Heft 2/2012, Südafrika: 100 Jahre ANC

Die Rückkehr des Politischen

DER ANC HAT SEINE EMANZIPATORISCHEN ZIELE VERLOREN. Die Bewegung hat ihre Linie in schwierigen Zeiten, als Wirtschaft und Sozialtechnik die Oberhand hatten, durchzuhalten vermocht. Seit der ANC an der Macht ist, hat er sich auf die Seite der Eliten gestellt. Doch die Zeiten ändern sich. Überall suchen Menschen, ihre freie Entscheidung zurückzugewinnen.

 

Als sich 1912 der African National Congress (ANC) in Bloemfontein gründete, wurde Sol Plaatje, Herausgeber eine Zeitung, zum ersten Generalsekretär gewählt. Plaatje und die anderen Gründungsmitglieder – durchweg in Missionsschulen ausgebildete Intellektuelle – sahen optimistisch in die Zukunft der gerade gegründeten Südafrikanische Union, hervorgegangen aus dem anglo-burischen Krieg. Die „aufgeklärten" Briten hatten ihn gegen die offen rassistischen Buren gewonnen und die lukrativen Goldfelder unter Kontrolle gebracht.

 

1913 kam dann der dicke Hammer und zerschlug alle Hoffnungen der Afrikaner. Das Landgesetz „reservierte" einen kleinen Teil des Landes für Afrikaner und verurteilte sie, sich als Arbeiter auf den Farmen der Weißen zu verdingen. Plaatje nannte die Gesetzgebung „einen widerwärtigen Vorgang, vom Parlament aus freien Stücken vollzogen". In jenem Jahr begann die Vertreibung der Menschen von ihrem Land. Plaatje ging mit ihnen über abgelegene Straßen und Wege. Die Menschen waren – so schrieb er – zu „umherirrenden Pariahs" geworden. „In einer scheußlichen Nacht unter einem bitterkalten Himmel" verlor die Familie Kgobadi am Wegrand ihr nur wenige Wochen altes Kind. Und da sie keine Heimstatt mehr hatten, mussten sie ihr Kind „unter Furcht und Zittern, mit angstgequältem Herzklopfen in einem anonymen Grab" verscharren.

 

Krise des Kapitalismus

Der Kapitalismus hat es seit Ende des Kalten Krieges bis zum Finanzcrash 2008 verstanden, sich als Erfolgsmodell zu vermarkten. Doch dieser Ritterschlag der freien Wirtschaft gehört ins Reich der Phantasie, man betrachte nur die historischen Realitäten. Der Kapitalismus begann mit Zwangsarbeit, Sklaverei und gewaltsamer Aneignung gemeinsam genutzten Landes, was nicht nur der Anhäufung des Reichtums in Privathand diente, sondern auch die Menschen zwang, ihre Autonomie aufzugeben und sich als Lohnarbeiter zu verdingen. Die Peitsche, das Gefängnis und der Galgen kennzeichnen die Brutalität, mit der die Anerkennung dieser Logik durchgesetzt wurde. In Südafrika wurde das zusätzlich verschärft durch einen Rassismus, der die prosperierenden Schwarzen im unmittelbaren Interesse der Weißen, auch derjenigen unter ihnen, die nichts hatten, ins Elend trieb.

 

Nach der Großen Depression in den 1930er Jahren gewann in kapitalistischen Gesellschaften die Meinung Oberwasser, dass ein unregulierter Kapitalismus zwar Reichtum – allerdings für wenige – schaffe, letztlich aber die Gesellschaft zerstöre. Der Kapitalismus müsse folglich reguliert werden, damit gewisse Anteile des Profits durch Steuer und Sozialausgaben der Gesellschaft wieder zugeführt werden. Arbeiter, die aus dem 2. Weltkrieg zurückkehrten, forderten einen angemessenen Platz in ihren Gesellschaften und gaben dieser neuen Auffassung zusätzlichen Schwung. In der kolonialen Welt übernahmen zurückkehrende Soldaten oft eine führende Rolle in anti-kolonialen Bewegungen. In Südafrika führte diese stärkere Betonung des Sozialen gegenüber dem Kapital bekanntlich zur Form der Apartheid – eine soziale Demokratie für Weiße und umgekehrt eine noch stärker politische und wirtschaftliche Unterordnung der Schwarzen.

 

In den 1980er Jahren eröffneten Margaret Thatcher und Ronald Reagan, beide übrigens stramme Unterstützer der Apartheid – ihren Angriff auf die soziale Demokratie. Das eskalierte mit dem Ende des Kalten Krieges und das Kapital sah die Gelegenheit, sich mehr und mehr sozialen Verpflichtungen zu entziehen. Manche zogen gar den Schluss, Kapitalismus und Demokratie seien siamesische Zwillinge. Diese Auffassung ignorierte schlicht und einfach, dass die Vereinigten Staaten, ohne Frage die führende kapitalistische Macht, immer wieder Gewalt angewandt und hoch autoritäre Regime überall in der Welt gestützt haben, die ihrer Bevölkerung das Recht auf freie Selbstbestimmung verwehrt haben. In den letzten Jahren hat sich in der aufstrebenden Macht China unter einem völlig undemokratischen System ein Kapitalismus etabliert. Auch die Entwicklung des Kapitalismus in Ländern wie Indien oder Russland, die zwar formal demokratische Staaten sind, aber kaum als demokratische Modelle zu Bestätigung des Mythos von der innigen Verbindung von Kapitalismus und Demokratie herangezogen werden können, hat diesen Mythos zum Schweigen bringen können.

