DEUTSCHER KOLONIALISMUS AUS DER PERSPEKTIVE DER AFD. Mit einem im Dezember 2019 eingereichten Antrag ihrer Bundestagsfraktion biegt sich die AfD die Geschichte zurecht und die Rolle der deutschen Kolonialherren in Afrika mit allen Mitteln ins Positive. Der Genozid in Deutsch-Südwestafrika kommt nicht mehr vor.
Die AfD-Fraktion im Bundestag hat im Dezember 2019 einen Antrag eingereicht mit dem Titel „Die deutsche Kolonialzeit kulturpolitisch differenziert aufarbeiten". Die in ihm geforderte Aufarbeitung soll vor allem „die gewinnbringenden Errungenschaften" der deutschen Kolonialzeit herausstellen. Des weiteren soll der Bundestag zwar anerkennen, dass es im Rahmen des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika 1904-1908 gegen die Herero und Nama zwar „unverhältnismäßige Härten und Grausamkeiten" gegeben habe, von einem „Völkermord" könne jedoch „keine Rede sein".
Was sagt die Geschichtswissenschaft dazu?
Dies weckt zunächst einmal literarische Assoziationen zu Erich Frieds Gedicht „Aufhellung dunkler Punkte", in dem der Autor – als Reaktion auf die Freisprüche der Täter von My Lai in Vietnam, des Blutigen Sonntags in Nordirland und der Erschießung von Georg von Rauch – sich ausmalt, was das Resultat gewesen wäre, hätte man „nach 1945 die Klärung/ der Vorkommnisse bei der Judenumsiedlung in Auschwitz/ der SS überlassen": „Vereinzelte Härten/ hätten sich zwar da und dort gefunden/ doch im Ganzen nur Pflichterfüllung/ und nirgends ein Blutbad".
Doch Literatur beiseite, was sagt die Geschichtswissenschaft dazu? Die Historiker und Historikerinnen, einschließlich der vom AfD-Antrag irreführenderweise als Kronzeuginnen präsentierten Christiane Bürger und Susanne Kuß, sind sich einig, dass der Vernichtungsbefehl des Generalleutnants Lothar von Trotha („Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen") und die ihn umsetzende Kriegsführung den Tatbestand des Genozids erfüllen. Das heißt sie waren darauf gerichtet, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Trotha schrieb an den Generalstabschef: „Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss". Eine recht eindeutige Beweislage, sollte man meinen.
Die AfD konstruiert eine Kontroverse
Nicht so für die AfD: Diese betrachtet, gestützt auf einen „Spiegel"-Journalisten, der einen deutschstämmigen Hobby-Historiker aus Namibia interviewt hat, sowie auf eine in Namibia ansässige deutsche Archivarin, die von übertriebenen Opferzahlen und wenig effektiver Verfolgung der Herero durch die deutschen Truppen ausgeht, den „Vorwurf" des Genozids als Produkt marxistisch-leninistischer DDR-Historiographie, das von westdeutschen Linken unkritisch übernommen worden sei. Ansonsten konstruiert der Antrag aus der Kontroverse über die Kontinuitäten zwischen dem kolonialen Genozid und dem Holocaust, dass es unter Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen eine Kontroverse über die Frage des Genozids gäbe. Dies trifft nicht zu.
Die angeblichen „gewinnbringenden Seiten" des deutschen Kolonialismus werden im Antrag wie folgt untermauert: er habe dazu beigetragen, Afrika „aus archaischen Strukturen zu lösen"; eine „signifikante Verbesserung der Lebensbedingungen" bewirkt und die Infrastruktur wie Eisenbahnverbindungen gezielt ausgebaut; und schließlich habe er geholfen, „die Geschichte und Identität afrikanischer Völker zu bewahren". Mit der Herauslösung aus „archaischen Strukturen" zitiert die AfD den Afrikabeauftragten des BMZ Günter Nooke (CDU), aber auch gleichzeitig das Klischee eines rückständigen und gewaltvollen vorkolonialen Zustands aller afrikanischen Gesellschaften, die durch den Kolonialismus angeblich „zivilisiert" und „entwickelt" worden seien – den Legitimationsmythos europäischer Gewaltherrschaft in anderen Kontinenten schlechthin.
Beweisen soll diese Herauslösung ein Zitat von einem Historiker, das behauptet, der europäische Kolonialismus habe in Afrika „gewaltsame Versklavungsprozesse", „blutigste Gewalt" und „Völkermorde" beendet. Der Autor Egon Flaig ist allerdings keinesfalls ausgewiesener Experte für den europäischen Kolonialismus, nicht einmal für neuzeitliche Geschichte, sondern hat zu altgriechischer Kulturgeschichte und römischen Kaisern geforscht – dafür steht er der AfD nahe und wettert gegen den Islam. Eine wissenschaftliche Rezension des Buches, aus dem das Zitat stammt, kritisiert, es gebe ungeachtet historischer Fakten schlicht „die ideologische Rechtfertigung der europäischen Eroberungskriege durch die europäischen Kolonialmächte" wieder und bezeichnet es als „elementaren Anforderungen an wissenschaftliche Texte nicht genügend".
Wie sah es nun in den deutschen Kolonien aus im Hinblick auf die angebliche Herauslösung aus archaischen Strukturen? Die offizielle Abschaffung der Sklaverei ging einher mit der Einführung anderer Formen der Zwangsarbeit durch die deutsche Kolonialherrschaft. In Deutsch-Kamerun zum Beispiel ließ der stellvertretende Gouverneur Heinrich Leist aus der Sklaverei freigekaufte Afrikaner für sich arbeiten. Als sie Lohn einforderten, ließ er ihre Frauen auspeitschen.
