Heft 3/2021, Südafrika: Covid-19

Schwierige Abwägungen

ZUR IMPFKAMPGNE UND AUSWAHL AN IMPFSTOFFEN IN SÜDAFRIKA. Die Welt ist pandemiemüde, Lockdown-Maßnahmen sind auch in Südafrika nur schwer und mit hohen sozio-ökonomischen Kollateralschäden aufrechtzuerhalten. Viele Krankenhäuser arbeiten zeitweise am Limit und darüber hinaus. Hoffnungen ruhen wie überall auf den Impfstoffen. Ausgerechnet in dieser Situation wird hier das Impfprogramm wegen Zweifeln an Impfstoffen zweimal unterbrochen. Hinzu kommt die globale Ungleichverteilung zu deren Zugang. Unterdessen hat in Südafrika die zweite Impfphase begonnen.

Mit mehr als 1,5 Millionen registrierten Infektionen und rund 54.000 Toten Anfang Mai hat Südafrika auf dem afrikanischen Kontinent mit Abstand die höchsten Infektionszahlen zu verzeichnen. Auf dem Höhepunkt Anfang Januar lag die Anzahl an Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden bei rund 20.000. Durch den hohen Anstieg an Patient*innen bei gleichzeitigen Personalausfällen und Mangel an Intensivbetten, Beatmungsgeräten und Schutzausrüstungen waren die Engpässe an überlasteten Kliniken bis in den Februar dramatisch. Hinzu kommt, dass nach Angaben des südafrikanischen Gesundheitsministers Zweli Mkhize zu der Zeit bereits 90 Prozent der Neuinfektionen auf die im November 2020 in Südafrika entdeckte Virusvariante B.1.351, dort auch N501Y.V2 genannt, zurückzuführen sind. Denn wie bei anderen im öffentlichen Interesse stehenden Varianten – die britische und brasilianische – hat sie eine Veränderung an der Stelle 501 im Spike Protein und breitet sich durch die höhere Übertragbarkeit sehr viel schneller aus. Durch zusätzliche Anpassungsveränderungen an weiteren Positionen (E484K, K417N) kann sie als Immun-Escape-Variante zudem der Immunantwort besser ausweichen.

Mitte Januar endlich sanken die Neuinfektionen pro Tag in Südafrika deutlich. Anfang Februar wurde wieder ein Wert unter 5.000 erreicht, seit Ende Februar hat er sich um die 1.200 eingependelt. Mit der signifikanten Abnahme der Infektionszahlen wurden die Maßnahmen wieder etwas gelockert und allmählich auch der Druck auf den Krankenhäusern weniger.

Das Impfprogramm
Gleichzeitig waren die Vorbereitungen für die ersten Impfungen angelaufen. Ziel der Regierung ist es, bis Ende 2021 rund 40 Millionen Menschen und damit gut 65 Prozent der Bevölkerung zu impfen, um einer möglichst flächendeckenden Immunität nahe zu kommen. Dazu wurde eine nationale Prioritätenliste mit drei Phasen und landesweit über 2.000 Impfstellen aufgestellt, die von medizinischer Infrastruktur über Einzelhandelsgeschäfte bis zu Stadien reichen. Doch kurz vor dem Start der Impfkampagne beschloss die südafrikanische Regierung am 7. Februar die bereits aus Indien beschafften eine Millionen Dosen des Oxford/AstraZeneca-Impfstoffes (AZ) wegen der deutlich reduzierten Wirkung gegen die neue Virusvariante nicht zu verimpfen. Alternativ wurde daraufhin kurzerhand der noch nicht offiziell zugelassene Impfstoff des Herstellers Johnson & Johnson (J&J) zunächst im Rahmen einer klinischen Phase IIIb-Umsetzungsstudie mit ersten 80.000 Dosen eingeführt (Sisonke Protocol).

Im zweiten Impfanlauf konnte so die Phase eins mit Fokus auf die 1,25 Millionen besonders exponierten Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen erst am 17. Februar starten. Parallel kann sich seit dem 16. April jede*r im elektronischen Impfdatensystem (EVDS) für einen Impftermin registrieren. Basierend auf dem Alter und Risikokriterien wird dann automatisch in der virtuellen Warteschlange die zum Wohnort nächstgelegene Impfstelle zugewiesen. In Phase zwei werden seit dem 17. Mai essenzielle Arbeitskräfte, Personen zunächst ab 60 Jahren und Personen mit Vorerkrankungen über 18 einbezogen, ab Juli dann auch über 40-Jährige, insgesamt weitere ca. 16,5 Millionen Personen. Die letzte Phase drei soll ab Anfang November dann offen sein für die verbleibenden 22,5 Millionen Personen der erwachsenen Bevölkerung über 18 Jahren. Dafür wurden für dieses Jahr insgesamt 61 Millionen Dosen gesichert, davon 31 Millionen des Einmalimpfstoffs von J&J und 30 Millionen von BioNTech/Pfizer (BNT), von dem jeweils zwei Dosen benötigt werden. Darüber hinaus würden Verhandlungen mit Herstellern von anderen Impfstoffen wie dem chinesischen CoronaVac und dem russischen Sputnik V über weitere 10 Millionen Dosen geführt.

