Heft 2/2020, Südafrika: Covid-19

Was vor uns liegt

WAS BEDEUTET DIE CORONAVIRUS-PANDEMIE FÜR SÜDAFRIKA? Nicht nur aus südafrikanischer Sicht stellt sie uns vor moralische, wirtschaftliche und politische Fragen. Für den Autor bleiben nur zwei Antworten: Sozialismus oder Barbarei.

Bis vor kurzem schien es so, als ob Afrika, in meinem Fall Südafrika, die Covid-19-Pandemie bloß vom Spielfeldrand aus betrachten würde. Kurz nachdem die lokalen Gesundheitsbehörden ihre Einsatzbereitschaft verkündet hatten, klopfte das Virus an Südafrikas Türe – weder zu früh noch zu spät, sondern genau zur rechten Zeit und begierig darauf zu prüfen, ob in unserem Haus tatsächlich alles in Ordnung ist. Während die Zahl der bestätigten Fälle immer weiter ansteigt, geht das Leben größtenteils weiter seinen normalen Weg (der Artikel wurde vor der Ausgangssperre verfasst; d. Red.) – Supermarktregale sind noch gut gefüllt und Cafés und Lokale geschäftig – jedoch nicht ohne ein wachsendes Gefühl der Furcht.

Wer wird in den kommenden Wochen zurückgelassen werden? Als leichter Bewältigungsmechanismus in dieser Zeit der Besorgnis hat sich der Humor erwiesen, und die südafrikanische Machart ist unverwechselbar frech und bissig. In einem viralen Video filmt ein Mann von seinem Autositz aus eine vermeintliche Ansage des öffentlichen Dienstes, die in einem nachgemachten „Blackcent" (umgangssprachliche Bezeichnung für den sozialen Dialekt der schwarzen Bevölkerung; d. Red.) die Zuschauer mit „Genosse" anredet. Doch schnell stellt er die Dinge richtig: „Corona ist nicht eure Krankheit", verkündet er. „Corona ist für Leute, die Geld haben, die im März nach Italien reisen können, nur um nach Italien zu reisen. Eure Sorge ist der steigende Benzinpreis." Die Pointe ist, dass Covid-19 eine Reichenkrankheit ist (obwohl wir natürlich wissen, dass das nicht stimmt). Für die Armen ist es die gewöhnliche Palette an Krankheiten, die das Immunsystem beeinträchtigen, inklusive Bluthochdruck, Cholesterin, Gicht, Tuberkulose und HIV. In Südafrika beschreibt man diese Kluft etwas kurzgegriffen mit der Hautfarbe, einem Graben zwischen Weiß und Schwarz.

Es trifft die Schwächsten
Für die Mehrheit der Südafrikanerinnen und Südafrikaner ist der Alltag immer genau die Dystopie gewesen, die gerade drohend über uns aufzieht, abgesehen von der Hysterie. Gemäß dem Sprichwort, dass man „eine Zivilisation danach bemessen kann, wie gut sie ihre schwächsten Mitglieder behandelt", hat Südafrika schon vor Langem seine Schwächsten auf unbestimmte Zeit zu einem tragischen Schicksal verurteilt. Es ist nicht lange her, dass der ehemalige Präsident Thabo Mbeki es ablehnte, lebensnotwendige antiretrovirale Medikamente zur Behandlung von HIV auf dem Markt zuzulassen. Wenig später starben 143 Menschen an Hunger und Vernachlässigung in staatlichen psychiatrischen Einrichtungen. Und dann gibt es noch die ganz banale gesundheitliche Tortur, mit der Arbeiterinnen und Arbeiter in Südafrika konfrontiert sind, wenn sie ihre müden und gebrechlichen Körper entweder gefährlicher oder abstumpfender Arbeit unterziehen – in den Minen, Fabriken, Geschäften und zu Hause. Hierzu pendeln sie in überfüllten Bussen und Taxis auf Arbeitswegen, die zu den weltweit längsten zählen, um für die teils niedrigsten Löhne die längsten Arbeitszeiten abzuleisten.

Und der Ort, an dem viele unserer Arbeitslosen und Arbeitenden Zuflucht vor den Mühen dieser Welt finden, liegt nicht hinter Ziegel und Mörtel, sondern in dicht gedrängten Behausungen aus Wellblech, Holz und Plastik.

Ohne Panik zu verbreiten – der Gedanke, wie eine schnelle Ausbreitung von Covid-19 in Südafrika aussehen könnte, ist erschreckend. In den gruseligsten Szenarien könnten bereits im April 12 Millionen Südafrikaner infiziert sein. Obgleich das Wissen über das Virus nach wie vor begrenzt ist, hoffen viele schlichtweg darauf, die Behauptungen mögen stimmen, das Virus verbreite sich überwiegend in kälteren Klimazonen. Dies kann, kurz nachgedacht, nicht der Fall sein, wenn man bedenkt, dass das Virus in Südostasien, Südamerika und Australien zunehmend Fuß fasst. So oder so, falls das Virus tatsächlich während der Wintermonate seinen Höhepunkt erreicht, ist dies genau, worauf der größte Teil Subsahara-Afrikas, bereits fest im Griff einer besonders schmerzhaften Grippe-Saison, gerade zusteuert.