Historische Forschung widerspricht Thesen der AfD
Die von der AfD behauptete Verbesserung von Lebensverhältnissen wird als Folge der Reform der Kolonialpolitik unter Staatssekretär Dernburg reklamiert, jedoch in keiner Weise belegt. Auch hier widerspricht die historische Forschung. Zwar schaffte Dernburg die Hüttensteuer ab und schränkte die Prügelstrafe ein, doch Mischehen blieben verboten, Landraub und Arbeitszwang bestanden weiterhin und die deutsche Kolonialpolitik blieb auf die maximale Ausbeutung der einheimischen Arbeitskräfte ausgerichtet.
Eine historische Dissertation zu Dernburgs Reformen kommt entgegen der Propaganda zu dem eindeutigen Schluss: „In der ‚Ära Dernburg' ist es definitiv nicht zu einer grundlegenden Verbesserung der Lebenssituation der Afrikaner in den deutschen Kolonien gekommen. Im Gegenteil, die Dernburgsche Reformpolitik hat vielmehr den Verelendungsprozess der indigenen Bevölkerung beschleunigt." Zum Ausbau der Infrastruktur in Form der Eisenbahn ist zu sagen, dass sie durch Zwangsarbeit der Afrikaner selbst erfolgte und sie dem Zweck der effektiveren Ressourcenausbeutung der Kolonien diente sowie dem Transport von Truppen an die Front oder von Kriegsgefangenen in die Konzentrationslager – zum Beispiel im Rahmen des Völkermords in Deutsch-Südwestafrika. Wie dies zu den „gewinnbringenden Seiten" für die Kolonisierten zu zählen ist, bleibt unklar.
Zutiefst koloniale Annahmen der AfD
Den Beitrag des deutschen Kolonialismus zur Bewahrung der Geschichte und Identität afrikanischer Völker sehen die Verfasser des Antrags in der „jahrzehntelangen anthropologischen Museumsarbeit". Dementsprechend seien „Forderungen nach Restitution von Kulturgütern aus kolonialem Kontext ... in aller Form zurückzuweisen". Mit anderen Worten: Wir Deutschen haben Eure Identität und Geschichte bewahrt, liebe Afrikaner, indem wir uns im Rahmen der Kolonialherrschaft Eurer Kulturgüter bemächtigt haben. Die implizite Annahme, dass afrikanische Menschen nicht zur Bewahrung ihrer eigenen Identität und Geschichte fähig gewesen wären, die den Raub hier nicht nur legitimiert, sondern adelt, offenbart zutiefst koloniale Annahmen von Höher- und Minderwertigkeit.
Der Antrag der AfD wendet sich explizit gegen die „undifferenzierte und unhaltbare Klassifizierung der gesamten Kolonialzeit als ‚verbrecherisch'" und kritisiert, dass die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte in einem Atemzug mit der von „NS-Terrorherrschaft" und „SED-Diktatur" genannt wird. Maßgeblich verantwortlich seien hierfür die „kulturmarxistisch inspirierten" und „ideologiegetriebenen" post- und dekolonialen Studien. Diesen – die gegenwärtigen Nachwirkungen des Kolonialismus untersuchenden und auf ihre Überwindung abzielenden interdisziplinären Forschungsrichtungen – würde es „nicht mehr um realhistorische Fakten" gehen, sie würden das Prinzip der Meinungsfreiheit „unterminieren", ihre Methoden seien eine Form von „intellektuellem Terror" und ihnen gegenüber müssten die „elementaren Kriterien der Wissenschaftlichkeit angemahnt" werden.
Das Weltbild der Urheber und Urheberinnen des Antrags erschreckt
Eine differenzierte Betrachtung des deutschen Kolonialismus auf der Grundlage realhistorischer Fakten ist uneingeschränkt begrüßenswert. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass der Antrag der AfD trotz 74 Fußnoten diesem Anspruch und vor allem den elementaren Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht gerecht wird. Keines seiner Argumente ist stichhaltig. Er ist geleitet vom politischen Willen, positive Seiten des deutschen Kolonialismus hervorzuheben – mit allen Mitteln, auch unter Verbiegung und Missachtung historischer Fakten. Aber selbst wenn solche Seiten zu finden wären: Würden sie die Massaker und Grausamkeiten aufwiegen? Würden sie ein undemokratisches politisches System rechtfertigen, das Menschen nach Hautfarbe und Abstammung in Höher- und Minderwertige einteilt? Oder es im 21. Jahrhundert als positiven Bezugspunkt und als „nicht verbrecherisch" erscheinen lassen? Wer kann so etwas wollen?
Dass der Antrag rassistisch begründete Herrschaft Weißer über andere zu rehabilitieren versucht, wirft ein erschreckendes Licht auf das Weltbild seiner Urheber und Urheberinnen. Aber auch ein erhellendes. Wenn wir die Aufarbeitung der deutschen Geschichte der AfD überlassen, finden sich dort zwar Härten, aber nirgends ein Völkermord – allenfalls ein als „Vogelschiss" verharmloster Holocaust. Und keinerlei Kritik an der Herrenmenschenideologie, die Grundlage des Kolonialismus wie auch des Nationalsozialismus ist. Treten wir dieser Sichtweise entgegen.
Aram Ziai
Der Autor ist Professor für Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel.
Sein Beitrag erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau vom 20.2.2020