Heft 2/2012, Namibia

Der Traum ist aus

KOMMENTAR ZUM 22. JAHR DER UNABHÄNGIGKEIT NAMIBIAS. Vor zwei Jahrzehnten gab es trotz mancher Skepsis Gründe für eine Hoffnung auf eine gute Entwicklung. Der Frieden im Lande ist bestenfalls vordergründig und nicht unbedingt von Dauer.

 

Zweiundzwanzig Jahre entsprechen in etwa einer knapp bemessenen Generationsspanne. Zumindest gab es schon bei den letzten Parlaments- und Präsidentenwahlen in Namibia Ende November 2009 die ersten Stimmberechtigten, die – als Gruppe der sogenannten born free – die Wahllokale aufsuchten, ohne jemals unter Fremdherrschaft gelebt zu haben. Dass sie ihre Stimmen relativ frei und friedlich abgeben konnten und die Wahl zwischen etwa einem Dutzend verschiedener Parteien hatten, ist ein nicht zu gering schätzendes Gut – eine Errungenschaft, die zählt. Nicht alle im Stadion, die in den ersten Minuten nach Mitternacht am 21. März 1990 mitverfolgten, wie die südafrikanische Flagge eingeholt und die namibische gehisst wurde, waren sich sicher, dass sie einer so friedlichen Zukunft entgegenblicken dürfen. Aber wie friedlich ist dieser Frieden?

 

In den 22 Jahren, seit es die Republik Namibia gibt, war das Land einmal direkt in auswärtige Kriegshandlungen verwickelt. Ende der 1990er Jahre eilte die namibische Armee Laurent Desiré Kabila in der Demokratischen Republik Kongo – in der es eigentlich nicht so demokratisch zugeht, wie es der Name suggeriert – zu Hilfe. Das nützte dem alten Waffenbruder des damaligen Präsidenten und Gründungsvaters der unabhängigen Republik Namibia wenig. Was von Kabila Senior heute bleibt, ist unter anderem eine Straße seines Namens, die in unmittelbarer Nachbarschaft des von Nordkoreanern erbauten Staatshaus sinnigerweise die Robert Mugabe Avenue trifft.

 

Ein weiteres Mal war Namibia zumindest mittelbar an militärischen Aktionen im Grenzgebiet zu Angola beteiligt. Zum Jahreswechsel 1999 auf 2000 gestattete der damalige Präsident Sam Nujoma der Armee Angolas, das nördliche Grenzgebiet als Aufmarschgebiet zu nutzen, um dem Terror der Unita unter Jonas Savimbi ein Ende zu setzen. Auch das – wie die Kongo-Intervention – eine einsame Entscheidung des Präsidenten. Mit dem Tod Savimbis 2002 kehrte halbwegs Ruhe in das vom Krieg geschüttelte Nachbarland ein, dessen wirtschaftlicher Aufschwung fortan auch vor allem dem nördlichen Namibia zugute kam und dessen Öl-Geld auch die Geschäfte und den Immobilienmarkt anderswo im Lande schmiert.

 

Und dann war da noch der Ausnahmezustand, der im August 1999 anlässlich des jämmerlich fehlgeschlagenen Sezessionsversuchs unter Führung Mishake Muyongos und seiner Caprivi-Befreiungsarmee für wenige Tage die scheinbar so heile Welt störte. Seither sind von den über 120 wegen Hochverrats Angeklagten, die seit mehr als einem Jahrzehnt als Gefangene auf eine Verurteilung warten, mehr in der Haft verstorben, als es Opfer während der damaligen Militäraktionen gab. Es ist ein zum Himmel schreiender Justizskandal, der sich nunmehr schon über die Hälfte des Zeitraums der Unabhängigkeit hinzieht und als systematische Verletzung verbriefter Menschenrechte gelten muss. Tausende suchten Asyl im benachbarten Botswana, Hunderte leben als politische Flüchtlinge anderswo. Alleine in Kanada stellten im vergangenen Jahr etwa 2.000 Menschen aus Namibia einen Antrag auf Asyl. Das mag oft nicht wirklich politische Gründe haben, aber es trübt doch erheblich das Image von unserem ach so friedlichen Land, das allen seinen Menschen eine Heimat bietet.

 

Wo bleibt der soziale Frieden?

Wie friedlich ist es also bei genauerem Hinsehen in der Gesellschaft eigentlich? Frieden ist schließlich mehr als nur die Abwesenheit von Krieg oder anderen Formen von physischer Auseinandersetzung. Ganz davon abgesehen, dass Gewalt sich auch in anderen Realitäten als körperlichen Formen der Drangsalierung manifestiert. Nicht umsonst gibt es den Begriff des sozialen Friedens. Angesichts einiger erschreckender Phänomene scheint es um diesen leider nicht sonderlich gut bestellt. Aktuellen Zahlen zufolge wurden letztes Jahr fast 500 Selbstmorde registriert. Damit rangiert Namibia unter den Ländern mit der weltweit höchsten Suizidrate. Es vergeht keine Woche, in der nicht Föten aus der Kanalisation gezogen oder anderswo entdeckt werden. Auch baby dumping, bei dem Neugeborene von ihren Müttern einfach durch Aussetzung entsorgt werden und meist nicht überleben, gehört als fest stehender Begriff mittlerweile ebenso zum Alltagswortschatz wie street kids und sugar daddies. Kinder haben inzwischen oft noch nicht einmal das Teenageralter erreicht, bevor sie aus purer Not zum Verkauf ihres Körpers auf der Straße oder andernorts gezwungen werden.

