Heft 2/2021, Angola

Blutbad mit Ansage

DAS MASSAKER VON CAFUNFO. Sicherheitskräfte haben in der Diamantenprovinz Lunda Norte ein Massaker unter Demonstrierenden angerichtet, die mehr Rechte für die Volksgruppe der Chokwe sowie bessere Lebensbedingungen für die nordöstlichen Provinzen Angolas forderten. Die Polizei, die von einem bewaffneten Aufstand durch Separatisten spricht, setzt auf Rambo-Rhetorik und Gewalt. Seitdem erfasst eine Welle der Repression die Provinz und richtet sich vor allem gegen eine bislang fast unbekannte Organisation.

Am frühen Samstagmorgen fallen die ersten Schüsse. Ein Demonstrationszug, ein paar Dutzend Menschen nur, zieht durch eine Wohngegend. Man hört kämpferische Gesänge, doch die Demonstrierenden sind, von einzelnen Knüppeln abgesehen, unbewaffnet. Plötzlich krachen Schüsse in der Dämmerung, ein paar Menschen rennen panisch über die Straße. Dann weitere Schüsse, von hinten getroffen fallen einige Flüchtende hin und stehen nicht mehr auf. Gut eine Stunde später, die Sonne ist inzwischen aufgegangen, werden Menschen, gleichgültig ob tot oder verletzt, wie nasse Säcke über Asphalt und Erde geschleift. Am Ziel liegen bereits weitere Verletzte auf der Straße, dazu Tote und Verblutende, die von Uniformierten bewacht und verhöhnt werden. Unter ihnen ist ein junger Mann, der sich ins Sitzen aufrichtet, um mit den Polizisten zu sprechen. Doch einer der Beamten tritt den Mann kurzerhand wieder zu Boden. Mit seinem schweren, glänzenden Stiefel tritt er dem Verletzten auf den bloßen Schädel, beiläufig, so als würde er ein Insekt zertreten oder eine leere Dose.

Diese verstörenden Szenen, aufgenommen von Nachbar*innen und den Polizisten selbst, kursierten als Videos nach dem 30. Januar in zahlreichen WhatsApp-Gruppen in Angola. Sie stehen im krassen Kontrast zur offiziellen Version der Ereignisse, wie sie von Polizei, Behörden und Regierung vertreten wird. Diese Version geht so: Eine Gruppe von etwa 300 bewaffneten Mitgliedern der separatistischen MPPLT (Movimento do Protectorado Português da Lunda Tshokwe) habe um 4 Uhr früh eine Polizeistation in der Minenstadt Cafunfo überfallen. Die Stadt mit 90.000 Einwohner*innen liegt nahe der kongolesischen Grenze in der nordöstlichen Provinz Lunda Norte, wo die Ethnien Chokwe und Lunda in der Mehrheit sind. Ziel des Überfalls sei eine Besetzung der Station gewesen, um Macht zu demonstrieren und um dort inhaftierte Gefangene der Bewegung zu befreien. Die Beamten hätten sich gewehrt, nachdem zwei Polizisten durch einen selbstgebastelten Brandsatz schwer verletzt worden seien, und hätten sechs Angreifer im Gefecht getötet.

Rambo-Rhetorik des Polizeikommandanten
Innenminister Eugénio Laborinho lobte das Vorgehen der Sicherheitskräfte angesichts eines bewaffneten Aufstands. Die Gruppe der Angreifer sei mit Feuerwaffen sowie mit spitzen, stumpfen und scharfen Gegenständen bewaffnet gewesen. Er weigerte sich, mit „diesen Leuten" zu verhandeln, die sich auf dem Holzweg befänden. Ihr Interesse gelte einzig „dem Diamantenabbau, wo die Ausländer dominieren, die die Angolaner, die dort leben, herumkommandieren". Unter den Demonstrierenden seien vier Staatsangehörige der Demokratischen Republik Kongo gewesen, deren Absicht eine Destabilisierung der Region sei. Es ist übrigens der gleiche Innenminister, der die Tötungen von Jugendlichen durch die Polizei wegen vermeintlicher Verstöße gegen die Covid-19-Beschränkungen mit dem Satz kommentierte, die Polizei sei eben nicht dafür da, Schokolade zu verteilen.

