Heft 3/2022, afrika süd-dossier: Sprachen- und Bildungspolitik

Die University of Robben Island

EINE BILDUNGSINSTITUTION AN EINEM UNGEWÖHNLICHEN ORT SÜDAFRIKAS

Von Barbara Letschert

Sind Schulen und Universitäten bekannte Einrichtungen der Alphabetisierung und Wissensvermittlung, so geht es hier um einen außergewöhnlichen Ort der Bildung und Machtausübung zugleich: Robben Island. Während der Zeit des Apartheidregimes diente diese Insel, ca. sieben nautische Meilen vor Kapstadt gelegen, als Gefängnis für politische Gefangene. Die Insel sollte als besonders angsteinflößendes Symbol des mächtigen Apartheidsystems wirken. Diejenigen, die es wagten, sich dagegen aufzulehnen, sollten dort isoliert und durch menschenunwürdige Behandlung, wie z. B. Nahrungsentzug, Zwangsarbeit und Prügelstrafen, demoralisiert werden. Bekannte Größen des ANC wie Nelson Mandela und Walter Sisulu haben dort ihre jahrzehntelange Haft verbracht.

Weniger bekannt, aber ein bedeutender Visionär einer polyglotten afrikanischen Bevölkerung, findet sich in der Person Neville Alexanders. Von 1964-1974 saß auch er im selben Zellenblock wie die zuvor genannten. Bereits zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war ihm die Bedeutung von Sprache als Kulturträger in einer pluralistischen Gesellschaft bewusst. Basierend auf der dort unter Häftlingen üblichen Haltung, alles miteinander zu teilen – nicht nur Nahrung, Decken und Kleidung –, entstand die Idee, auch Wissen weiterzugeben. Nicht jeder wollte sich auf akademischem Niveau mit Sprache und Literatur auseinandersetzen. Aber diejenigen, die nicht lesen und schreiben konnten, hatten den Wunsch, zumindest die Briefe ihrer Angehörigen lesen und ihren eigenen Namen schreiben zu können.

Each one teach one

Neville Alexander hatte bereits Erfahrungen in der Erwachsenenbildung gesammelt und konnte diese nun einbringen. Each one teach one, mit diesem Mantra gelang es zügig, zunächst einen jeden in seiner Sprache wie z. B. Xhosa oder Zulu zu alphabetisieren. Viele gingen weiter und lernten sofort Englisch. Ein Mathematiker wie Andrew Masondo unterrichtete in Mathematik, ein weiterer Insasse, wie z.B. Leslie van der Heyden, Englisch. Darüber hinaus gelang es, politische, historische und philosophische Themen aufzubereiten. Überraschenderweise hatte die Gefängnisleitung keine Einwände gegen den Unterricht. Beruhigend war für sie vielleicht die Aussage, dass die meisten der Insassen die Bibel lesen wollten.

Robben Island als monströse Ordnung des gnadenlosen Apartheidsystems war auch ein Ort der sprachlichen Gewaltausübung. Wie alle jemals dort Inhaftierten berichten, bestand eine entwürdigende Methode des Regimes darin, Gefangene nach vier Kategorien zu klassifizieren: A, B, C oder D. Verbunden damit war der Erhalt von Privilegien. Alle politisch Gefangenen fielen automatisch der Kategorie D zu und erhielten keine Vergünstigungen. Im Gegenteil: So war es den in den großen Gemeinschaftszellen untergebrachten Inhaftierten verboten, den Nominativ Plural zu verwenden. Grundsätzlich diente dieses Kommunikationsverbot der Isolierung. Vorgebrachte Beschwerden sollten so in ihrer Brisanz und Wertigkeit geschmälert werden. Wie überliefert, hielten sich die Gefangenen als eine Form des Widerstandes nicht an diese Vorschrift.

Die Entscheidung darüber, welche Sprache in dem Gefängnis des Apartheidregimes gesprochen wurde, war ein machtpolitisches Instrument. Afrikaans, als die Sprache der Buren, scheint im Vokabular rassistisch durchsetzt. Signifikant erscheint hier die von den Wärtern geforderte Anredeform. Jeder Wärter sollte mit‚ „Baas" (Herr, Meister) angesprochen werden. Neville Alexander bescheinigte den Wärtern, insbesondere während seiner ersten drei Jahre auf Robben Island, „absolute Grobheit" und „Barbarei" im sprachlichen Umgang auf Afrikaans mit den Gefangenen. Die Sprachen der Insassen im Gegensatz bezeichneten die Wärter als „Kafferkak" (Kafferscheiße).

Wie Sprachcodes durch die Verwendung spezifischer Wörter zu Waffen wurden, illustriert folgendes Beispiel: Außerhalb des Gefängniskontextes wurde üblicherweise zum Antreiben von Vieh, die Formulierung „Gaan aan" verwendet, im Unterschied zur Beschleunigung menschlicher Aktivitäten: „Kom aan!" Die Häftlinge auf Robben Island wurden jedoch überwiegend mit dem Ruf für Ochsen zur schnelleren Arbeit aufgefordert.

