IN SÜDAFRIKA WURDE AM 8. MAI GEWÄHLT. Dem regierenden ANC wurde bei diesen richtungweisenden Wahlen ein starker Einbruch vorausgesagt. Er konnte sich aber, wohl auch dank des Ramaphosa-Faktors, mit 57,5 Prozent behaupten.
Ein Aufenthalt in der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria in der zweiten Mai-Woche versprach erkenntnisreich und womöglich brisant zu werden. Es standen Parlamentswahlen an, in denen über die politische Führung des Landes und seiner neun Provinzen entschieden wurde. Im Vorfeld wurde viel von einer Richtungswahl geschrieben und gesprochen, auch Unruhen wurden nicht ausgeschlossen. Militante Proteste gehören zum Alltag in Südafrika, und politische Morde sind leider nicht selten. Meine Erwartung war, auf engagierte und konfliktträchtige politische Debatten zu stoßen.
Die politische Lage vor den Wahlen
Die Gründe für die Erwartung eines Wandels waren vielfältig. Bei den Kommunalwahlen 2016 war die auf nationaler Ebene seit 1994 regierende ANC-Liste, zu der auch die Kommunistische Partei (SACP) gehört, auf 55 Prozent abgestürzt. Die Konkurrenz der neoliberalen Demokratischen Allianz (DA) und der sich sozialistisch-revolutionär gebenden „Kämpfer für Wirtschaftliche Freiheit" (Economic Freedom Fighters, EFF) waren nicht nur gestärkt, sondern durch Tolerierung der EFF konnte die DA auch die drei Großstadtregionen Johannesburg, Tshwane (mit Pretoria) und Nelson Mandela Bay (mit Port Elisabeth) übernehmen.
Seitdem war die politische Landschaft weiter ins Rutschen geraten. Öffentliche Proteste gegen bekannt gewordene Korruption im großen Stil brachten zunächst die ANC-Bündnispartner der SACP und des Gewerkschafts-Dachverbandes Cosatu dazu, sich vom damaligen Präsidenten Jacob Zuma loszusagen. Dann entschied sich auch der ANC im Dezember 2017 mit denkbar knappen 51,9 Prozent für einen Führungswechsel zu Cyril Ramaphosa, der im Februar 2018 auch das Präsidentenamt Südafrikas übernahm. Jedoch wurde seine Korruptionsbekämpfung vom nach wie vor starken Zuma-Lager behindert, und ein grundlegender politischer Wandel gelang ihm nicht. All dies nährte die Vermutung, der ANC könnte erstmals seine Mehrheit verlieren.
Doch auch DA und EFF waren nicht frei von Skandalen. Die DA warf 2018 eine ihrer prominentesten Führungsfiguren, die damalige Bürgermeisterin von Kapstadt, Patricia de Lille, aus der Partei, nachdem diese offenbar Korruptions- und Verbrechensermittlungen gegen ihre eigene Person zu unterbinden versucht hatte. Schließlich wurden im November 2018 auch die EFF mit illegalen Geldflüssen in Verbindung gebracht.
Weitere Unberechenbarkeiten resultierten aus der Gesamtzahl von 48 Parteien, darunter auch prominente Vertreter wie die neue Partei „Good" von Patricia de Lille oder die marxistische SRWP (Socialist Revolutionary Workers Party) des charismatischen Gewerkschaftsführers Irvin Jim. Seine Metallarbeitergewerkschaft Numsa war im November 2014 aus dem Dachverband Cosatu ausgeschieden und hoffte zum politischen Profiteur sozialer Unzufriedenheit zu werden.