Noch martialischer äußerte sich der Kommandant der Nationalpolizei, Paulo de Almeida: „Wenn du mit einem Messer angreifst, antwortet dir der angolanische Staat mit einer Pistole. Wenn du mit Pistolen angreifst, antworten wir dir mit Kalaschnikows. Wenn du mit Kalaschnikows angreifst, antworten wir dir mit Bazookas!" In einer bizarren Wutrede steigerte er sich schließlich in Fantasien über Interkontinental-Raketen hinein, die er seinen Feinden auf den Hals jagen würde.

Auf Grundlage dieser Äußerungen reichte die NRO Observatório para a Coesão Social e Justiça (OCSJ) Klage gegen Laborinho und Almeida wegen Anstiftung zu Straftaten ein. Misereor und Brot für die Welt reichten eine von der Angola-Runde deutscher NROs vorbereitete Beschwerde beim UN-Hochkommissariat für Menschenrechte ein. Auch die CEAST,, die Bischofskonferenz für Angola und São Tomé, forderte in einer gemeinsamen Stellungnahme, die Vorkommnisse zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Auch von Vertreterinnen der EU und UNO gab es diplomatische Kritik sowie die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung.

Präsident João Lourenço äußerte sich erst Anfang März zu den Ereignissen. In ein paar dürren Sätzen beklagte er die „traurigen Ereignisse" und sagte, er erwarte die Ergebnisse einer laufenden internen Untersuchung, um das Fehlverhalten einiger Beamter aufzuklären, die die „Uniformen, die sie trugen, entehrt haben". Doch diese Sätze blieben die Ausnahme in einer langen Rede, die sich zwar im Ton, nicht aber im Inhalt von den Aussagen seines Innenministers und Polizeichefs unterschied. Auch er blieb bei einer Zahl von sechs Toten, verteidigte das Vorgehen der Polizei, betonte die Unteilbarkeit des Staats und kritisierte seinerseits die Opposition für ihr Verhalten nach dem Massaker.

Wege zur Aufklärung versperrt
Tatsächlich ist es noch immer unmöglich, sich ein genaues und objektives Bild der Geschehnisse zu machen. Allerdings scheint zumindest das entstandene Videomaterial authentisch zu sein und bislang konnten Polizei und Behörden noch keine glaubhaften Beweise für einen ernstzunehmenden Angriff auf eine Polizeistation liefern. Das Sammelsurium an Knüppeln, Macheten, Talismanen und Gewehren, das Polizeichef Almeida am Tag nach dem Massaker den Fernsehkameras präsentierte, mag von den Demonstrierenden stammen oder auch nicht. Bände spricht allerdings der Umgang des Staates mit jenen, die sich Klarheit verschaffen wollten. So wurde eine Delegation der NROs Mosaiko und Rede de Defensores de Direitos Humanos bei ihrer Ankunft in Cafunfo von der Polizei bedroht und praktisch unter Hausarrest gestellt. Die vier Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, die u.a. vorhatten, die Betroffenen in Cafunfo juristisch zu vertreten, mussten schließlich unverrichteter Dinge abreisen – mit Polizeieskorte. Ähnlich erging es wenige Tage nach dem Massaker einer Delegation von Abgeordneten der Opposition, die sich nach Cafunfo aufmachte. Die Abgeordneten wurden von der Polizei abgefangen und tagelang auf dem offenen Feld ohne Wasser und Verpflegung festgehalten.