 

Auch das ist Gewalt und entspricht keinesfalls friedlichen Verhältnissen. Von dem Ausmaß an krimineller Aggression auch in Form von Mord und Körperverletzung und dem Missbrauch von Frauen, die vom Kleinkind bis zur Großmutter vergewaltigt, gedemütigt und misshandelt werden, ganz zu schweigen. – Nein, vom Frieden sind wir wohl weit entfernt. Dass dabei die Einkommensunterschiede größer statt kleiner werden und die Arbeitslosigkeit zu- und nicht abnimmt, ist alles andere als beruhigend.

 

Angesichts der Disparitäten wundert es kaum, dass ethnisch-kulturelle und auch rassistische Ressentiments eher wachsen als abnehmen. Von einer Versöhnung sind wir nach 22 Jahren weiter entfernt als zur Unabhängigkeit, auch wenn sich an der Oberfläche noch nicht viel abspielt. Darunter umso mehr. Die verbalen Ausfälle des Jugendministers sind nur die Spitze des Eisbergs, was die Befindlichkeiten zwischen Bevölkerungsgruppen und innerhalb der dominanten Partei betrifft (siehe vorherigen Beitrag). Jenseits dessen, dass sie als Verhalten eines dem Amtseid verpflichteten Ministers einfach unerträglich sind und den Schwur auf die Werte der Verfassung missachten, sind sie ein seismographisches Indiz für Gefühle, die Andere teilen. Die Entgleisungen können nicht nur als die isolierten, deplatzierten Wutausbrüche eines Hitzkopfes abgetan werden, dem der Sinn für die Wirklichkeit abhanden gekommen ist. Es sind Signale, die Aufschluss über diese Wirklichkeit geben.

 

Weit weg vom Aussöhnungsprozess

Ähnlich aufschlussreich waren leider in jüngster Zeit die von Selbstgerechtigkeit strotzenden Auswüchse eines kolonialapologetischen Duktus deutscher und Südwester Provenienz. Was sich ausgelöst durch die erste Rückführung der Herero- und Nama-Schädel aus Deutschland seit Oktober letzten Jahres im deutsch-namibischen Diskurs und insbesondere auf den Leserbriefseiten der Allgemeine Zeitung manifestierte, rückt einen Aussöhnungsprozess über Geschichte in weite Ferne. Der dem ausgleichenden Bemühen geschuldete Besuch des Diplomaten Linder vom Auswärtigen Amt in Berlin war dabei ebenso Öl ins Feuer deutsch-südwester Unbelehrbarkeit wie die Stellungnahmen deutscher und namibischer Kirchenführer.

 

Aber auch der Brief einer Berliner Schulklasse weckte in einem Ausmaß Empörung, dass einem angst und bange ob solcher Gesinnungsurteile werden konnte. Der Vernichtungskrieg gegen die Herero erinnere sie an die NS-Zeit, schrieb die Klasse an die Winhoeker Allgemeine Zeitung, und nannte die deutschen Taten Völkermord. Die Reaktionen zeugten von einem merkwürdig einseitigen Demokratieverständnis. So durften abweichende im Sinne von kolonialkritischen Meinungen beschimpft und deren Protagonisten im öffentlichen Raum an den Pranger gestellt werden, weil das als Grundrecht der freien Meinungsäußerung reklamiert wird.

 

Diese Verunglimpfungen dokumentieren aber gleichzeitig, dass ein solches Recht auf freie Meinungsäußerung den Andersdenkenden keinesfalls zugestanden wird, sondern als dummes Geschwätz und verblendete Ideologie gilt, der entschieden und auch verletzend Einhalt zu bieten ist. So wurde wieder einmal  drastisch verdeutlicht, dass Geschichte auch Gegenwart geblieben ist und diese keinesfalls versöhnlich behandelt wird.

 

Unter solchen Vorzeichen nehmen die vordergründigen Gesten einer Versöhnung zwischen alter und neuer Elite mitunter recht bizarre Formen an. Im letzten Jahr ließen sich deutschstämmige Farmer aus dem Osten des Landes als neue Swapo-Mitglieder feiern. Sie wurden ganz im Stile der Politprominenz in Parteifarben gekleidet abgelichtet und dienten als Vorzeigebeweis, dass sich die Reihen schließen. Aber es sind die Reihen der Habenden, während die Habenichtse weiter im Abseits bleiben. Die aber sind die überwältigende Mehrheit der Menschen im Lande, und deren Geduld und Langmut mag irgendwann ein Ende haben.