Neben bilateralen Verträgen mit Herstellern bezieht Südafrika Impfstoffe über ein Programm der Afrikanischen Union (AU) sowie über das eher karitative Covax-Programm der WHO, wobei letztere weiter ausstehend sind. Ob die Impfgeschwindigkeit ausreichen wird, wird sich zeigen. Bis Mitte Mai waren rund 440.000 der geplanten 500.000 Personen geimpft. Mit einer Quote
von 0,7 Impfdosen pro 100 Personen liegt Südafrika noch hinter dem afrikanischen Durchschnitt von 1,6 Impfdosen.. Neben Verzögerungen im Impfablauf sind auch die auf ein Drittel der Bevölkerung geschätzten Impfskeptiker eine Herausforderung auf dem Weg zum Impfziel.

Nach der Entschiedenheit bei der Einführung von schnellen, strengen und für u.a. informelle Arbeiter*innen sehr harten Phasen des Lockdowns ist die südafrikanische Politik beim Impfstoffeinsatz von Abwägungsprozessen zwischen Verfügbarkeiten und Praktikabilität einerseits und möglichem Schutz und Risiken andererseits gekennzeichnet. Es ist eine Entscheidungsfindung auch mit Unbekannten ob der Virusmutation und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Risiko-Nutzen-Profile
Eine Studie der Johannesburger Witwatersrand-Universität an 2.000 Erwachsenen unter Widerspiegelung der südafrikanischen Demographie zeigte gegenüber der nun vorherrschenden deutlich ansteckenderen Virusvariante B.1.351 für das AZ-Vakzin eine Wirksamkeit von weniger als 50 Prozent, in Bezug auf milde Verläufe sogar nur noch von rund 20 Prozent. Junge gesunde Menschen hätten demnach keinen Nutzen davon. Kritiker des Impfstopps verwiesen darauf, dass es sich um eine kleine Studie handelte und oberste Priorität die Verhinderung von schweren Krankheitsverläufen, Hospitalisierungen und dem Versterben durch Covid-19 sei. Darauf war aber die Studie nicht angelegt, so die Virologin Penny Moore. Ein verfügbarer Impfstoff, der einfach zu produzieren, preiswert und durch die Lagerfähigkeit bei Kühlschranktemperatur logistisch praktikabel ist, sollte nicht leichtfertig verworfen werden. Ohne die richtigen Informationen zu haben, sei es jedoch sehr schwierig, eine angemessene Entscheidung bezüglich eines gezielten Einsatzes bei Risikogruppen zu treffen.

Dann erhärteten sich in verschiedenen Ländern Meldungen von extrem seltenen, aber sehr schweren Fällen von Hirnvenenthrombosen (Verklumpung) in Kombination mit einer gleichzeitigen Blutungsneigung (Thrombopenie), zunächst beim AZ-Vakzin und kurz darauf auch bei J&J, beides Vektorimpfstoffe. Knapp zwei Monate nach dem verspäteten Impfstart folgte daher am 14. April auf Grundlage einer Stellungnahme der South African Health Products Regulatory Authority (SAHPRA) eine Unterbrechung der Studienphase. Unter der Voraussetzung einer entsprechenden Aufklärung und besonderen Beobachtung von Teilnehmer*innen mit einem Risiko für Blutgerinnungsstörung konnten die Impfungen schließlich am 28. April fortgeführt werden.

Unumstritten ist die Wichtigkeit, bei der Identifizierung von seltenen Nebenwirkungen wachsam zu sein. Der Umgang damit allerdings nicht. Die Pausierung bei der Einführung des J&J-Impfstoffs zeige, dass die Überwachung der Impfstoffsicherheit sehr gut funktioniere, meint die Pharmazeutin und Vakzinologin Hannelie Meyer. Meldungen zu Nebenwirkungen nach einer Immunisierung seien schon immer Teil des Monitoringverfahrens von Impfprogrammen, die dann genauer untersucht werden und auch mit kontinentalen und globalen Daten zusammengeführt werden.

Das relative Risiko sei zwar gering, aber nicht unbedeutend und daher ein vorbeugendes Vorgehen geboten, hebt der Allgemeinmediziner Dr. Strike Stevens Mabasa hervor. Kritische Stimmen wie der leitende Vakzinologe Prof. Shabir Madhi betonen jedoch, dass die Reaktion darauf gleichzeitig im Verhältnis zum Risiko- und Nutzenprofil auf individueller und gesellschaftlicher Ebene abgewogen werden müsse. Dies gilt insbesondere für Ältere, Menschen mit Vorerkrankungen und besonders gefährdete Berufsgruppen wie medizinischem Personal und Pflegekräfte. Das Risiko für solche seltenen Blutgerinnsel sei zudem bei einer Coronainfektion um ein Vielfaches höher als durch die Impfung. Und ein überfordertes Gesundheitssystem erhöht nicht nur die Todesrate, sondern beeinträchtigt zeitweise auch die allgemeine Gesundheits- und Impfversorgung mit daraus resultierenden Langzeitfolgen.

