Heft 2/2019, Afrika-Namibia

„Europa bevormundet Afrika noch immer“

BARTHOLOMÄUS GRILL ZUM KOLONIALERBE. In den Köpfen wirke die Kolonialzeit weiter fort. Selbst in der Bundesregierung gäbe es immer noch „zutiefst kolonialistisches Denken". Bei der Rückgabe kolonialer Objekten werde Geschichte glatt gebügelt. Das sagte der Journalist und Afrika-Korrespondent Bartholomäus Grill in einem Gespräch mit Anja Reinhardt im Deutschlandfunk, das wir hier in überarbeiteter Fassung wiedergeben.

Wenn es um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte geht, dann fällt sehr oft der Begriff Versäumnis. Versäumt wurde zum Beispiel, diese Zeit angemessen in der Schule zu thematisieren. Versäumt wurde lange Zeit eine Debatte über die historische Verantwortung für die ehemaligen Kolonien. Versäumt hat die Bundesregierung bislang auch eine Entschuldigung für den Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia. Immerhin hat das Thema in den letzten zwei Jahren dann aber doch recht vehement an Fahrt aufgenommen, bislang allerdings geht es vorwiegend um die Frage, wie Museen mit kolonialen Sammlungen umgehen sollten. Bund und Länder haben Mitte März ein Papier erarbeitet, das die Provenienzforschung erweitern oder die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern vertiefen will und die Folgen der kolonialen Vergangenheit erforschen soll. Ob das nach vielen Jahren der historischen Amnesie nun ein Schritt in die richtige Richtung ist, darüber möchte ich in diesen Kulturfragen mit Bartholomäus Grill sprechen, lange Jahre Afrikakorrespondent für die Zeit, nun für den Spiegel und Autor des Buches „Wir Herrenmenschen: Unser rassistisches Erbe. Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte".

Bartholomäus Grill, Sie schreiben in Ihrem Buch, das Denken, der Glaube, die Sinne und Wünsche der Menschen wurden kolonisiert. Die Kolonialzeit hat also in den Köpfen gar nicht aufgehört?

Nein, denn in der Kolonialzeit wurden die Kolonien nicht nur ökonomisch ausgebeutet, sondern auch das Denken und Handeln der Menschen kolonisiert. Sie haben die westlichen Werte und Glaubenssysteme, das Christentum, eingetrichtert bekommen. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Deswegen gibt es mittlerweile politische Bewegungen von jungen Afrikanern, von Studenten in Südafrika zum Beispiel, die eine radikale Dekolonialisierung fordern und die kulturelle Deutungshoheit des Westens überwinden wollen.

Wie äußert sich denn diese kulturelle Deutungshoheit? Mit welchen Bildern schauen wir denn nach wie vor nach Afrika bzw. gibt es da Kontinuitäten?

Kulturelle Deutungshoheit bedeutet, dass westliche Werte und Normen im Zentrum stehen, in der Wissenschaft, an den Universitäten, im Kulturleben. Dass afrikanische Studenten als erstes ihre afrikanische Sprache aufgeben und in westlichen Sprachen lernen müssen. Dass sie ihre Verhaltensformen, ihre ganze Afrikanität aufgeben müssen und sich am Ende in Kokosnüsse verwandeln, wie man in Südafrika spöttisch sagt: außen braun, innen weiß.

Auch unsere Wahrnehmung ist nach wie vor vom kolonialen Blick geleitet, d.h. wir nehmen einen Kontinent wie Afrika als ein einziges Land wahr, als amorphe Krisenmasse, und nicht als einen vielfältigen Erdteil mit 54 Ländern, die sich in ganz unterschiedlichen Zuständen befinden.

Und ja auch als etwas Dunkles. In Büchern wie „Herz der Finsternis" von Joseph Conrad oder „Ausgang aus der langen Nacht" von Achille Mbembe taucht dieses Bild der Dunkelheit, der Schwärze auf.

Ja, wir gebrauchen dieses Zerrbild immer wieder. Mit „wir" meine ich auch die Medien. Afrika wird beschrieben als K-Kontinent, als Kontinent der Krisen, Korruption, Kriege, Krankheiten usw. Dieser Wahrnehmungsmodus hat sich nicht verändert.

Wie wirkt sich das auf das Selbstverständnis der Menschen in Afrika aus?