 

Thatcher und Reagan ließen einen Prozess zu, in dem sich das Kapital von der Gesellschaft löste. Mit dem Ende des Kalten Krieges nahm dieser Prozess an Fahrt auf. Damit wurden die politischen Eliten im Westen auf die Überführung der Demokratie in ein System eingeschworen, das die Macht der Eliten immer stärker legitimiert, statt Macht als Möglichkeit des Einwirkens von unten zu definieren. Wachsende Armut und die Antwort der Elite darauf – der Ruf nach Polizei und Gefängnis und kein Hauch sozialer Solidarität – hat die Gesellschaften von unten her zersetzt. Millionen sind heute arm in so reichen Ländern wie Großbritannien und USA. Die Finanzkrise von 2008 brachte einen anderen Mythos zum Schweigen. Die Illusion, dass die Entbindung des Kapitals von der sozialen Verantwortung letztlich im allseitigen Interesse sei, da so eine Flut in Gang gesetzt werde, die alle gestrandeten Boote freisetzen werde. Die von Grund auf sozialschädlichen Folgen der Befreiung des Finanzkapitals von jeglicher demokratischer Regulierung sind heute für jeden erkennbar, der Augen im Kopf hat.

 

Im vergangenen Jahr haben sich weltweit Revolten und Protestbewegungen ausgebreitet, in Nordafrika, im Nahen Osten, im Mittelmeerraum und selbst in den Vereinigten Staaten. Sie werden getrieben von drei Schubkräften. Da ist die Ablehnung brutaler Diktaturen, die sich sehr oft westlicher Rückendeckung erfreuen. Da ist im Westen die Ablehnung der Strategien des Kapital, demokratische Eingriffmöglichkeiten zu unterbinden. Da ist die Ablehnung eines Wirtschaftsmodells, das einem Prozent unvorstellbaren Reichtum garantiert, während ein wachsender Teil der Bevölkerung unter prekäreren Umständen leben muss als die Elterngeneration. Es ist gut möglich, dass diese Rebellionen in Schach gehalten werden können. Aber sie könnten auch einen signifikanten Wandel des Systems einleiten, das sich der sozialen Verpflichtung entzieht, und wieder die Frage in den Vordergrund stellt, was Demokratie eigentlich bedeutet und wie das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Wirtschaft gestaltet werden soll. In manchen Teilen der Welt sind nach dem Ende des Kalten Krieges die politischen Visionen versiegt; jetzt kommen sie wieder. Man riecht buchstäblich die Chance in der Krise.

 

ANC steht heute auf falscher Seite

In Südafrika hat der ANC erstmals eine authentische politische Union gebracht. 1994 wurde Südafrika eine Nation unter einem Gesetz. Welche Kritik man auch gegen die Bewegung vorbringen kann, keine Geschichte des ANC kann abstreiten, dass er und er alleine die Kraft und Vision hatte, diese authentische Union durchzusetzen und die Aussichten auf eine freie und gerechte Gesellschaft zu öffnen, die nicht länger auf Blut, Gefängnis und dergleichen beruht. Doch da die nationalen Befreiungsbewegungen verfolgt und zu einem gewissen Grad die organisierte Vertretung der Nation in Exil und Untergrund wurden, neigen sie aufgrund ihrer Erfahrungen zur Paranoia und zum Misstrauen gegenüber offener Diskussion.

 

Freiheit nach einer langen Nacht der Unterdrückung kann nicht einfach an eine Einheit anknüpfen, die im Wesentlichen auf Gewalt aufgebaut war. Sie muss die Logik und Paranoia des Militarismus überwinden und die offene Diskussion aufnehmen. Marx gibt eine bündige Definition des demokratischen Ideals: „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Das gilt gleichermaßen für Kampf wie Debatte, Kampf aber in einem Rahmen, der freie Organisation, Protest und, wenn nötig, Spaltung zulässt.

 

Von Kairo bis New York, Madrid, Athen, Damaskus, Moskau und in zahlreichen anderen Orten der Welt eignen sich Menschen, oft unter großen persönlichen Risiken, wieder die Macht der freien Organisation an, um Demokratie gegen eine unverblümte Diktatur und Ausgrenzung an der Schnittstelle von Geld und Politik einzufordern. In Südafrika jedoch versucht der ANC direkt wie indirekt, im Parlament wie auf den Straßen, die Demokratie zu spalten. Seine führenden Leute gehen nicht mehr die Seitenwege mit den neuen Pariahs – den Arbeitslosen, den Barackenbewohnern, den Sexarbeiterinnen und den Migranten ohne Papiere, den Lesben, die unter ständiger Bedrohung stehen, den Schülerinnen und Schülern in manchen Schulen. Nackte Staatsgewalt drängt die Menschen aus den Städten, staatliche und Parteigewalt wird eingesetzt, um die Rechte der Menschen auf unabhängige politische Organisierung und Meinungsbildung zu unterdrücken.

 

In den letzten hundert Jahren hat der ANC manche schändlichen Momente gehabt, aber auch ruhmreiche. Zumeist stand er dem Zeitgeist im besten Sinne weit näher als irgendeiner seiner Gegner. Doch hundert Jahre später steht er eindeutig auf der falschen Seite.

 

Richard Pithouse

 

Quelle: The South African Cicil Society Information Service, 9.1.2012

Der Autor lehrt Politik an der Rhodes University.