Das Coronavirus ist seinem Wesen nach globalistisch und kennt keine Unterschiede aufgrund von Hautfarbe oder Nationalität, verstärkt jedoch klassenbedingte Ungleichheiten zwischen und innerhalb dieser Kategorien.

Eigeninteresse versus Gemeinwohl
Wie Jebediah Britton-Purdy in der US-Zeitschrift Jacobin herausarbeitet, „enthüllt Covid-19 ein Klassensystem, in dem die Macht, sich zurückzuziehen zu können, ein Statusmerkmal ist." Wenn es jemals so etwas wie einen südafrikanischen Traum gab, dann der, ausreichend Geld zu verdienen, um aus dem staatlichen Unterstützungssystem auszusteigen. Seine Kinder auf eine Privatschule schicken, eine private Krankenversicherung abschließen, in befestigten und umzäunten Wohnanlagen leben – sich von der öffentlichen Sphäre und von der Gesellschaft zurückziehen. Teil dieses hartnäckigen Misstrauens gegenüber dem Staat ist ein hässliches Vermächtnis der Apartheid: „Die Vorstellung ist hier tief verwurzelt, dass die Herrschaft durch Schwarze immer ein böses Ende nimmt", fasst Politikwissenschaftler Steven Friedman zusammen. Der andere, grundlegendere Grund ist, dass das Leben im Kapitalismus durch den Markt organisiert und durch seine Gebote beherrscht wird. Dies höhlt notwendigerweise jedes andere Prinzip sozialer Organisation aus.

Das allgegenwärtige Ausmaß der Privatisierung hat erfolgreich einen zweigeteilten Staat in Südafrika geschaffen, wo die Klassenposition die Qualität der Dienstleistung bestimmt, zu der jede und jeder einzelne Zugang hat. Doch das Kernproblem ist nicht nur eine Kontinuität rassenbasierter Diskriminierung und sich daraus ergebender Ungleichheiten, sondern auch das Fortbestehen einer Überlebensethik im Kapitalismus, in der sich das Eigeninteresse gegen das Gemeinwohl durchsetzt. Dies ist es, was alle Südafrikaner, Weiße wie Schwarze, in den Kult des Privaten treibt. Angesichts der Alternative einer maroden Infrastruktur lautet die Wahl entweder „zahl drauf" oder „zahl den Preis" – so ist das ideale Subjekt im Afrika nach der Apartheid der Konsument geworden, nicht die Bürgerin.

Allerdings hat Covid-19 global die Frage aufgeworfen: Welcher Anteil am Staatsversagen beruht auf Inkompetenz? Oder ist es möglich, dass der Staat, in Anbetracht der strukturellen Hindernisse, mit denen sich die Regierungen konfrontiert sehen, stets zum Scheitern verurteilt ist, wenn ihre Fähigkeit, echte Ressourcen leicht zu koordinieren, durch den Wettbewerb um dieselben mit einem überdimensionalen Privatsektor behindert wird und ihre effektive Verteilung durch die Messung in monetärem Wert, und nicht in tatsächlichem sozialem Nutzen, erschwert wird?

Moment welthistorischer Bedeutung
Dies ist selbstverständlich eine Zeit, die entschlossenes staatliches Handeln verlangt. Am 15. März kündigte Präsident Cyril Ramaphosa drastische Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus an, nachdem Südafrika seinen ersten Ansteckungsfall zu verzeichnen hatte. Der nationale Notstand wurde erklärt. Die verschiedenen daraus folgenden Maßnahmen sind begrüßenswert, doch der zugrundeliegende Charakter des Ausbruchs hat strukturelle Ursachen. Zum Beispiel steht das weltweit zunehmende Auftreten von Viren in Zusammenhang mit den von multinationalen Konzernen geführten, industriellen landwirtschaftlichen Praktiken. Wie der Biologe Rob Wallace erklärt, ist „beinahe die Ganzheit des neoliberalen Projekts darauf ausgerichtet, die Bemühungen von Unternehmen in den fortgeschrittenen Industrieländern zu unterstützen, Land und Ressourcen schwächerer Länder zu stehlen. Dadurch werden viele jener neuen Krankheitserreger freigesetzt, die zuvor durch gewachsene Waldökosysteme in Schach gehalten wurden, die heute aber die gesamte Welt bedrohen."