Eine der tragischsten Hinterlassenschaften der Kolonialzeit ist, dass viele Afrikaner und Afrikanerinnen ihre von den Kolonialherren postulierte Minderwertigkeit internalisiert haben. Mit der Folge, dass alle afrikanischen Diaspora-Gemeinden, sei es in Brasilien, in USA oder in den Banlieues von Paris immer ganz unten auf der sozialen Leiter stehen. Sie haben also dieses Knechtsmal verinnerlicht, und jede Generation muss sich aufs Neue daran abarbeiten, es zu überwinden und zu einem wirklichen Selbstbewusstsein zu kommen, das ist die Voraussetzung der Emanzipation.

Der Philosoph und Historiker Achille Mbembe fordert, Afrika müsse sich jeglicher Opfer-Identität verweigern. Das ist ja eine Selbstkritik. Selbstbewusstsein hat auch mit Selbstermächtigung zu tun, oder?

Ja, wir betrachten Afrika und die Afrikaner als Opfer, vor allen Dingen unsere Hilfsindustrie. Und das haben die afrikanischen Eliten auch gerne angenommen: Sie stellen sich als Opfer dar, um vom eigenen Versagen abzulenken. Achille Mbembe fordert, dass die Afrikaner diesen Opferkomplex überwinden müssen, da kann Ihnen niemand dabei helfen. Entwicklung geht immer von den Ländern selbst aus, sie kann nicht implementiert werden wie ein Impfprogramm.

Aber wenn wir über diese Selbstermächtigung sprechen, dann müssen wir natürlich auch darüber sprechen, inwiefern die Kolonisation, die Kolonialzeit die Gesellschaftsstrukturen in Afrika so verändert hat, dass diese Selbstermächtigung heute vielleicht auch schwierig ist.

Ja, natürlich ist es schwierig. Die koloniale Hinterlassenschaft ist gewaltig. Wir haben nach wie vor die gleichen ungerechten Weltwirtschaftsstrukturen, d.h. die Ex-Kolonien liefern Rohstoffe und Agrarerzeugnisse, aber die Wertschöpfung findet anderswo statt. Das kann man an Beispielen wie Kaffee wunderbar exemplifizieren. Auch politisch wird Afrika marginalisiert, aus deutscher Sicht hat der Kontinent wenig Bedeutung. Wir haben bis heute keine durchdachte Afrikapolitik.

Der Theatermacher Milo Rau sagt z.B., dass die Kolonialzeit im Grunde gar nicht aufgehört hat, dass immer noch die Rohstoffe aus den Ländern rausgeholt werden, im Kongo z.B., und dass die Afrikaner oder die Kongolesen in diesem Fall gar nicht davon profitieren.

Ja, am Kongo lässt sich's ganz besonders krass darstellen, weil es da auch um seltene Erden und strategische Rohstoffe wie Coltan geht, das in jedem unserer Handys gebraucht wird. Der globale Süden ist nach wie vor ein Objekt der Ausbeutung. Gleichzeitig versuchen wir, das zu kompensieren und unser schlechtes Gewissen zu entlasten, indem wir Entwicklungshilfe geben. Der französische Philosoph Alexandre Kojève hat mal gesagt, wir hätten den nehmenden Kolonialismus durch den gebenden Kolonialismus ersetzt.

Da gehen wir jetzt in Richtung der Begrifflichkeiten. Wir haben über Bilder gesprochen, aber lassen Sie uns ruhig über Begriffe reden. Auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung findet sich ein Text, in dem es um Sprache und Kolonialismus geht, inwiefern Sprache auch als moralische Legitimation für die Inbesitznahme Afrikas fungierte. Wir benutzen heute das Wort Neger vielleicht nicht mehr, aber Begriffe wie Schutzgebiete oder Naturvölker, die werden nach wie vor gebraucht. Dieser Text ist von 2004. Hat sich da gar kein anderes Bewusstsein entwickelt?

Nein, das würde ich nicht so pessimistisch sehen, es ändert sich langsam. Der Begriff Neger wird eigentlich von keinem vernünftigen Menschen mehr gebraucht. Allerdings hört man in meiner Heimat Bayern gelegentlich, dass die Leute ihn schon immer verwendet haben.

Aber als analytische Kategorie wird der Begriff von Achille Mbembe verwendet. Er sagt, die Welt wird schwarz, und meint damit, dass eine wachsende Zahl von ausgegrenzten Menschen in der globalen kapitalistischen Schlacht nicht mehr gebraucht wird. Sie leben in einer condition nègre, in einem „Negerzustand". Das, was die Afrikaner durch Kolonialismus und Sklavenhandel erfahren haben, erfahren jetzt immer mehr Völker auf der Südhalbkugel.

Der Afrikabeauftragte von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Günther Nooke, schlug kürzlich vor, Afrika in Wirtschaftssonderzonen zu unterteilen. Er sagt, Afrika sei anders, das ist auch ein sehr altes Bild, und die Kolonialzeit habe geholfen, Afrika aus archaischen Strukturen zu lösen. Welches Bild wirkt denn hier fort?

Der koloniale Blick wirkt auch beim Afrikabeauftragten der Bundeskanzlerin fort. Das ist verheerend. Gegen Sonderzonen ist eigentlich nichts zu sagen, aber Herr Nooke geht ja noch weiter. Er fordert in einem Aufsatz, dass man zum Teil die Souveränitätsrechte aussetzen müsse, d.h. dass man den Staaten, in denen die Sonderzonen liegen, hoheitliche Rechte nimmt, um einen Raum zu schaffen, in dem man die Entwicklung vorantreibt. Das ist eine zutiefst kolonialistische Idee.

In der ganzen Kolonialismusdebatte tauchen ja neue Begriffe auf, und ein viel gebrauchter Begriff im Zusammenhang mit der Frage, wie wir mit Sammlungsgut aus kolonialem Kontext umgehen, ist „shared heritage". Was halten Sie davon?

Das halte ich für eine sehr raffinierte Ausrede. Indem man koloniales Raubgut zum geteilten Menschheitserbe erklärt, versucht man, den Diebstahl zu legitimieren. In Wirklichkeit will man die Objekte natürlich behalten. Einige sollen im Berliner Humboldt-Forum ausgestellt werden, um die deutsche Geschichte inklusive Kolonialära selbstkritisch zu repräsentieren. Aber am Ende wird es wieder hinauslaufen auf eine Nation ohne Schatten.

Was heißt das genau?

Na ja, im Grunde wird die Geschichte glattbügelt, sodass man sich selbst in den schlimmsten Phasen der deutschen Vergangenheit ganz wohl fühlen kann und unsere historische Verantwortung relativiert wird.

Gibt es denn so etwas wie eine Bevormundung, gerade wenn es um die Diskussion geht, was mit den Objekten in den Museen passiert. Es gibt ja auch Ideen, von Europa aus Museen in Afrika zu planen, wo dann in einer Art rotierendem System z.B. die Benin-Bronzen ausgestellt werden sollen. Was halten Sie davon?

Ich halte diese Vorschläge für interessant. Sie kommen ja von höchster Stelle, vom französischen Präsidenten Macron. Die Franzosen sind da schon um einiges weiter. Und die Idee, auch Museen zu bauen und zirkulierende Ausstellungen zu haben, finde ich gut. Sie wird auch unterstützt von afrikanischen Wissenschaftlern und Historikern, und das zeigt, dass wir in eine neue Phase treten. Vor zehn Jahren hatten die meisten Völkerkundemuseen noch Angst vor Restitutionen: Wenn man anfängt, Objekte zurückzugeben, sind am Ende unsere schönen Museen leer. Das war die Angst. Das hat sich mittlerweile geändert. Es gibt keine Ausreden mehr: Koloniales Raubgut muss wie jüdisches Raubgut zurückgegeben werden. Da zählt auch das Argument nicht, dass etwa die Nigerianer die schönen Benin-Bronzen auf dem internationalen Kunstmarkt verkaufen könnten. So what! Sie gehören ihnen, und was sie damit machen, ist ihre Sache.

Es gibt auch Befürchtungen, die von europäischer Seite geäußert werden, dass bestimmte Objekte gar nicht zurück nach Afrika gebracht werden können, weil das Klima sich schädlich darauf auswirkt....

Ja, das sind Ausflüchte, die natürlich nicht ganz falsch sind. Ich habe selbst ein Museen in Nigeria, in Ile-Ife, gesehen, das halb leer geplündert war – eine Folge der Korruption. Deshalb muss man gemeinsame Wege suchen, um das zu verhindern. Aber die Entscheidungen liegen letztendlich bei den Afrikanern.

