Heft 3/2023, Gastkommentar

Wenn ganze Völker unter Generalverdacht stehen

Über Visa-Bestimmungen, Macht und Ohnmacht der Pässe

Von Boniface Mabanza Bambu

Die „Fachkommission Fluchtursachen" der Bundesregierung wurde im Jahr 2019 mit dem Auftrag einberufen, Ursachen von Flucht und irregulärer Migration zu identifizieren und Empfehlungen für deren Reduzierung zu formulieren. Die Kommission konstatierte in einem 2021 veröffentlichten Bericht, dass der tatsächliche Umfang der arbeitsbezogenen Zuwanderung aus Drittstaaten nach Deutschland bislang gering sei. Dies scheint erstaunlich, fordert doch die EU-Kommission seit Jahren von den EU-Mitgliedstaaten, „mehr legale Wege für Hochqualifizierte (durch die Blaue Karte EU) und für Flüchtlinge (durch Neuansiedlungen) zu schaffen, um die Anreize für irreguläre Migration zu reduzieren".

Die Fachkommission verweist weiterhin auf den Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration (GCM) von 2018, welche die Bedeutung legaler Zuwanderungsmöglichkeiten betont. Auch das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) setzt in einer neuen Afrika-Strategie unter der Überschrift „Gemeinsam mit Afrika Zukunft gestalten" auf eine enge Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union (AU), „um Migration gewinnbringend und fair für Herkunftsländer, Zielländer und Migrant:innen zu gestalten".

Zu den Schwerpunkten dieser Zusammenarbeit zählt u.a. die reguläre Arbeitsmigration nach Deutschland und Europa. Trotz des ausführlich belegten Fachkräftemangels Deutschlands und der EU wird eine restriktive Visa-Erteilungspraxis beibehalten, welche Menschen dazu veranlasst, irreguläre Zuwanderungswege zu suchen.

Reproduktion kolonialer Aufteilung Afrikas

Wenn die Migrationspolitik schon kaum reguläre Arbeitsmigration zulässt, trotz des eigentlichen Bedarfs, so ist vorstellbar, wie restriktiv erst die Visa-Erteilung in anderen Bereichen ist. Dabei wünschen sich viele Antragstellende in erster Linie die Möglichkeit für einen befristeten und gegebenenfalls wiederholbaren Auslandsaufenthalt zu Bildungszwecken, Familienbesuchen oder aus Abenteuerlust, wie es deutsche und europäische Bürger:innen auch tun. Trotzdem stehen sie unter Generalverdacht, sich „illegalerweise" langfristig in Deutschland oder anderen EU-Ländern aufhalten zu wollen. Die Anforderungen der Visa-Vergaben stiegen im Laufe der Jahre stetig und Interventionsmöglichkeiten, etwa für einladende Organisationen der deutschen Zivilgesellschaft, wurden immer geringer. Dies hängt mit der zunehmenden Auslagerung der Visa-Angelegenheiten zugunsten sogenannter Schengen-Büros oder Privatfirmen zusammen. Diese Schengen-Büros weisen in der Regel, was die personelle Besetzung angeht, eine Reproduktion der kolonialen Aufteilung Afrikas auf: die DR Kongo den Belgier:innen und die ehemaligen französischen Kolonien den Französ:innen. Hinter so einer Aufteilung mögen praktische Überlegungen wie Sprache, institutionelle Kapazitäten und langjährige Zusammenarbeit liegen, in der Praxis öffnet dies allerdings Tür und Tor für eine Neubelebung kolonialer Denk- und Handlungsmuster. Es scheint, als ob die ehemaligen Kolonialmächte den anderen Schengen-Ländern signalisieren möchten, dass sie ihre jeweiligen alten Kolonisierten am besten zu kontrollieren wüssten.

Die Schikanen im Visa-Verfahren beginnen schon damit, dass Antragssteller:innen sich stundenlang virtuell um einen der begehrten Termine bei der deutschen diplomatischen Vertretung bemühen müssen. Wer auf Anhieb einen Termin erhält, der es ermöglicht, noch vor dem Besuchszweck vorstellig zu werden und Unterlagen überprüfen zu lassen und einreichen zu können, kann von Glück sprechen. Viele sehen sich stattdessen Terminangeboten gegenüber, die zwischen fünf und acht Monaten nach dem gewünschten Zeitraum liegen.

Unter Generalverdacht

Weiterhin werden Unterlagen erwartet, die vom Volumen her einer Doktorarbeit gleichkommen. Darin müssen die Antragstellenden eine Reihe von Beweisen erbringen, dass sie sich nicht langfristig in Deutschland bzw. der EU niederlassen wollen und dass sie in ihrer Heimat etwas/viel zu verlieren haben. Zu diesen Beweisen zählen die Einladungen seitens der Gastgeber:innen und die Immatrikulationsbescheinigung für Studierende sowie Nachweise für eine Arbeitsstelle mit gutem Einkommen, beträchtliches Vermögen, ein Haus, Grundstück oder eine Familie im Heimatland. Hinter diesen Anforderungen, die es vielen Menschen trotz „guter" Gründe schwermacht, eine Reise nach Deutschland zu unternehmen, steht eine klare Grundüberzeugung: Demnach seien ganze Bevölkerungen zu arm und zu unzufrieden mit ihren eigenen Lebensräumen, um nach einem Aufenthalt im paradiesischen Deutschland dahin zurückkehren zu wollen.

Dieser Generalverdacht sitzt so fest, dass selbst Menschen aus Südafrika, einem Land, das in den Statistiken unter Asylbewerber:innen und Geflüchteten in der EU gar keine Rolle spielt, die gleichen Schikanen über sich ergehen lassen müssen, wenn sie für Austauschprogramme oder Konferenzen nach Deutschland möchten, unabhängig davon, wie qualifiziert sie sind. Es gilt, sich bewusst zu machen, dass eine deutsche obdachlose Person ohne jegliches Einkommen bei einer Landung in Johannesburg kostenlos automatisch 90 Tage Aufenthaltsgenehmigung erhält, während eine südafrikanische Akademikerin die bereits erwähnten Dokumente und Nachweise im Vorfeld erbringen muss. Menschen, die etwa in Liberia und Sierra Leone wohnen, zwei Ländern, in denen das deutsche Konsulat vor Ort nicht für Visa-Angelegenheiten zuständig ist, müssen nach Accra/Ghana fliegen, um den online gebuchten Termin zur Antragstellung wahrnehmen zu können. Das ist nicht nur zeitaufwändig, sondern auch sehr kostspielig. Ein Flug von Monrovia/Liberia in die ghanaische Hauptstadt und zurück kann bis 680 US-Dollar kosten.

Wenn Menschen es trotz allem schaffen, rechtzeitig ein Visum zu erhalten, verfolgt sie der rassistische Generalverdacht auch in Deutschland. Dies wurde deutlich, als am 27. April 2023 Polizeibeamt:innen um 6 Uhr morgens die Mannheimer Unterkunft einer Gruppe junger Aktivist:innen aus Benin stürmten. Die Jugendlichen wurden gefesselt, ohne Jacken und Socken zwei Stunden in der Kälte festgehalten und erst frei gelassen, als keinerlei Drogen in der Unterkunft zu finden waren. Die Gruppe war nach Deutschland gekommen, um an einem Austauschprogramm zum Thema Klimaschutz und Klimagerechtigkeit teilzunehmen, sie ging zurück nach Benin, traumatisiert von der deutschen Polizei.

Boniface Mabanza Bambu ist für die Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika KASA tätig.