen, um nach Hause zu kommen! Als wir bezahlten, sagten sie uns, dass wir nicht gehen könnten und dass wir nur nach Endulen kommen würden, wenn sie unsere Leichen tragen würden. Solche gegen Maasai gerichtete Drohungen sind üblich geworden.

afrika süd: Was möchten Sie deutschen Tourist:innen, die das Ngorongoro-Schutzgebiet zu Hunderttausenden jährlich besuchen, über die Landrechtssituation der Maasai und über die Geschichte dieses Ortes sagen?

LHRC: Zunächst erzählen die Reiseführer den Tourist:innen, dass die Serengeti, der Ngorongoro und der Ngorongoro-Krater unbewohntes Land sind, rein und sauber. Aber die Maasai lebten jahrhundertelang im Ngorongoro-Krater. Es gab sogar eine deutsche Farm auf dem Boden des Ngorongoro-Kraters. Man kann die Ruinen auch heute noch sehen, aber die Reiseveranstalter führen keine Touristen dorthin. Ich war mit einigen deutschen Journalist:innen und mit Bundestagsabgeordneten dort. Zweitens möchte ich, dass sich die Touristen fragen, wohin das Geld geht, das sie in Tansania ausgeben. Je mehr sie bezahlen, desto brutaler wird die Branche. Einerseits stammen 27 Prozent des tansanischen Bruttoinlandsprodukts aus dem Tourismus und 52 Prozent dieses Geldes kommen aus dem Ngorongoro. Andererseits sind 31.000 einheimische Kinder nicht geimpft und viele Erwachsene sterben an Mangel- oder Unterernährung. Sie erhalten keinen Anteil an dem durch den Tourismus geschaffenen Reichtum. Meiner Meinung nach ist der Naturschutzsektor der brutalste in der Geschichte Tansanias. Wenn sie Land wollen, sprechen sie mit niemandem. Etwa 40 Prozent des Landes in Tansania sind für den Naturschutz reserviert, und nicht ein einziger Quadratmeter wurde im Dialog mit der Bevölkerung geschaffen. Nicht in Mikumi, nicht im Selous, nicht in der Serengeti. Nirgendwo. Es wird immer mit Waffengewalt gearbeitet. Von der Kolonialzeit bis heute. Tatsächlich zeigen einige koloniale Dokumente, dass die Kolonialisten zumindest sagten, dass die Maasai menschliche Wesen und ehrenwerte Menschen sind. In mancher Hinsicht ist das derzeitige Naturschutzregime der tansanischen Regierung schlimmer als zu Kolonialzeiten. Touristen müssen wissen, dass das Geld, das sie in Tansania ausgeben, in den Händen einer kleinen Clique von Menschen landet. Wir müssen die derzeitige Naturschutzphilosophie, die mit der Wirtschaft verbunden ist, entkolonialisieren. Naturschutz, Wirtschaft und Tourismus sind verschiedene Dinge. Ich denke, dass die Trophäenjagd und Hotels eine größere Bedrohung für den Naturschutz darstellen als die Maasai-Gemeinschaften. Ich wünsche mir einen Naturschutz, der die Menschen in den Mittelpunkt stellt und die Menschenrechte respektiert. Wenn Sie viele hundert Maasai durch einen einzigen ausländischen Trophäenjäger ersetzen, wie soll das dem Naturschutz dienen?

afrika süd: Wie sehen Sie die Zukunft der Pastoralist:innen in Tansania?

LHRC: Wenn der Trend so weitergeht wie bisher, könnte es sein, dass in ein paar Jahren, nicht erst am Ende des Jahrhunderts, einige Leute schreiben werden, dass es in diesen Gebieten einmal ein Volk gab, das als Maasai bekannt war. Für mich sieht die Zukunft der Hirtenvölker in Tansania sehr düster aus.

Das 60-Minuten-Interview wurde im November 2023 per Zoom geführt.

Joseph Oleshangay hat im Dezember 2023 den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar erhalten.