Heft 3/2013, Editorial

Ein Mensch in der Revolte

„WAS IST EIN MENSCH IN DER REVOLTE?“ fragt Albert Camus in seiner Essaysammlung „Der Mensch in der Revolte“. „Ein Mensch, der nein sagt.“ Ein Nein dagegen, dass ein anderer ihm seine Rechte verweigert – Rechte, die allen gemeinsam sind. Er sagt Nein dazu, „daß ...ihm etwas abgesprochen wird, was ihm nicht allein gehört, sondern allen Menschen gemein ist, in dem allen Menschen, auch seinen Unterdrückern und Beleidigern, eine Gemeinschaft bereitet ist.“ Nelson Mandela war bis zur Befreiung Südafrikas von der Apartheid ein solcher Mensch in der Revolte. Am 18. Juli dieses Jahres wurde er 95 Jahre alt.

 

Als Mandela nach seiner Schulbildung zum Jurastudium an das Fort-Hare-College in Alice im Ostkap ging, kam er erstmals in Kontakt mit den aufkeimenden Ideen des afrikanischen Nationalismus. Sein Studienkollege Oliver Tambo erinnert sich, dass Mandelas Empfindsamkeit durch tägliche Kränkungen und das arrogante Benehmen der Weißen herausgefordert wurde. Mandela engagierte sich im Studentenrat. Die Behörden versuchten dessen Befugnisse einzuschränken. Mandela und Tambo organisierten dagegen einen Vorlesungsboykott. Die Studentenführer wurden vom College geschmissen.

 

Zuhause befahl sein Onkel und Vormund, dem Boykott abzuschwören. Als er zudem eine traditionelle Hochzeit ansetzte, zu der Mandela nicht gefragt wurde, floh er nach Johannesburg. Seine frühe Biographin Mary Benson schreibt: Dass er sich dieser Stammeshochzeit widersetzte, „symbolisiert eine tiefere Weigerung; denn er hatte sich bewußt gemacht, dass er niemals als Häuptling über ein unterdrücktes Volk herrschen wollte.“

 

So kam er 1940 nach Johannesburg und lernte Aktivisten des ANC kennen. Die Bewegung war damals ein Klub ehrwürdiger Herren, der auf die Wirkung von Petitionen setzte. Mit anderen gründete Mandela die Jugendliga des ANC, ein Sammelbecken der Kritik an den überkommenen Formen der Politik. Der Ton wurde bestimmter: Es begann die Zeit des zivilen Ungehorsams. Streiks wurden organisiert, Demonstrationen, Verbrennungen des Dompas, des blöden Passes, ein Arbeitsreferenzbuch, das festlegte, wo sich der Betreffenden aufhalten durfte.

 

Das Regime reagiert brutal. Als Frauen ihre Pässe verbrannten, schoss die Polizei in die Menge; es gab 69 Tote. Das Massaker von Sharpeville vom 21. März 1960 gilt als ein Wendepunkt in der Geschichte Südafrikas.

 

Auch für Mandela und seine engsten Mitarbeiter. Sie bereiteten nun den bewaffneten Kampf vor und gründeten Umkhonto we Sizwe (MK). Die Führung flog zwar schon 1963 auf, doch MK konnte sich fangen und das Regime bis 1990 unter Druck setzen.

 

Ein Mensch in der Revolte – die Definition Camus‘ trifft auf Nelson Mandela zu. Auch unter einem anderen Aspekt. Mandela war in seiner politischen Zeit kein Revolutionär, den Camus übrigens aus kritischer Distanz sieht. Der Revolutionär will zuvorderst die Verhältnisse zum Tanzen bringen und die gesellschaftlichen Strukturen im Sinne von mehr Gerechtigkeit umstürzen. Er nimmt dafür auch – vom Anspruch her temporäre – Einschränkung der Rechte anderer, Andersdenkender in Kauf. Mandelas Projekt war die Gleichheit, weniger die Gerechtigkeit. Und so wurde von Anfang der neuen Republik Südafrika versäumt, die demokratische Transformation mit einer sozialen und wirtschaftlichen zu flankieren – die zweite Transformation einzuleiten, die auf dem letzten Parteitag des ANC im Dezember 2012 heftig diskutiert wurde.

 

Er verstünde nichts von Wirtschaft, sagte Mandela. Das hinderte ihn nicht, die neoliberale Politik, die sein Stellvertreter und späterer Nachfolger Thabo Mbeki durchsetzte, alternativlos“ zu nennen. Mandela hat nie Vorstellungen und Konzepte eines Sozialstaats entwickelt und protegiert, wie sie durchaus im ANC und bei seinen Allianzpartnern Anhänger hatten. Mbeki, dem Mandela die praktische und alltägliche Regierungsarbeit überließ, übernahm die Empfehlungen von Weltbank und Weltwährungsfonds, die in zahlreichen Workshops während der Übergangszeit die Weichen des neuen Südafrika zu stellen suchten. Die Wirtschaft sei der dominierende Faktor, nicht staatliches Handeln. Deck den Tisch für die Geladenen reichlich, dann bleibt nach der Mahlzeit auch für die Bediensteten. Mandela kannte den wüsten Appetit der Geladenen nicht.

 

Es gab weitere Versäumnisse, die das geringe Interesse Mandelas an die Alltagspolitik kennzeichnen. So gab es keine ernsthaften Anstrengungen, die sich bereits unter Mandelas Regierung überhandnehmende Korruption einzudämmen. Auch eine Politik, die dem großen Problem HIV die notwendige Aufmerksamkeit widmete, unterblieb in der Regierungszeit Mandelas, aber auch seiner Nachfolger.

 

In den Beziehungen zu seinen Nachfolgern wird noch ein anderer Zug Mandelas sichtbar. Seine Loyalität gegenüber Mitstreitern und der Bewegung. Er war sich klar, dass er ohne sie die Erfolge, die sich nach langem Widerstand zeigten, nicht erzielt hätte. Er hatte Loyalität in den Anfängen seiner aktiven Johannesburger Zeit erlebt, aber auch später und in der langen Gefangenschaft, die er ohne den Rückhalt im ANC wohl nicht so unbeugsam hätte durchstehen können.

 

Als seinen Nachfolger favorisierte Nelson Mandela den Gewerkschafts- und Verhandlungsführer in der Übergangsperiode, Cyril Ramaphosa. Doch der ANC bestand auf einen eigenen Mann, Thabo Mbeki. Mandela schluckte auch die ANC-Entscheidung, Mbeki Jacob Zuma zur Seite zu stellen. Als der 2009 als ANC-Kandidat zu den Wahlen antrat, gab Mandela ihm ungefragt Rückendeckung. Erinnert sei hier auch an die Szenen, die im Fernsehen übertragen wurden, wo Nelson Mandela dem Mordprozess gegen seine ehemalige Frau Winnie bis zum Ende beiwohnte. Sie war ihm in der Gefängnishaft eine große Stütze gewesen.

 

Nelson Mandela ist 95 Jahre alt geworden. Er ist heute ein alter, schwacher und schwerkranker Mann. In Erinnerung bleibt eine starke, geradlinige Persönlichkeit, die sich auch schwersten Herausforderungen nicht beugte.

Hein Möllers