Die Franzosen sind da doch deutlich radikaler, vor allen Dingen durch die Initiative von Präsident Emmanuel Macron, der gesagt hat, alles muss zurückgegeben werden. Wie sehen Sie denn diese Debatte in Deutschland?

Wir hinken da noch ein bisschen hinterher. Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die zu den Beraterinnen von Macron gehört, ist unter Protest aus dem Beirat des Berliner Humboldt-Forums ausgetreten und sprach von einem „kulturellen Tschernobyl". Das halte ich für übertrieben, denn auch in Deutschland ist jetzt die Diskussion in Gang gekommen – wenn man mal von ein paar Ausrutschern absieht. So behauptet zum Beispiel der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, Deutschland sei gar keine Kolonialmacht gewesen.

Es gibt ja durchaus das Klischee, dass Deutschland gar nicht so lange Kolonialmacht und eben auch nicht so brutal war wie z.B. die Belgier, die sozusagen die Hälfte der Bevölkerung im Kongo umgebracht haben. Würden Sie dem zustimmen, oder ist das ein Klischee?

Das ist kompletter Unsinn. Es gibt keine Rangordnung der Grausamkeit. Alle europäischen Kolonialmächte waren ausnahmslos brutal. Von den Italienern, die einen Gaskrieg in Äthiopien führten, über die Belgier, die Hände abhacken ließen, wenn die Leute zu wenig Kautschuk gesammelt haben, bis zu den Briten, die ganze Dörfer mit ihrem Maxim-Maschinengewehr zusammengeschossen haben, bis zu den Deutschen, die einen Vernichtungsfeldzug in Namibia führten. Es gibt keinen Unterschied, und es gibt auch keinen deutschen Sonderweg. Es war das europäische Denken, oder, um es noch präziser zu sagen, das Denken des Welt erobernden weißen Mannes.

Das Selbstverständnis der Deutschen ist ja eng verbunden mit Erinnerungskultur, vor allen Dingen mit der Aufarbeitung des Holocaust, mit der Frage, wie es dazu kommen konnte. Müssen wir dieses Selbstverständnis auch ergänzen in Bezug auf die Kolonialzeit?

Ja, denn gerade die Aufarbeitung der Nazi-Barbarei hat unseren Blick verstellt auf dahinter liegende Epochen. Die deutsche Kolonialgeschichte ist auch deswegen so unterbelichtet, weil die Wucht der NS-Verbrechen so stark war. Letztere haben wir gründlich aufgearbeitet und dabei sehr viel gelernt, das sollten wir nun auch auf die Kolonialepoche anwenden.

Der Historiker Jürgen Zimmerer hat hier in diesen Kulturfragen auch davon gesprochen, dass es einen Völkermord an den Nama und Herero in Namibia gegeben hat, dass über die Grausamkeiten des Maji-Maji-Krieges, in dem es bis zu 300.000 Opfer gab, zu wenig gesprochen wird. Warum ist das nicht in adäquater Weise präsent, so wie die Verbrechen des zweiten Weltkriegs?

Das ist eben über hundert Jahre her. Es ist ja nicht der einzige blinde Fleck in unserem kollektiven Geschichtsbewusstsein. Aber jetzt, wo sich das Ende des Ersten Weltkrieges, der Friedensschluss von Versailles und die Rückgabe der deutschen Kolonien zum hundertsten Mal jähren, blicken wir endlich weiter zurück.

Ich würde gerne noch einmal auf die Frage des Völkermordes zurückkommen. Da stimmen Sie ja mit Jürgen Zimmerer nicht überein, das schreiben Sie auch in ihrem Buch: Wir Herrenmenschen. Sie sagen, man kann eigentlich in Namibia nicht von einem Völkermord sprechen. Da würde ich gerne wissen, warum?

Das kann ich nicht mit ein paar Sätzen begründen. Nach der Definition der Völkermordkonvention von 1948 war es ein Völkermord. Aber kann man Begriffe rückwirkend anwenden? Dann müssen wir die Geschichte neu schreiben. Dann gäbe es nämlich so viele Völkermorde, dass dieser Begriff inflationiert und entwertet wird, vor allem mit Blick auf die großen Menschheitsverbrechen, auf den Holocaust, auf die Genozide in Ruanda und Kambodscha. Das ist ein historischer Streit, da bin ich eher in der Minderheit. Der Mainstream sagt, es war ein Völkermord. Ich kann mit der These leben, halte sie aber für falsch.

Brauchen wir trotzdem so etwas wie Erinnerungsstätten, Gedenkstätten, wenn ja, wo sollten diese stehen?

Natürlich brauchen wir Erinnerungs- und Gedenkstätten, auch öffentliche Denkmäler von afrikanischen Künstlern.

Wir müssen Straßen, die Kolonialverbrecher ehren, umbenennen. Wir brauchen neue Schulbücher, die die Kolonialzeit gründlich analysieren. All das wäre Teil einer echten Erinnerungskultur.

Sie kritisieren nicht nur die Position der Leute, in denen die kolonialen Bilder und Begriffe nachwirken. Sie kritisieren auch die Linke, die so etwas hat wie den Traum von Afrika. Was werfen Sie ihr vor?

Das kann man so nicht verallgemeinern, aber es gibt eine bestimmte Wahrnehmung, die Afrika romantisiert, gleichzeitig aber in einen Opferkontinent verwandelt. Auch Hilfsorganisationen wiederholen diese Klischees. Die Menschenrechtsorganisation Borderline Europe etwa warb mit Marsmännchen, die durch die Wüste auf uns zukommen, mit abgemagerten menschenähnlichen Wesen, die genau jene Angst vor Migration verstärken, die sie eigentlich überwinden will.

Das ist ja im Grunde genommen ein Zombie-Bild.

Das ist ein Zombie-Bild. Und die Zombies sind die bedrohlichen Afrikaner, und das ist diese Wahrnehmungsfalle, in die auch kritische Leute tappen. Der Opferkontinent Afrika ist auch ein Kontinent der Täter. Die afrikanischen Eliten plündern im postkolonialen Zeitalter ihre Völker genauso aus, wie das die Kolonialherren getan haben.

Das schreiben Sie auch eindrücklich in ihrem Buch. Wenn wir jetzt noch einmal zur historischen Verantwortung Deutschlands für die ehemaligen Kolonien kommen. Wie könnte die denn konkret aussehen?

Wir müssen gründlich über Reparationsfragen nachdenken, was etwa die Kriegsverbrechen gegen die Herero anbelangt. Man muss die Provenienzforschung erweitern und über die Rückgabeprozesse intensivieren. Man müsste endlich zu einem echten Austausch mit Afrika kommen, zu einem Verhältnis auf Augenhöhe. Wenn heute junge Afrikaner in Europa studieren wollen, dann erhalten sie in der Regel keine Aufenthaltsgenehmigung, weil sie verdächtigt werden, Asylschwindler zu sein.

Ich möchte sie zum Schluss noch fragen, ob im Zuge doch eines gesamteuropäischen Populismus rassistische und diskriminierende Bilder und Begriffe wieder zurückkommen?

Sie waren unter der Oberfläche immer da. Sie gehören zu unserem Mindset, wie man im Englischen sagt, zu unseren Vorstellungen von der außereuropäischen Welt. Diese Vorurteile und rassistischen Wahrnehmungen brechen gerade jetzt, während der sogenannten Migrationskrise, wieder durch. Da werden alle Ängste vor Afrika erweckt, alle Klischees revitalisiert, alle Abwehrinstinkte funktionalisiert. Und genau deswegen habe ich das Buch über die Herrenmenschen jetzt geschrieben. Das Gegenrezept heißt Aufklärung, Erziehung, Bildung, Problematisierung der eigenen Wahrnehmung und der Beziehungen, die wir zu anderen Völkern und Kulturen haben. Das ist ein langer und schwieriger Weg. Die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Blick und mit den rassistischen Rückständen, die in uns allen zu finden sind, ist eine Bildungsaufgabe für die Zukunft.

Das Gespräch von Anja Reinhardt mit Bartholomäus Grill wurde am 31.3.2019 in der Sendung Kulturfragen im Deutschlandfunk ausgestrahlt. Wir danken für die Zusammenarbeit.


Bartholomäus Grill
Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte
Siedler Verlag, München 2019
280 Seiten, 24,00 Euro