Die gemeinsame Inhaftierung von politischen Gefangenen unterschiedlicher Strömung intendierte ursprünglich, den Widerstand aufzureiben. Stattdessen aber schaffte der Austausch unter ihnen sowie das Erlernen verschiedener Sprachen einen einigenden Effekt. So zum Beispiel war es möglich, in generellen Diskussionen auf die Fragen nach nationaler Einheit und Nationenbildung einzugehen. Von strategischer Bedeutung war es darüber hinaus, einige der jungen Wärter ebenfalls zu unterrichten. Zur Kompensation ihrer zweijährigen Pflichtzeit bei der südafrikanischen Armee dienten sie vier Jahre im Gefängnis. Auf Robben Island waren daher auch sie isoliert und frustriert. Einige der Wärter schrieben sich für Fernstudien ein und erbaten Hilfe von bereits studierten Häftlingen. Neville Alexander und seine Mitgefangenen sahen das als politische Herausforderung an. Sie sagten sich, dass die Wärter ebenfalls Südafrikaner seien. Auch sie würden ein Teil der zukünftigen Gesellschaft sein. Da konnte Bildung zur Überwindung von rassistischen Vorurteilen nur von Vorteil sein.

Begriffliche Lügen entlarven

Viele Insassen weigerten sich, mit den Wärtern Afrikaans, die Sprache der Macht, zu sprechen, anders als Neville Alexander, der im direkten Dialog und in ihrer Sprache die Wärter davon überzeugen wollte, dass politische Gefangenen keine minderwertigen „Kaffer" sind, die aus Dummheit zur Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung terroristische Akte verüben. So entlarvte er die begrifflichen Lügen wie z. B. „Terroristen", die dem Apartheidsystem immanent waren.

Das unter den Wärtern bestehende Bildungsgefälle barg zu den oben beschriebenen Chancen allerdings auch viel Konfliktpotenzial. So beschreibt Indres Naidoo, einer der politisch Gefangenen, die damalige Situation des Aufsichtspersonals untereinander als brutal, aggressiv und gewalttätig. Insbesondere die älteren Wärter hatten ein niedriges Bildungsniveau. Frustriert von der Tatsache, dass junge Universitätsabsolventen sie auf der Karriereleiter überholten, konnten schon kleine Wortgefechte heftige Schlägereien untereinander auslösen. Ein schon 30 Jahre im Dienst stehender Aufseher im Rang eines Oberwärters erlebte, wie junge Akademiker nach kurzer Zeit schon in der Hierarchie aufstiegen und Hauptmann wurden. Sein Neid entlud sich auch auf gebildete Häftlinge in Worten wie: „Du kannst meinetwegen ein (sic) Magisterabschluss haben und bleibst ein Kaffer/Kuli", oder in Taten wie der Konfiszierung und Verbrennung von Notizzetteln mit Lernstoff.

Zusätzlich verhöhnten die Wärter die Insassen, als sich die Rahmenbedingungen, auf Robben Island zu studieren, erschwerten: Eine Regelung zum Fernstudium an der Universität Südafrika sah eine für Strafgefangene deutlich reduzierte Studiengebühr vor. Von den Familien der Gefangenen verlangte die Strafvollzugsbehörde die Zahlung dieser Gebühren im Voraus. Über viele Jahre hinweg erhielten die studierenden Gefangenen finanzielle Hilfe von dem 1956 gegründeten International Defence and Aid Fund. Nach erfolgreicher zehnjähriger Unterstützungsarbeit für die Aktivisten gegen Apartheid geriet diese Stiftung im März 1966 unter die repressiven Gesetze des Communism Act. Die Häftlinge auf Robben Island waren schockiert. Der Geldfluss für sie schien versiegt. Vorübergehend erfolgte die Rettung durch die National Union of South African Students.

Viele der ehemaligen politisch Gefangenen übernahmen später wichtige Funktionen im ersten demokratisch gewählten Parlament Südafrikas. Seiner autobiographisch dokumentierten Überzeugung entsprechend, hat Neville Alexander sich lebenslang für den Erhalt der sprachlichen Vielfalt der südafrikanischen Ethnien eingesetzt. Während der Verhandlungsjahre um die Abschaffung der Apartheid verband er Sprachpolitik und Nationengründung. Bis an sein Lebensende arbeitete er in verschiedenen Institutionen wie dem African Committee for Higher Education (SACHED) und an der Universität von Kapstadt im Project for Study of Alternative Education in South Africa (PRAESA) an einer Sprach- und Bildungspolitik, mit dem Ziel, Multilingualität zu fördern und ein gleichwertiges Bildungssystem für alle Bürger:innen Südafrikas zu etablieren.

Und Robben Island heute? Als nationaler Gedächtnisort wird Robben Island zusätzlich für Touristen aus aller Welt als Cape Town Attraction beworben. Aber diese Insel ist auch ein „Symbol of the triumph of the human spirit over adversity", wie es auf der Website der Gedenkstätte Robben Island heißt – ein Symbol für den Triumph des menschlichen Geistes über die Widrigkeit.

Die Autorin steht kurz vor dem Magisterabschlkuss in Geschichte Europas in der Welt an der FernUni Hagen. Sie ist Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt Collective Violence in Kooperation mit dem Institut für Diasporaforschung an der RuhrUniversität Bochum.