Doch insbesondere akute Probleme, die Südafrikas strukturelle soziale Schieflage verschärften, nährten die Erwartung einer Richtungsentscheidung bei den Wahlen. Nur zwei seien hier genannt:
Zum einen offenbarte der staatliche Energiekonzern Eskom nicht nur seine Beinahe-Zahlungsunfähigkeit – auch infolge von Verwicklungen in die Korruptionsaffäre Zumas – sondern auch seine Schwierigkeiten, die Elektrizitätsversorgung des Landes flächendeckend aufrecht zu erhalten. In den ersten Monaten des Jahres setzten wiederholte, euphemistisch als „Lastenabwurf" („load shedding") kaschierte Stromabschaltungen ganzer Stadtteile die Nerven der Bevölkerung einer Zerreißprobe aus. Der ökonomische Schaden war hoch. Das Bündel der Ursachen reichte von technologischem Zerfall über Fehlinvestitionen bis zu schlecht gemanagter Personalpolitik. Angesichts dessen war Ramaphosas Ankündigung, den Konzern aufzuspalten, nur eine symbolische Ankündigung, die unklar ließ, welche Änderungen das bewirken würde und – sicherlich nicht unberechtigte – Ängste vor Arbeitsplatzverlust bei vielen Beschäftigten schürte. (vgl. Ringo Raupach, „Es werde Licht" in afrika süd Nr. 2, 2019)
Zum anderen heizten Debatten über einen möglichen Verfassungszusatz, der eine entschädigungslose Landenteignung ermöglichen würde, die politische Stimmung an. In dieser Frage ist die politische Landschaft anders sortiert als auf strategischer Koalitionsebene: ANC und EFF befürworten eine solche Maßnahme, um die extrem ungleiche Verteilung privater Landwirtschaftsflächen zugunsten der weißen Minderheit ausgleichen zu können. Die DA positioniert sich dagegen als Verteidigerin der bestehenden Eigentumsordnung. Auffällig ist an dieser Debatte, dass sehr viel über politische Prinzipien gestritten wird, aber keine konkreten Zukunftspläne für die eine oder andere Entscheidung vorliegen.
Ähnliche Unklarheiten auf traditionellen Politikfeldern wie der Arbeitsmarktpolitik, der Frage von Kriminalität und ziviler Sicherheit oder der Sozialversorgung stützten im Vorfeld jene Kommentatoren, die einen politischen Erdrutsch für möglich hielten.
Ruhiger und skandalfreier Wahlverlauf
Ein Streik ausgerechnet der hauptamtlichen Wahlhelfer konnte am Vortag der landesweiten Wahlentscheidung durch eine Einigung zwischen der Wahlkommission und der Gewerkschaft Nehawu verhindert werden. Am Wahltag selbst sorgten nur vereinzelte Probleme wie verspätet geöffnete Wahllokale oder zu früh ausgehende Wahlzettel für Unruhe, die jedoch letztlich nicht in verhinderten Stimmabgaben mündeten. Gerüchte über doppelte Stimmabgaben verebbten schnell, da über vorherige Registrierung, die Vorlage gültiger Papiere und die Markierung des Daumens der Wähler mehrere Ebenen der Absicherung eingezogen waren.
Der Wahltag ist in Südafrika ein öffentlicher Feiertag – was freilich für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinesfalls bedeutet, dass sie arbeitsfrei haben. Diesbezüglich wäre am ehesten von Wahlverzerrung auszugehen, weil Berichte über Arbeitgeber auftauchten, die ihren Beschäftigten keine freie Zeit für den Wahlgang einräumten. Große Resonanz erhielten diese Berichte jedoch nicht. Nach Medienberichten störte nur lokaler Dauerregen die Stimmabgabe. Dieser insgesamt ruhige Eindruck bestätigte sich auch vor Ort in Pretoria.
Erstaunlicherweise spiegelte sich diese Ruhe jedoch auch in den Meinungsäußerungen einzelner Wähler. Eine junge Supermarktkassiererin, alleinerziehende Mutter dreier Schulkinder, sagte mir, sie würde den ANC wählen, weil er am ehesten die Macht besäße, soziale Veränderungen herbeizuführen. Außerdem hielt sie der Partei ihren Status als zentrale Repräsentantin der Befreiungsbewegung auch 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid noch zugute. Weniger überraschend war die letztgenannte Begründung bei einem älteren Pensionär, der im Staatsdienst gearbeitet hatte und lebhafte Erinnerungen an den Rassismus der Apartheidszeit hatte.
Am bezeichnendsten fand ich die Wahlbegründung eines jungen Straßenhändlers, dessen ganze Familie in die Produktion und den Verkauf selbst hergestellter Kleidung involviert ist. Die soziale Lage seiner Familie, die im Township Atteridgeville lebt, sei erträglich, aber stets prekär. Er habe die EFF gewählt, berichtete er mir. Zur Begründung führte er jedoch keineswegs die zentralen Parolen der Partei, wie etwa „Unsere Jobs, unser Land" an. Über das stets martialische Auftreten der EFF-Kämpfer mit ihren roten Barett-Mützen im Armee-Stil machte er sich sogar lustig. Jedoch hoffte er auf eine Schwächung des ANC zugunsten der EFF, die beide Parteien zu einer Koalition nötigen würde, in der die EFF den Druck der sozial Schwachen geltend machen und der ANC allzu radikale Ambitionen der EFF eindämmen würde.