 

Demgegenüber werden die nicht nur seelsorgerischen täglichen Bemühungen eines deutschsprachigen katholischen Geistlichen am Rande der Gesellschaft der Hauptstadt wohl eher milde belächelt oder als Mildtätigkeit respektiert. Pater Hermann Klein-Hitpass betreut Straßenkinder, Prostituierte und Ausgestoßene. Seine Kartei zählt fast 4.000 Personen. Er hat ein Ohr für sie und gibt ihnen  Beratung und Hilfe. Sein Engagement, dass das eines jeden Rinderbarons wohl bei weitem in den Schatten stellt, ist nicht nur tätige Nächstenliebe, sondern lebt auch Empathie und Solidarität mit den Ausgestoßenen.

 

Auch das schon zu Zeiten der Unabhängigkeit im Hochfeld engagierte deutschsprachige Farmerehepaar, das eine reelle Teilhabe der Farmarbeiter an der Bewirtschaftung ihrer plaas mit kooperativen Formen der Mitbestimmung erprobte, galt im besten Fall eher als weltfremd und wurde meist von den Nachbarn bloß misstrauisch beäugt und gemieden. Die Parteibonzen der regierenden Swapo konnten mit dieser praktischen Form der Verständigung ebenso wenig anfangen, war sie doch nicht auf der Ebene einer Elite angesiedelt.

 

Der einer alteingesessenen Südwester Familie entstammende Farmer nahe Dordabis, der vergangenes Jahr spontan die Farmarbeiter mit ihren Familien aufsammelte, die am Rande der Pad lagerten, weil sie von der Farm vertrieben wurden, auf der sie ihr Dasein gefristet hatten, verdient eigentlich eine Ehrenurkunde für aktive Versöhnungsarbeit. Um die Obdachlosen vorerst unter zu bringen, fand er bei sich Platz. Das ändert nichts an den skandalösen Ungleichheiten im Lande, aber viel für die davon im konkreten Einzelfall Betroffenen. Ihr Bild vom weißen deutschstämmigen Farmer dürfte sich dadurch deutlich verschieben. Dazu braucht dieser keine Kleidung in Swapo-Farben zur Schau tragen. Es reicht, dass er Mensch ist und entsprechend handelt.

 

Die soziale Zeitbombe tickt

Wir sind leider weit davon entfernt, dass eine solch handfest praktizierte mitmenschliche Verantwortung alltägliche Selbstverständlichkeit ist, wenn die Möglichkeit dazu besteht. Stattdessen wächst die Distanz, vertieft sich die Kluft und tickt die soziale Zeitbombe. Die dafür Verantwortlichen sind keinesfalls überwiegend oder ausschließlich weißer Hautfarbe. Es sind diejenigen mit der politischen Verantwortung, denen das Handwerk nicht gelegt wird. Aber die Nutznießer und damit Handlanger sind auch diejenigen, die gerne akzeptieren, dass Versöhnung darauf hinaus läuft, dass die Reichen noch reicher werden und die Armen weiter verarmen.

 

Nein, 22 Jahre nach der Unabhängigkeit, der wir zum Teil mit Sorge, Skepsis und Angst entgegen blickten, ist es uns zumeist nicht schlechter, mitunter sogar besser ergangen. Aber von einer sicheren Zukunft für die Menschen im Lande sind wir weit entfernt. „Die Zukunft", sagte einst Karl Valentin, „war früher auch besser". Das ist leider kein satirisches Bonmot. Tatsächlich hatten wir vielleicht vor zwei Jahrzehnten trotz aller Zweifel mehr Grund zur Hoffnung, als uns die Entwicklungen seither gestatten. Der Frieden im Land ist bestenfalls vordergründig und nicht unbedingt von Dauer.

 

Weiland wurde eine ganze Studentengeneration von einem Polit-Song der aus der Westberliner Szene der frühen 1970er Jahre stammenden Band „Ton, Steine, Scherben" beflügelt. Er beklagte die unerfüllte Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft unter dem Titel „Der Traum ist aus". Der damalige Weltschmerz hat auch im Namibia des Jahres 2012 nichts an Aktualität verloren:

 

Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei,

du warst hier und wir war'n frei

und die Morgensonne schien.

Es gab keine Angst und nichts zu verlieren.

Es war Friede bei den Menschen und unter den Tieren.

Das war das Paradies.

 

Ich hab geträumt, der Krieg wär vorbei,

du warst hier, und wir war'n frei

und die Morgensonne schien.

Alle Türen war'n offen, die Gefängnisse leer.

Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr.

Das war das Paradies!

 

Gibt es ein Land auf der Erde,

wo der Traum Wirklichkeit ist?

Ich weiß es wirklich nicht.

Ich weiß nur eins und da bin ich sicher,

dieses Land ist es nicht.

Ton, Steine, Scherben!

 

Henning Melber

 

Der Autor ist issa-Vorstandsmitglied und lebt als Direktor der Dag Hammarskjöld-Stiftung in Uppsala/Schweden.