Die Menschheit sieht sich nun unmittelbar mit den Folgen einer kapitalistischen Globalisierung konfrontiert, die die Erde verwüstet und Verzweiflung und Bestürzung hinterlässt. Dem gegenwärtigen Moment merkt man die welthistorische Bedeutung an, deren Widerhall in den kommenden Jahrzehnten zu spüren sein wird. Da ist es leicht, in eine lähmende Hoffnungslosigkeit abzugleiten. Wie vorherzusehen war, haben einige eine Art entfremdeten Konsum gewählt und ergeben sich dem Warenfetisch, indem sie Güter horten und als Schutz gegen das Unbekannte auftürmen. Diese Bemühungen sind vergeblich – schließlich bleibt bekanntlich unsere unvermeidliche Sterblichkeit und die anhaltende Zerbrechlichkeit all dessen, was uns wichtig ist, seien es Freunde und Familie oder unsere individuellen Hoffnungen und Ziele. Wie die Psychoanalytikerin Gillian Straker es einmal formulierte, als sie in der Debatte über die sogenannte „Rassenmelancholie" schrieb: „Niemand kann leugnen, dass wir jetzt mehr denn je moralische Fortschritte machen müssen, wenn wir nicht uns selbst und andere in sich wiederholenden Katastrophen zerstören wollen, die uns alle in der Unterscheidungslosigkeit und Gleichheit des Todes nivellieren werden."

Und so bietet dieser Moment auch die Möglichkeit, das öffentliche Bewusstsein neu zu schreiben, die Unmöglichkeit eines lebenswerten Lebens zu betonen, außer es wird akzeptiert, dass wir voneinander abhängig leben. Der Begriff des Ubuntu – dass ich bin, weil wir sind – garantiert Südafrikas schwächliche Post-Apartheid-Identität, und es ist ein mächtiger Rahmen für eine Ethik der Fürsorge und Solidarität. Doch bislang ist es nicht mehr als eine bedeutungslose Plattitüde gewesen, die nicht etwa eingesetzt wurde, um emanzipatorische Politiken voranzubringen, sondern um unsere Klassengegensätze im Namen einer falschen Einheit zu glätten. Die materiellen Bedingungen zur menschlichen Entfaltung müssen der Anfang und nicht der Gipfel der nationalen Einheit sein.

Die Zeit des Kapitalismus läuft ab
Derzeit mobilisieren sich Südafrikas progressive Kräfte, um Forderungen zu stellen, die nicht nur notwendig sind, um die Krise mit all ihren wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Dimensionen zu überleben, sondern darüber hinaus eine lebenswerte Gesellschaft zu schaffen, in der es ein Sicherheitsnetz für alle gibt. Zu diesen Forderungen gehören die Erhöhung der Kapazität unseres Gesundheitssystems durch die Bereitstellung öffentlicher und privater Ressourcen, um kostenlose Tests in allen Gesundheitseinrichtungen zu gewährleisten, die flächendeckende Verteilung von Masken und Desinfektionsmitteln, die Bereitstellung einer angemessenen Wasser- und Abwasserinfrastruktur sowie Waschplätze an allen Orten des öffentlichen Lebens. Dazu gehören auch wirtschaftliche Polster, wie z.B. garantierter bezahlter Urlaub, die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, die Verhängung von Mietpreisstopps und Räumungsmoratorien sowie die Regierung als letztinstanzlichen Käufer, um die versiegende Nachfrage zu ersetzen.

Solche Maßnahmen sind in der menschlichen Geschichte keineswegs neu. Viele haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass die fundamentalen Schocks des 20. Jahrhunderts –zwei Weltkriege und eine große Depression – in einen planenden Staat mündeten, der die Grundlagen für die sozialdemokratischen Politiken in Westeuropa und Nordamerika legte, die nun durch die neoliberale Orthodoxie gekappt wurden.

In Südafrika, wo dies ebenfalls der Fall war, beschränkten sich die Vorteile daraus lediglich auf die weiße Minderheit, während die schwarze Bevölkerung niemals einen Sozialstaat kennengelernt hat. Nun haben liberale Demokratien weltweit begonnen, den Markt wieder zu umgehen, so hat etwa Spanien alle Privatkliniken verstaatlicht und das Vereinigte Königreich die Automobilhersteller aufgefordert, medizinische Ausrüstung wie Beatmungsgeräte herzustellen. Sogar der konservative US-amerikanische Senator und einstige republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney schlägt vor, jedem und jeder amerikanischen Erwachsenen 1000 Dollar zu geben, um mit dem Ausbruch fertig zu werden.

Die Krise schreit nach derartigen tiefgreifenden Reformen. Aber bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Rosa Luxemburg: Reform or Revolution" beim Left Forum 2016 hob der Wirtschaftswissenschaftler Richard Wolff eine unbestreitbare Eigenschaft eines Wirtschaftssystems hervor, das durch das Gesetz der Akkumulation angetrieben wird: „Solange es den Kapitalismus gibt, werden Reformen rückgängig gemacht." Während die Realität der sozialen Distanzierung Teil des Alltags wird, kristallisiert sich die tiefe Verschränkung unserer Leben und Schicksale heraus. Der Weg vor uns konfrontiert uns mit moralischen, wirtschaftlichen und politischen Fragen, auf die es, wie immer deutlicher wird, nun, da die Zeit abläuft, nur noch zwei Antworten gibt: Sozialismus oder Barbarei.

William Shoki

Shoki ist fester Autor bei „Africa Is A Coutry". Er lebt in Johannesburg.
Der englische Originaltext erschien am 18.3.2020 bei africasacountry.com
https://africasacountry.com/2020/03/what-lies-ahead