In ihrem Bericht erheben die Parlamentarier der Unita und der Casa-CE schwere Vorwürfe gegen die Polizei und sprechen von 28 Toten, 21 Verletzten und 10 Vermissten durch die Gewalttat. Mehrere traditionelle Autoritäten der Region sprechen sogar von insgesamt 176 Toten. Außerdem seien am Tag nach dem Massaker zahlreiche Leichname aus der Leichenhalle in Cafunfo verschwunden, mutmaßlich um das Ausmaß des Massakers zu vertuschen. Einige Tote seien später in Flüsse und Schluchten geworfen oder an entlegenen Stellen verscharrt worden. Die insgesamt nur 93 Demonstrierenden seien in der Mehrzahl ehemalige Arbeiter der staatlichen Diamantenfirma Endiama gewesen, die mit der Demonstration gegen ihre Entlassung protestieren wollten. Alle Berichte, die nicht von offizieller Seite stammen, stimmen zudem darin überein, dass die Repression in Cafunfo spätestens seit dem Massaker deutlich zugenommen habe und es zu zahlreichen willkürlichen Festnahmen gekommen sei.

Angst vor Sezession
Verschiedene Äußerungen von Regierungsmitgliedern weisen darauf hin, dass Teile der Exekutive nervös auf die Ereignisse in Mosambiks Nord-Provinz Cabo Delgado schauen. Analog zum dortigen Konflikt befürchtet man weitere separatistische Tendenzen in Angola, zusätzlich zum bestehenden Sezessionskonflikt in der Exklave Cabinda. Getreu dem Motto „um só povo, uma só nação" („ein einziges Volk, eine einzige Nation") beschwören daher das Politbüro der MPLA und zahlreiche Amtsträger*innen mantraartig die Unteilbarkeit und Unverletzlichkeit der angolanischen Nation. Zwar ist die Betonung der nationalen Identität als verbindendes Element im Vielvölkerstaat Angola verständlich, zumal der jahrzehntelange Bürgerkrieg, der auch entlang ethnischer Grenzen verlief, noch nicht allzu lang zurückliegt. Gleichwohl klingen die Phrasen von der nationalen Einigkeit hohl, wenn sie aus den Mündern einer MPLA-Elite kommen, die sich überwiegend aus Mbundu zusammensetzt, die zusammen nur etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.

Die Provinz Lunda Norte, von der Fläche vergleichbar mit der ehemaligen DDR und besiedelt von nur etwa einer Million Menschen, ist ausgesprochen reich an Bodenschätzen, vor allem an Diamanten und Gold. Doch leider trifft auch die klassische Erzählung des Ressourcenfluchs auf die Region zu. Denn die Bevölkerung hat, zugespitzt formuliert, ziemlich wenig von ihren Reichtümern, abgesehen von vielen illegalen, prekären und oftmals gefährlichen Jobs im Kleinbergbau. Die Region, zwei Tagesreisen von Luanda entfernt, ist schlecht angebunden und verfügt auch im Bildungs- und Gesundheitswesen über eine schwache Infrastruktur. Der in Angola besonders stark ausgeprägte Zentralismus und das damit einhergehende große Ungleichgewicht zwischen Zentrum und Peripherie tun ihr Übriges, um den Frust der Menschen in den ländlichen Gegenden zu befeuern.

Angesichts der zunehmenden Repression in Lunda Norte verwundert es daher nicht, dass der Vorsitzende der Bewegung MPPLT in Luanda wenige Tage nach dem Massaker festgenommen wurde. José Mateus Zecamutchima wurde nach Lunda Norte überstellt, wo die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen ihn aufgenommen hat. In einem Interview kurz vor seiner Festnahme machte Zecamutchima den Behörden schwere Vorwürfe. Dem Massaker vom 30. Januar seien unter fadenscheinigen Argumenten verschiedene Demonstrationsverbote und ausgeschlagene Gesprächsangebote vorausgegangen. Als die Demonstration schließlich dennoch einseitig angekündigt wurde, hätten die Behörden seit dem 20. Januar massiv Sicherheitskräfte in den Städten Cuango und Cafunfo zusammengezogen. Lautsprecherwagen seien durch die Straßen gefahren und hätten mit einer deutlichen Botschaft die Bevölkerung davor gewarnt, am fraglichen Datum auf die Straße zu gehen: „Wer nach draußen geht, stirbt." Wenn das stimmt, war es ein Massaker mit Ansage.