Zudem ist Südafrika in einer anderen Lage als die USA oder einige europäische Länder, die parallel auf BNT und Moderna (M) zugreifen können und bislang keine wesentlichen Probleme mit Escape-Varianten haben. Reiche Länder hatten sich frühzeitig den Großteil der verfügbaren Impfstoffe sichern können, während rund 85 Prozent der Weltbevölkerung warten müssen oder mit Resten abgespeist werden. In Südafrika ist man auf den J&J-Impfstoff angewiesen. Ersten Studien zufolge bietet er ausreichenden Schutz gegen die B.1.351-Variante. Die Wirksamkeit wird dabei mit bis zu 85 Prozent gegen schwere und knapp 60 Prozent gegen milde und mittlere Erkrankungen angegeben. Ebenso wie das AZ-Vakzin lässt er sich bei Kühlschranktemperatur lagern und so auch bis in abgelegene Gebiete einsetzen – anders als die neuartigen mRNA-Impfstoffe, die bei minus 20°C (M) und sogar minus 70°C (BNT) gelagert werden müssen, um haltbar zu bleiben. All die Kriterien wie Sicherheit, Wirksamkeit, Anwenderfreundlichkeit, Lagerung, Verteilung und Kosten müssen bei der Impfstoffauswahl und Einsatzfähigkeit berücksichtigt werden.

Schwung in der Forschung nutzen
Im Hinblick auf eine wahrscheinliche dritte Welle, die Modellierungen des Forscherkonsortiums SACMC anzeigen, muss außerdem die Ausbreitung des Virus so weit und lange wie möglich eingeschränkt werden, bis eine annähernd bevölkerungsweite Grundimmunität vorliegt. Bis dahin bleiben die nicht-pharmazeutischen Maßnahmen wie Masken tragen, Social Distancing, Lüften und die Vermeidung von Menschenmengen und damit das individuelle Verhalten weiterhin Schlüsselelemente, um das gesellschaftliche Leben soweit es geht offen zu halten. Denn sobald ein gewisser Anteil an Immunität in der Bevölkerung da ist, gibt es eine Tendenz zu Escape-Varianten, insbesondere wenn die Fallzahlen dann nicht niedrig sind und sich das Virus stark ausbreitet. In Südafrika ist genau das bereits passiert, als die erste Welle durch bestimmte Gebiete lief und so 30 Prozent der Bevölkerung eine natürliche Infektion durchgemacht haben. Damit sich das Virus dort nun weiterverbreiten konnte, musste es sich anpassen, um der Schutzwirkung der Antikörper auszuweichen, erklärt Prof. Madhi. Dieser Mechanismus gilt sowohl bei der natürlichen Infektion als auch bezogen auf die Impfung.

Gleichzeitig zeichnet sich beim SARS-CoV-2 eine konvergente Evolution ab. Das heißt, dass bei dem weiter wachsenden und stark verästelten Virusstammbaum weltweit unabhängig voneinander immer wieder die gleichen Optimierungen an bestimmten Stellen des Virus (501, 484, 417) entstehen, was hoffen lässt, dass das Virus in seiner Weiterentwicklung relativ beschränkt ist und sich mit der Zeit stabilisiert. Seine Mutationsrate ist zudem geringer als bei dem Influenza-Virus. Die zweite Generation von Impfstoffen könnte dann mit geringem Aufwand die meisten Escape-Varianten erfassen, aktuell zunächst als Prototyp zum Beispiel auf Basis der brasilianischen-P1-Variante, um zu sehen, wie das Virus dann reagiert. Denn diese vereint alle Haupteigenschaften der aktuell zirkulierenden Varianten auf sich. Gleichzeitig würde die Impfstoffentwicklung über das Spike-Protein auch auf das weniger veränderliche N-Protein ausgerichtet. Darüber hinaus sei die Forschung an einer mukosalen Impfung (über die Schleimhäute) sehr interessant, um nicht nur die Krankheit, sondern auch die Infektion zu verhindern.

Die Virologin Moore hebt hervor, wie viele Entdeckungen, Veröffentlichungen und Kooperationen rund um SARS-CoV-2 in der relativ kurzen Zeit existieren. Und es gibt ja nicht nur das Coronavirus. Andere Erreger wie Malaria, HIV und TB müssten jetzt dieselbe Aufmerksamkeit bekommen. Daran müsse genauso schnell gearbeitet werden, einschließlich der Prävention neuer Erreger, die auf uns zukommen. Dabei sollten in der modernen Forschung auch traditionelle Ansätze mit berücksichtigt werden. Wichtig sind auch strukturelle Veränderungen im Sinne einer Gesundheits-Ownership, die die Abhängigkeiten der Länder des globalen Südens von globalen Machtstrukturen beendet, Gesundheit als Menschenrecht begreift und diesbezügliche Technologien als Gemeingut.

Anna Balkenhol