Charakteristisch daran war, dass grundsätzliche strategische Überlegungen und die Zuordnung der eigenen Person zu relativ großen politischen Lagern entscheidend waren, während die konkreten politischen Ereignisse der jüngeren Vergangenheit keine große Rolle zu spielen schienen.
Das galt auch für den Fall einer an der Universität beschäftigten Nachwuchswissenschaftlerin aus der gehobenen Mittelschicht, die mir anvertraute, dass ihre Stimme für die DA durch die Hoffnung auf wirtschaftliche Belebung begründet war. Interessant war auch ein kurzes Streitgespräch zwischen einem ruandischen und einem ghanaischen Migranten, die sich als Straßenhändler durchschlagen und freilich nicht wählen durften: Während der eine ein Abflauen von ausländerfeindlichen Attacken erhoffte, sobald damit keine Wahlkampferfolge mehr zu erzielen seien, mutmaßte sein Freund, dass diese immer wieder aufflammen würden, so lange die wirtschaftliche Konkurrenz am Existenzminimum den Nährboden dafür böte.
In der medialen Berichterstattung dominierte während der langen Auszählungsphase zunächst das Auftreten der rechtsradikalen „Freedom Front Plus", die für die Wiederbelebung ethnischer Separation eintritt, und dies vor allem im Namen der christlichen, afrikaanssprechenden, konservativen Weißen, die ihr Hauptklientel bilden. Vom Konzept der Apartheid distanziert sich die Partei durch formale Hinweise auf die Anerkennung demokratischer Prinzipien – was durch die Forderung nach autonomer Eigenständigkeit aller Sprachgruppen und Wahlplakate mit der Parole „Schlagt zurück!" allerdings in Frage gestellt wird.
Nach dem Eintreffen erster Auszählungsergebnisse aus kleineren Wahlbezirken in ländlichen Regionen ergab sich ein vergleichsweise hohes Freiheitsfront-Zwischenergebnis, weil die Partei hier teilweise zweistellige Prozente einfuhr. Im Endergebnis reduzierte sich ihr Einfluss auf nicht einmal 415.000 von fast 17,5 Millionen gültigen Stimmen, oder 2,38 Prozent. Damit hatte sie ihr Ergebnis gegenüber 2014 zwar mehr als verdoppelt, aber verblieb dennoch im Bereich der Kleinparteien. Das hielt ihre Parteiführung jedoch nicht davon ab, sich als zentraler Profiteur der Debatte um entschädigungslose Landenteignung und als Verteidigerin der Realitäten des Kolonialismus aufzuspielen. Dass die Massenmedien dieses Spiel mitmachten, und DA und EFF auf kommunaler Ebene vor Kooperationen mit dieser Gruppierung nicht zurückschrecken, ist aus demokratischer Sicht betrüblich.
Zum zentralen Aufmerksamkeitsanker der öffentlichen Beobachtung entwickelte sich dann jedoch das Rennen um die Mehrheit in der bevölkerungsreichsten Provinz Gauteng. Dabei gingen die Kommentatoren jedoch nicht von der Hoffnung des jungen Bekleidungsverkäufers auf eine mögliche ANC-EFF-Koalition aus, sondern von der aktuellen Bündnislage in Johannesburg und Tshwane. Denn die Leitfrage war, ob der ANC eine 50-Prozent-Mehrheit erlangen würde oder eine Zusammenarbeit aller Oppositionsparteien einen Führungswechsel bewirken könnte. Mit 50,19 Prozent erreichte der ANC sein Ziel denkbar knapp – ein Verlust von über drei Prozent gegenüber 2014, jedoch eine Erholung gegenüber den Niederlagen der Kommunalwahlen von 2016.
