Heft 2/2020, Mosambik

Der „Aufstand“ in Cabo Delgado

MOSAMBIKS NORDPROVINZ CABO DELGADO WIRD SEIT ÜBER ZWEI JAHREN VON GEWALT ERSCHÜTTERT. Die große Entfernung der Provinz zur Hauptstadt Maputo, ihre geographische Lage als Grenzregion zu Tansania, in der sich illegale Drogen-, Holz und Elfenbeinhändler tummeln, ihr potenzieller Öl- und Erdgasreichtum und die gleichzeitige Armut ihrer Bevölkerung: All das bietet einen Nährboden für extremistische Gruppen, seien sie dschihadistischen Ursprungs, Banden der organisierten Kriminalität oder schlichtweg Plündergruppen marginalisierter Jugendlicher.

In neun Distrikten von Mosambiks Nordprovinz Cabo Delgado leiden verschiedene Gemeinden seit Oktober 2017 unter militanten Angriffen unbekannter Gruppen. Diese begannen in Mocimboa da Praia und breiteten sich danach auf Palma, Macomia, Nangade, Quissanga, Ibo, Meluco, Muidumbe und Mueda aus.

Die Angriffe richteten sich zunächst auf Polizeistationen und staatliche Büros, doch sie trafen später auch die Zivilbevölkerung, Häuser wurden niedergebrannt und Gemeindeführer entführt. In der Folge starben nach Schätzungen der lokalen Zeitung „Carta de Moçambique" über 350 Menschen, viele weitere wurden vertrieben. Laut offiziellen Angaben von Valige Tauabo, Provinzgouverneur von Cabo Delgado, hat der Konflikt bislang 156.429 Menschen betroffen; 76 Schulen mit 285 Lehrkräften und 16.760 Schülerinnen und Schülern wurden zerstört. Darüber hinaus haben nach Angaben des örtlichen Regierungsvertreters 14.000 Bauernfamilien ihre Felder verlassen, 1.981 Fischer sind aus ihren Fischgründen geflohen (das UNHCR sprach im Februar 2020 von über 100.000 Flüchtlingen; d. Red.). Zudem wurden in diesem Konflikt auch etliche Gesundheitszentren zerstört.

Die Provinz Cabo Delgado beherbergt neben den Mineralienprojekten in den Distrikten Montepuez und Balama riesige Öl- und Gasprojekte im Rovuma-Becken, was die Provinz zum Schauplatz für das Spiel von „Teilen und Erobern" macht.

Laut einem Bericht des Wirtschafts- und Finanzministeriums von Oktober 2010 befanden sich bereits damals etwa 31 Prozent der mosambikanischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, die Konsumarmut und multidimensionale Armut einschließt. In Cabo Delgado leben 44 Prozent der Menschen in Konsumarmut, während 63 Prozent unter multidimensionaler Armut (Bildung, Gesundheit, Lebensstandard) leiden; 77 Prozent sind mit einer der drei Armutsdimensionen konfrontiert und 31 Prozent sind ernsthaft arm.

Vor dem Hintergrund solcher Daten lässt sich verstehen, dass es ein natürliches sozioökonomisches Umfeld gibt, in dem die lokale Jugend dafür anfällig ist, diesen militanten Gruppen zu folgen. Zwei Jahre nach den ersten Angriffen gibt es Berichte über die Existenz parallel agierender Gruppen, die ihrerseits Angriffe vornehmen.

„Teilen und Erobern" in Cabo Delgado
Offiziell ist immer noch nicht bekannt, wer tatsächlich hinter den Angriffen steht, aber mit Blick auf die Geschichte von Cabo Delgado dürften etliche Interessen im Spiel sein: Da ist zum Beispiel der lange multiethnische Konflikt zwischen den Clans der Mwani, Makonde und Macua, es dürften aber auch mögliche westliche Interessen eine Rolle spielen. Nicht zu vergessen, dass sich Portugal und Deutschland im 19. Jahrhundert gegenseitig bekämpften, um sich den Reichtum der Rovuma-Region zu sichern. Der Konflikt war Gegenstand der Verhandlungen auf der Berliner Kongo-Konferenz von 1884-1885. Cabo Delgado ist auch ein Ort verschiedener Religionen, vor allem traditionelle afrikanische Glaubensrichtungen, das Christentum und der Islam existieren dort nebeneinander.

Der mosambikanische Befreiungskampf gegen den portugiesischen Kolonialismus begann ebenfalls in Cabo Delgado. Damals tat sich die Frelimo, die „Befreiungsfront Mosambiks", mit der lokalen Elite zusammen, um der Kolonialmacht gegenüberzutreten. Infolge dieses Engagements war die lokale Elite gespalten in Befürworter der Kolonialherrschaft und diejenigen, die an den Wind der Veränderung glaubten. Mit dem Beginn der Unabhängigkeit 1975 legten sich alle diejenigen, die nicht an den Befreiungskampf glaubten, mit dem Machtsystem an.

Heute ist die Provinz Cabo Delgado aufgrund der Funde von Öl- und Gasreserven zum Inbegriff für blühende Landschaften geworden und weckt Begehrlichkeiten von Investoren. Die dort tätige Industrie weiß aus Erfahrung, dass sie bestimmte Dienstleistungen wie Sicherheit, Beratung, Unternehmen und qualifiziertes Personal benötigt. All diese Aspekte dürften im Konflikt in der Provinz Cabo Delgado eine wichtige Rolle spielen.

Als die Angriffe im Oktober 2017 begannen, wurden sie sofort mit islamistischen Gruppen in Verbindung gebracht, die einen Scharia-Staat entsprechend der islamischen Tradition errichten wollten. Wie man Interviews mit Bewohnern von Mocimboa da Praia entnehmen konnte, sollen einige junge Leute aus der Gegend zum Koran-Studium ins Ausland gegangen sein und nach ihrer Rückkehr in die Heimat versucht haben, die Regeln in den Moscheen zu ändern. So sollen sie zum Beispiel mit Schuhen, Messern und stumpfen Gegenständen in die Moscheen eingedrungen sein. Entsprechend sollen sich die Mitglieder der Banden, die Häuser und Gemeinden niedergebrannt und Menschen getötet haben, aus einigen dieser jungen Leute rekrutiert haben. Bewohner in Mocimboa da Praia sagten, sie hätten die Regierung bereits vor Beginn der Angriffe über das fremdartige Verhalten der neuen Gläubigen in den Moscheen informiert.

Arme Jugend: anfällig für verschiedene Bewegungen
Nach Aussage des ehemaligen Verteidigungsministers Atanásio Ntumuke sind diese Jugendlichen arbeitslos. „Wer sind die Übeltäter? Sind es die Jugendlichen, die wegen ihrer Arbeitslosigkeit getäuscht werden?", so Ntumuke gegenüber der Deutschen Welle.

Im Mai 2018 versammelten sich jedoch mehr als hundert junge Leute im Zentrum des Dorfes Palma, um gegen das zu protestieren, was sie als „den Block für die Beschäftigungsmöglichkeiten" beim Aufbau der Infrastruktur für Öl und Gas bezeichneten, der auf der Afungi-Halbinsel stattfindet. Nach Angaben des US-Konzerns Anadarko Petroleum stammen etwa 53 Prozent der in dieser Phase des Projekts beschäftigten Personen aus dem Distrikt Palma. Der Mangel an Kommunikation könnte daher die Ursache für solche Unzufriedenheit sein. Einige Jugendliche, die in Palma befragt wurden, sagten, der Staat habe den Bewohnern ein neues Leben versprochen, aber davon würden sie nichts sehen. Etliche Interviewte sagten, es gebe vor Ort keine Stellenangebote und viele hätten keine Informationen dazu. Das Leben in Cabo Delgado sei zudem äußerst schwierig und sie wüssten nicht, was sie für ihr eigenes Überleben tun sollen.

Nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts hat die Provinz Cabo Delgado eine überwiegend junge Bevölkerung, mit 2,2 Prozent hat die Provinz mehr Zuzüge als Abwanderung (1,6 Prozent). Diese Bevölkerung lebt in einem Umfeld, das die mosambikanische Anthropologin Alcinda Honwana in ihrem Buch „Zeit der Jugend" als „Wartezeit" bezeichnet hat, eine Zeit des Stillstands zwischen Kindheit und Erwachsensein. Diese Jugendlichen leben ohne Jobs, die ihre Familien ernähren können und mit denen sie zu Teilnehmern und aktiven Mitgliedern der Gesellschaft werden. In einer Situation der Ungewissheit über ihre Zukunft könnten viele junge Menschen versucht sein, sich unbekannten organisierten Gruppen anzuschließen, unabhängig davon, ob sie Menschen töten oder nicht.

Einwohner der Distrikte von Montepuez berichteten im vergangenen Jahr, einige Räuber hätten die Menschen mit den Aufständischen verwechselt, die vor Ort als „al-Shabab" bezeichnet werden. In Namanhumbir etwa berichteten Empfänger einer Entschädigungszahlung durch die Montepuez Rubby Mining Company, dass sie Opfer von nächtlichen Übergriffen gewesen seien. Das Geld, mit dem die Menschenrechtsverletzungen in den örtlichen Gemeinden kompensiert werden sollen, ist für die Begünstigten zur Ursache für Unsicherheit und Risiko geworden. Andererseits werden die Empfänger dieser Abfindungen nun beschuldigt, das Geld von aufständischen bewaffneten Gruppen erhalten zu haben. Das zeigt: Das soziale Umfeld in Cabo Delgado öffnet vielen Gruppen Tor und Tür.

Mangelnde Meinungsfreiheit
Anfang 2019 wurden die beiden Journalisten Amade Abubacar und Germano Adriano vom Gemeinschaftsradio Macomia inhaftiert, nachdem sie beschuldigt worden waren, Staatsgeheimnisse verletzt und durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie Gewalt gefördert zu haben. Beide wurden erst nach etlichen Rechtsstreitigkeiten, die vom Mosambik-Büro des Medieninstituts für das südliche Afrika (Misa) angestrengt wurden, freigelassen.

Zur gleichen Zeit haben wir als Mitglieder des Studien- und Forschungszentrums Sekelekani versucht, eine Untersuchung über die Auswirkungen des Aufstands auf Vertriebene und Flüchtlinge auf der Insel Ibo durchzuführen, aber der Gouverneur gab uns keine Genehmigung dazu. Einen Monat später wurden die Arbeitsmaterialien von David Matsinhe, Vertreter von Amnesty International, und Estácio Valoi, mosambikanischer Journalist, im Norden von Cabo Delgado beschlagnahmt.

Im Pressefreiheitsindex verschlechtert sich Mosambik von Jahr zu Jahr: 2019 ist es von Rang 99 im Vorjahr auf Rang 104 zurückgefallen, 2017 lag es auf Rang 93. Im Februar sprach Mosambiks Präsident Filipe Nyusi bei einer Kundgebung in der Provinzhauptstadt Pemba über den Aufstand und warnte die Bevölkerung, vorsichtig mit denjenigen zu sein, die bei den Treffen zu viel sprechen, denn es könnte sich dabei um Mitglieder aufständischer Gruppen handeln.

Solche Aussagen veranlassen uns, über die Gefahren der fehlenden Meinungsfreiheit nachzudenken. Es hat sich gezeigt, dass soziale Bewegungen inoffizielle Mittel wählen, wenn die offiziellen Kanäle versiegen. In einer Situation mangelnder Meinungsfreiheit können marginalisierte Jugendliche allzu leicht extremistischen und kriminellen Bewegungen folgen. Fehlende freie Meinungsäußerung ist auch ein Hindernis für wissenschaftliche Forschungen, die Instrumente für ein besseres Verständnis der Realität liefern könnten.

Nachrichten über beteiligte Kräfte
In letzter Zeit ist die lokal als „al-Shabab" (Ahlu Sunnah Wal Jammah, ASWJ) bekannte Gruppe in den Nachrichten mit einer ähnlichen Gruppe innerhalb der DR Kongo in Verbindung gebracht worden. Und auch der Islamische Staat (IS) behauptet in einer Notiz, einen der Angriffe in Cabo Delgado koordiniert zu haben.

Im Januar 2020 machte sich unter den mosambikanischen Internetnutzern aufgrund eines Videos, das den Dschihad als „notwendigen Ort des Glaubens" beschwor und in sozialen Medien verbreitet wurde, Nervosität breit. Dieses Video wird als Propaganda der Gruppe gesehen, die hinter den Angriffen in der Provinz Cabo Delgado stehen soll, aber die Botschaft bezieht sich kein einziges Mal auf einen mosambikanischen Ort, erwähnt werden Tansania und Kenia.

Solche Videos tragen nicht viel dazu bei, die Beziehung zwischen den Propagandagruppen und den in Mosambik operierenden Banden richtig einzuschätzen. Mit Gewissheit lässt sich allenfalls sagen, dass in Cabo Delgado mehr als eine Gruppe operiert: auf der einen Seite eine größere Gruppe, die „al-Shabab", „Islamischer Staat" oder eine andere lokale oder internationale Extremistenorganisation sein könnte, auf der anderen Seite die lokale Bevölkerung, die sich unter die Plünderer mischt, deren Attacken individuellen Interessen dienen.

Um alle beteiligten Gruppen aufzudecken, bedarf es einer gesonderten Untersuchung und mehr, als sich nur auf vorgefasste Verdächtigungen zu fokussieren. Ebenso wichtig ist es zu verstehen, welche Rolle die fehlende Meinungsfreiheit und die Zunahme marginalisierter Jugendlicher dabei spielen, dass der Konflikt in Cabo Delgado zu einer unkontrollierten Auseinandersetzung wird.

Jessemusse Cacinda

Der Autor ist mosambikanischer Journalist und als Forscher für Sekelekani (Centro de Estudos e Pesquisa de Comunicação) tätig.
https://www.sekelekani.org.mz/


Interne und externe Faktoren des Konflikts
Auf die komplexen Hintergründe des Konflikts in Cabo Delgado ist auch der Mosambik-Experte Joseph Hanlon in einer Analyse eingegangen. Seine Kernaussagen: Die Vorgeschichte des Krieges reicht Jahrzehnte zurück. Es gibt eine sehr große Zahl von externen und internen Akteuren und Kontexten.

  • Extern ist Cabo Delgado eine Spielwiese für eine Vielzahl religiöser Missionare, globaler Rohstoffunternehmen und Händler mit legalen und illegalen Waren. Die Politik von Weltbank und IWF hat die Entwicklungsstrategie festgelegt.
  • Intern wachsen Armut und Ungleichheit. Gier und Korruption haben die Ungleichheiten verschärft und eine wachsende Unzufriedenheit, insbesondere bei marginalisierten Jugendlichen, verursacht.
  • Die lokale Elite (intern) arbeitet mit Rohstoffunternehmen und illegalen Händlern (extern) zusammen. Auf die Krise von Armut und Ungleichheit reagieren einige Menschen, indem sie bei religiösen Führern und Sekten nach einer Erklärung und Lösung suchen, während diese versuchen, ihre Lehren und Doktrinen als Antwort auf diese Krisen zu interpretieren, um Anhänger zu rekrutieren.
  • Das Misstrauen gegenüber den lokalen Eliten ist größer, als vielen bewusst ist. Es gibt eine Geschichte der Gewalt, von Cholera-Aufständen vor zwei Jahrzehnten bis zur Masseninvasion von Rubinminen im Februar 2020. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, wenn sich marginalisierte junge Menschen einer gewalttätigen Gruppe anschließen, die vorgibt, die Ungleichheit zu beseitigen.

Hanlon sieht den Konflikt als einen wachsenden Bürgerkrieg, der nicht militärisch gelöst werden kann. Um die Unterstützung der Aufständischen zu beenden, müssten die lokalen Missstände angegangen werden. Zugleich sei es aber wichtig, die externen Faktoren zu berücksichtigen, bei denen es sich nicht nur um ausländische islamische Kämpfer, sondern auch um Rohstoffunternehmen und illegale Händler handelt.

Quelle: Joseph Hanlon, Notes on the evolution of the Cabo Delgado war, Mozambique News reports & clippings 469, 27 February 2020