Viel Konfliktpotenzial
Zecamutchimas Organisation, die seit 2006 besteht und die er seit 2011 leitet, beruft sich auf ein Protektoratsstatut aus dem Jahr 1894. Die damalige Kolonialmacht Portugal unterzeichnete in diesem Jahr einen Schutzvertrag mit den traditionellen Autoritäten in Lunda, in denen sie ihnen eine gewisse Autonomie zusicherte. Weniger aus kolonialer Großmütigkeit denn aus Kalkül heraus diente der Vertrag dazu, die portugiesischen Ansprüche gegenüber der britischen Expansion im heutigen Sambia und dem Kongo-Freistaat abzusichern, der unter der Gräuelherrschaft des belgischen Königs Leopold II. stand. Seit der Berliner Kongo-Konferenz von 1884 galt zur Rechtfertigung kolonialer Herrschaft der Grundsatz der „effektiven Okkupation", der die Kolonialmacht gewissermaßen verpflichtete, in den von ihr beanspruchten Gebieten auch eine tatsächliche Herrschaft auszuüben. Ohne diese konnten sich Legitimierungsprobleme und damit einhergehend auch die Ansprüche konkurrierender Großmächte ergeben. Selbstverständlich diente die Beherrschung von Kolonien in erster Linie der wirtschaftlichen Ausbeutung, auch wenn das Streben nach Prestige sowie religiöses und „zivilisatorisches" Sendungsbewusstsein ebenfalls wichtige Triebfedern darstellten. Da Portugal gleichzeitig nur punktuell in der Lage war, im Landesinneren eine militärische, wirtschaftliche und administrative Präsenz aufrechtzuerhalten, stellten Schutz- und Autonomieverträge eine pragmatische Lösung dar, die „fehlende" Durchdringung auf eine Weise zu bemänteln, die die eigenen territorialen Ansprüche wahrte. Denn die Portugiesen schielten noch lange auf eine Landverbindung zwischen Angola und Mosambik.

Der MPPLT zufolge sind die vier östlichen Provinzen (Lunda Norte, Lunda Sul, Moxico und Cuando Cubango) bis 1975 nie vollständig administrativ in das portugiesische Kolonialreich integriert gewesen und seien mit der Unabhängigkeit illegal durch Angola annektiert worden. Dazu passt, dass sich die Chokwe nie besonders stark im Unabhängigkeitskrieg engagiert haben. Für die vier Provinzen, die zusammen etwa 48 Prozent des angolanischen Territoriums ausmachen, fordert die Bewegung daher in einer Erklärung einen Autonomie-Status, vergleichbar mit dem der portugiesischen Atlantikinsel Madeira. Genau legt sich die MPPLT jedoch diesbezüglich nicht fest, fordert sie doch gleichzeitig die vollständige Unabhängigkeit und die Autonomie nur als Geste „des guten Willens" auf dem Weg dorthin.

Vor dem Massaker war die MPPLT eine kleine, weitgehend unbekannte Organisation aus einem entlegenen Winkel Angolas mit bescheidenen Mitteln und ohne eigenen Wikipedia-Eintrag. Doch die Polizei hat sich entschlossen, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen und der Bewegung, um es zynisch auszudrücken, Märtyrer und Helden geschenkt. So wurde Zecamutchima nicht müde, den „heroischen" Mut der Gefallenen zu betonen. Fassen wir zusammen: Armut, eine abgehängte Region, ethnische Animositäten, Diamanten als Treibstoff. Es liegt alles bereit, die Erde ist fruchtbar für einen schwierigen Konflikt. Gut möglich, dass sich die MPLA durch ihr unmäßiges und grausames Vorgehen jetzt genau den Feind erschaffen hat, den sie eigentlich verhindern wollte.

Daniel Düster