WAHLEN IN SÜDAFRIKA 2019 | |||
Partei | Ergebnis % | Sitze | +/- |
African National Congress (ANC) | 57,50 | 230 | -4,65 |
Democratic Alliance (DA) | 20,77 | 84 | -1,46 |
Economic Freedom Fighters (EFF) | 10,79 | 44 | +4,44 |
Inkatha Freedom party (IFP) | 3,38 | 14 | +0,98 |
Vryheidsfront Plus (VF+) | 2,38 | 10 | +1,48 |
Sonstige | 5,18 | 18 | +0,92 |
Gesamt | 100 | 400 |
Das Wahlergebnis und einige Schlussfolgerungen
Ähnlich gemischt, aber insgesamt entspannt, fiel für den ANC die Bewertung des nationalen Gesamtergebnisses aus. Er erhielt 57,5 Prozent und verlor über vier Prozent. Das waren fast 1,5 Millionen Wählerstimmen weniger bei einem gleichzeitigen Anstieg der registrierten Wähler um beinahe 1,4 Millionen. Im Wahlkampf dominierte Präsident Cyril Ramaphoasa, der öffentlich versprochen hatte, keine durch die Korruptionsaffäre belastete Person in sein Kabinett aufzunehmen. Damit hatte er auf die Zweifel reagiert, ob er die nötige Autorität zur Entfilzung des ANC aufbringen könne. Andere Personen oder Themen tauchten in der Endphase des ANC-Wahlkampfes nicht auf, und dies schien sich am Wahltag auszuzahlen. Der amtierende Präsident als moralischer Saubermann und Garant einer abstrakt bleibenden, besseren Zukunft durch Wirtschaftswachstum – das reichte für einen weiteren, letztlich ungefährdeten Sieg des ANC.
Demgegenüber überraschte, dass die Demokratische Allianz stärker unter den Auswirkungen ihrer Skandale litt und über 470.000 Wählerstimmen verlor, womit ihr Anteil von 22,2 auf 20,8 absackte. Glimpflich verlief die Wahl insofern, als sie ihre absolute Mehrheit in der Provinz Western Cape mit 52,4 gegenüber vormaligen 57,3 Prozent halten konnte. In den Provinzen Mpumalanga und KwaZulu-Natal verlor sie die Rolle als Oppositionsführerin gegenüber dem erneut siegreichen ANC.
In Mpumalanga übernahmen die EFF diese Rolle, die sich landesweit bei 10,8 Prozent endgültig etablieren konnten, allerdings weit entfernt von der politischen Macht. Ihr Wahlkampf war von populistischen Parolen dominiert, die keineswegs immer links klangen, wenn beispielsweise Parteichef Malema als „Sohn dieses Landes" („Son of the soil") präsentiert wurde. Im politischen Wettbewerb mit anderen südafrikanischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern kann diese Parole nur als exklusiver Alleinvertretungsanspruch verstanden werden, der weder emanzipatorisch noch demokratietauglich ist.
Die auf Eigenständigkeit der Zulu fixierte Inkatha Freedom Party konnte sich auf 3,4 Prozent und 14 Abgeordnete im Nationalparlament steigern und wurde zur zweitstärksten Kraft in ihrer Heimatprovinz KwaZulu-Natal. Die bereits erwähnte Freiheitsfront wird nun 10 nationale Abgeordnete stellen. Insgesamt 18 weitere Abgeordnete werden von neun kleinen Parteien entsandt, die allesamt weniger als ein Prozent der Stimmen erhielten. 34 Parteien scheiterten, obwohl landesweite 30.000 Stimmen für einen Parlamentssitz ausgereicht hätten – darunter die marxistische SRWP und die noch 2014 als aufsteigende Kraft gehandelte Partei Agang.
Eine Konsequenz der Wahlen zeigte sich bereits am Folgetag, sobald keine Zweifel am Sieg des ANC mehr bestanden: Die Wertpapierkurse an den Finanzmärkten und die Landeswährung stabilisierten sich. Die wirtschaftlichen Eliten, deren Hauptinteressen nur bedingt innerhalb Südafrikas beheimatet sind, honorierten somit das Votum für politische Ruhe und Beständigkeit.
In den politischen Kommentaren überwog die Einschätzung, dass Ramaphosa nun Rückenwind für eine konsequente Korruptionsbekämpfung habe und das Zuma-Lager endgültig diskreditiert sei. Dies stützte sich auf besonders schwache Wahlergebnisse der Kandidaten seines Lagers. Die Bearbeitung der politischen, ökonomischen und sozialen Probleme der südafrikanischen Bevölkerung wurde jedoch mit diesem Wahlergebnis in eine weitere Warteschleife geschickt, denn mit Korruptionsbekämpfung allein wird ihnen nicht beizukommen sein.
Jürgen Schraten
Der Autor ist Professor für Soziologie am Institut für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen