Heft 3/2012, Südafrika: Literatur

Die Schatten der Vergangenheit

SÜDAFRIKAS LITERATUR. Ein polemischer Rückblick auf 100 Jahre Engagement.

 

Dass in Südafrika Literatur seit mehr als 100 Jahren eng an die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des Landes gebunden ist, gehört zu den Besonderheiten einer vielfältigen Literatur, die von der Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung kaum wahrgenommen wird, aber im Ausland große Aufmerksamkeit findet.

 

In Südafrika gibt es heute eine durchaus lebendige Literaturszene mit vielen Verlagen, Autorinnen und Autoren, mit Festivals und Literaturpreisen, auch immer wieder eine Diskussion über Literatur; nach 1994 gibt es durchaus eine Art Aufschwung. Die Schatten der Vergangenheit sind freilich immer noch präsent.

 

Die grundlegende Dichotomie hat natürlich mit Hautfarbe oder Rasse zu tun. Sie findet ihren literarischen Ausdruck in einer weißen liberalen Tradition einer Olive Schreiner (1855-1920) und kulminiert im eher radikalen Liberalismus der Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer (bis hin zur scharfzüngigen Kritik, wie sie Krimis von Deon Meyer, Mike Nicol oder Roger Smith kennzeichnen, die heute sehr im Schwange sind).

 

Für die andere Tendenz steht der eher verhalten optimistische Protest von Sol T. Plaatje, zeitgleich mit der Gründung des ANC, dessen Strategie Plaatje durchaus verkörperte. Sie fand ihren Höhepunkt in der „Literatur der Befreiung" der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, mit Autoren wie Alex La Guma, Bloke Modisane, Eskia Mphahlele und Peter Abrahams.

 

Die „Bewegung des Schwarzen Selbstbewusstseins", die sich zwar abgrenzte vom ANC, seinen kulturellen Traditionen aber kaum entrinnen konnte, nutzte dann das „Gedicht als Waffe" im Kampf, natürlich auch, weil Gedichte, die sich nicht so leicht zensieren ließen, im mündlichen Vortrag durchaus motivierend wirken konnten. Viele europäische Apartheid-Gegner beteiligten sich heftig an dieser „Instrumentalisierung der Literatur", auch ich nutzte bis weit in die 80er Jahre literarische Texte als „aufklärerische Beiträge" zur Erkenntnis über politische und gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen.

 

Diese politische Instrumentalisierung der Kunst wurde dann auch innerhalb des ANC thematisiert. Zum Auftakt der sogenannten „Sachs-Debatte" lieferte der spätere Oberste Richter Südafrikas, der Jurist und mit allen „revolutionary credentials" ausgestattete Albie Sachs in seinem Arbeitspapier für einen ANC-Workshop Preparing ourselves for freedom (1990) Argumente gegen die Verarmung der Künste. „Statt dass richtige Kritik geübt wird, bekommen wir solidarische Kritik. Unsere Künstler werden nicht angehalten, die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern. Es reicht aus, wenn man politisch korrekt ist... Die Spannbreite der Themen verengt sich, so dass alles, was witzig oder wirklich tragisch in der Welt ist, ausgeschlossen ist. Zwiespalt oder Widerspruch werden zur Gänze ausgeschlossen, der einzige Konflikt, der als akzeptabel gilt, ist der zwischen Alt und Neu, so als ob nur in der Vergangenheit das Schlechte existiert, derweil das Gute in der Zukunft angesiedelt ist."

 

Ähnlich argumentierte schon vor dem mehr oder minder sich abzeichnenden Ende der „großen Apartheid" der Literaturwissenschaftler (und Autor) Njabulo Ndebele in seinem wichtigen Essay Rediscovery of the Ordinary (1994),in dem er fragte, was denn südafrikanische Autoren dann schreiben würden.

 

Das Problem ließ sich damals und lässt sich immer noch so formulieren: Wenn man eine mäßig gut geschriebene Geschichte über ein wichtiges (auch politisch als relevant anerkanntes) Thema veröffentlicht, ist man politisch besser dran, als wenn man eine glänzend geschriebene Geschichte über ein nicht-revolutionäres Thema vorlegt? Wann findet man mehr Gnade bei der offiziellen Kulturpolitik (die im Übrigen ein viel beredete, aber in der Praxis weithin folgenlose Strategie der Förderung der Literatur in den afrikanischen Sprachen immer wieder auf die Tagesordnung stellt)? Wird man mehr gelobt – und von wem?

 

Die Geschichte des inhaltlich-politischen Engagements hat in Südafrikas Literatur eine lange und große Tradition. Unter weißen Liberalen, die überwiegend in Englisch schreiben, steht dafür herausragend die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer. Die Geschichte des ästhetischen Engagements ist wesentlich weniger ausgeprägt, findet sich interessanterweise auch mehr bei in Afrikaans schreibenden Autoren des 20. Jahrhunderts (wie Bosman oder den „sestigers") und bei dem anderen südafrikanischen Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee. Gordimer und Coetzee sind begnadete Prosa-Autoren, beide verfügen über ein umfangreiches Oeuvre, über beide ist die Sekundärliteratur bei weitem umfangreicher als ihre eigenen Werke, beide haben immer wieder öffentlich darüber nachgedacht, was denn Literatur eigentlich für die Bewältigung sozialer Probleme und menschlicher Konflikte leisten könne. Aber beide unterscheiden sich – wie ich meine – durch die Grundhaltung: Gordimer erzählt ihre Geschichten und Romane von früh an immer entlang einer mehr oder minder offenkundigen Tagesordnung der politischen Entwicklung, für die sie ohne Zweifel ein hohes Maß an Sensibilität an den Tag legt, auch in einer eher realistischen Erzählweise, die noch den auktorialen Erzähler kennt. Coetzee aber vermeidet die vordergründig sozialkritische Abbildung südafrikanischer Wirklichkeiten, ihm geht es auch nicht um wohlfeile politische Polemik. Selbst noch da, wo er sich in seinen eher autobiographisch gefärbten Texten wie Boyhood (1997), Youth (2002) und Summertime (2009) auf seine Jugend als Südafrikaner einlässt, ist er erfolgreich darum bemüht, aus dem Realen das Allgemeine herauszulösen, aus Fakten Fiktion – und damit allgemein Gesellschaftliches – zu produzieren.

 

Wo sind die neuen schwarzen Autoren?

Wie sich denn der „Kampf zweier Linien" im Südafrika seit 1994 weiter entwickelt? Dass die Dominanz des Inhaltlich-Politischen, der „relevanten" Thematik weitergegangen ist, ist eine nicht ganz unrealistische Vermutung. Dass die Differenzierung verschiedener literarischer Strömungen sich ebenfalls in Südafrika heute abzeichnet, hat ebenfalls eine hohe Plausibilität. Denn warum sollte der hoch gefeierte – und oft mit qualvollen Leseerlebnissen verbundene – Postkolonialismus ausgerechnet am heutigen Südafrika vorbeigehen?

 

Nach dem Ende der Zensur und dem Aufbruch in der Verlagslandschaft feierte ein fast totgeglaubtes literarisches Genre fröhliche Urständ: Endlich konnten persönliche Geschichten – Berichte aus dem „wahren Leben" – geschrieben und veröffentlicht werden; in den Verlagen Kwela und Umuzi erschienen in den 90er Jahren und darüber hinaus viele dieser Texte, die oft nur einem alten Slogan huldigten: „Das alles hat man uns während der Apartheid angetan – und tut man uns noch heute an." Nur wenige ragten heraus, so z.B. A.H.M. Scholtz mit Vatmaar (1995, dt. 1998), der durch erzählerische Frische auf Lebenswelten aufmerksam machte, die vordem weithin ausgeblendet waren. Oder auch Kopano Matlwa mit Coconut (2007), die aus einem altbekannten Thema des Erwachsenwerdens in einer weiß-schwarzen Welt neue Funken zu schlagen versteht (vielleicht weil sie keinerlei literarische Ambitionen hegte).

 

Dass freilich ausgerechnet ein geradezu klassisch-europäisches Genre in Südafrika zu neuer Blüte kommt, zudem die bedeutende literarisch-liberale Tradition Südafrikas aufgreift und neu wendet, ist nicht ohne Ironie – und das hätten sich Albie Sachs und Njabulo Ndebele kaum träumen lassen, als sie vor mehr als 20 Jahren literarische Qualität und Relevanz jenseits des politisch Korrekten einforderten. Denn das Genre, das die südafrikanische Literatur heute dominiert und ihr Bild im Ausland – in Übersetzungen – prägt, ist ausgerechnet der Kriminalroman in der Tradition von Mankell, Vasquez-Montalban, Sjöman-Wahlöo oder Van de Wetering: Realistisch und spannend erzählte Geschichten mit hoher gesellschaftlicher Relevanz – nicht in Europa, sondern im neuen Südafrika. Dass die meisten dieser Autoren mit hohem Erfolg auch in Übersetzungen Weiße sind, mag ein Zufall oder ein Betriebsunfall im internationalen Literaturbetrieb sein.

 

Denn die Frage steht weiter im Raum: Wo sind die neuen schwarzen Autorinnen und Autoren? Wie haben sie von der neuen Lage seit 1994 profitiert? Unzweifelhaft haben sie mehr Veröffentlichungschancen, mehr als jemals zuvor. Die Zahl der Veröffentlichungen ist in den letzten Jahren beachtlich angestiegen. Doch ist es den neuen Autorinnen und Autoren gelungen, sich aus der Tradition des gesellschaftlich-politisch Relevanten zu befreien? Der Test ist keineswegs einfach. Vielleicht hätte er mit einer radikalen Subjektivität zu tun, mit einer hemmungslosen Neigung „Ich" zu sagen – und eben nicht „Wir"? Einer der Autoren, die dieses „Ich" nicht außen vor ließen – und zugleich von einem „anderen" (auch sexuell „anderen") Leben zu erzählen verstanden – die Rede ist von K. Sello Duiker mit seinem Roman Die stille Gewalt der Träume (Wunderhorn, Heidelberg 2010) – hat sich 2005 das Leben genommen. In Südafrikas Literatur hatte und hat er einen Platz, in Südafrikas Gesellschaft gab es keinen guten Ort für ihn.

 

Peter Ripken

 

Der Autor, erster Vorsitzender des issa, war langjähriger Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung der Literatur in Afrika, Asien und Lateinamerika. Heute Chair of the Board – International Cities of Refuge Network – ICORN.