Heft 3/2024, Gastbeitrag

50 Jahre Nelkenrevolution

Vor 50 Jahren, am 25. April 1974, hat die Nelkenrevolution in Lissabon das Ende Portugals als Kolonialmacht und die Unabhängigkeit von Angola, Mosambik, Guinea-Bissao und den Kapverden eingeleitet. Eine Beitrag zu ihrer Bedeutung für die Ausgangslage der portugiesischen Exkolonien sowie Lehren für die Demokratie heute.
Von Andrés Musacchio

Em cada esquina um amigo
Em cada rosto igualdade
Grândola, vila morena
Terra da fraternidade!
José Afonso

Am 25. April feierte Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Damals beendete ein Militärputsch die Regierung Marcelo Caetanos, und dadurch konnte nach 48 Jahren diktatorischer Regierungen die Transition zur Demokratie beginnen.

Das Fest in Portugal war beeindruckend; die Menschen feierten auf den Straßen mit besonderer Freude und in Frieden. Genau wie fünfzig Jahre zuvor, als man Nelken anstatt Schüsse verteilte. Die Reaktion ist leicht zu verstehen, denn die Revolution verursachte einen positiven soziopolitischen Wandel, der das Land tiefgreifend veränderte. Nicht so leicht zu erklären ist jedoch die Form, in der die gesamte Welt das Jubiläum mitfeierte. Warum bleibt überhaupt die Nelkenrevolution auch außerhalb Portugals als ein wichtiges Ereignis in Erinnerung? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach zu finden. Teilweise liegt sie darin, dass das damalige Motto, die „3D" für Demokratisierung, Dekolonisierung und Entwicklung (auf Portugiesisch Democratizar, Descolonizar, Desenvolver), immer noch aktuell ist. Die „3D" stellen uns auch heute noch vor Herausforderungen, die sogar größer scheinen als die des damaligen Portugals. Betrachten wir sie näher.

Democratizar

Ein großes Merkmal der Revolution war der Demokratisierungsprozess, den sie anschob. Gegner des Salazar-Regimes im Exil, wie beispielsweise der linke Alvaro Cunhal oder der Sozialdemokrat und künftige Premierminister Mario Soares, durften nach Portugal zurückkehren und sich ins politische Leben integrieren. Die politische Landschaft konnte sich neu sortieren und sich auf die ersten Wahlen vorbereiten, die genau zwei Jahre später stattfanden. Unterschiedliche Parteien lösten sich seitdem beim Regieren ab, ohne das System in Frage zu stellen.

Die Demokratisierungswelle, die aus der Nelkenrevolution entstand, breitete sich schnell auf das gesamte Südeuropa aus. Spanien und Griechenland konnten kurz danach ebenfalls die eigenen Diktaturen überwinden. In den drei Ländern wurden die Staatsstrukturen erneuert, und es gelang ihnen über eine längere Zeit, den Rechtsstaat aufzubauen und stabil zu halten. Bei dieser Entwicklung spielten Westeuropa und die USA eine wichtige unterstützende Rolle – ganz im Gegensatz zu Südamerika. Den lange währenden Diktaturen in Paraguay und Brasilien (wo Caetano sein Leben im gemütlichen Exil bis zum Tod genießen konnte) schlossen sich kurz vor der Nelkenrevolution Chile und Uruguay an und zwei Jahre später begann auch in Argentinien eine lange politische Nacht. An diesem Prozess beteiligten sich ebenfalls Europa und die USA, hier jedoch als privilegierte Partner der Diktatoren. Strategische und wirtschaftliche Fragen spielten in dem Fall eine wichtigere Rolle als die Demokratiefrage.

Für Afrika war das Problem noch komplexer, denn dort ging es nicht nur um Demokratie. Für viele Länder war die Frage des politischen Systems verflochten mit der Demontage der kolonialen und rassistischen Strukturen im Rahmen eines verschärften Konfliktes zwischen kapitalistischen und sozialistischen Projekten sowie mit den internen Kriegen, die sich aus dem Erbe der kolonialen Grenzen entwickelten.

Heute ist die Frage der Demokratisierung wieder zentral. Viele lateinamerikanische und afrikanische Länder sowie Osteuropa konnten im Laufe der letzten Dekaden trotz allem auch einen politischen Wandel in Gang setzen. Das politische System wird aber erneut durch die multiple Krise in Frage gestellt. Extremrechte Parteien als Profiteure des Unmuts gewinnen an Macht und schaffen es – wie im Falle Bolsonaro in Brasilien oder Milei in Argentinien – an die Regierung zu kommen. Auch in Portugal spielt die extremrechte Partei Chega eine stärkere Rolle. Das demokratiefeindliche Konzept seiner Hauptfigur, André Ventura, ist inzwischen bekannt. Daher hat es niemandem überrascht, dass er am 25. April im gesamten politischen Spektrum des Landes die einzige Stimme gegen die Nelkenrevolution darstellte.

Doch Zweifel an der Demokratie gibt es nicht nur im sog. „globalen Süden". Auch die zentralen Länder sind von diesem Phänomen betroffen. Donald Trump könnte bald wieder gewählt werden. Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni führt das faschistische Erbe weiter, Marine Le Pen und ihre Partei Rassemblement National haben beste Chancen für die nächsten Wahlen, und die Alternative für Deutschland AFD entwickelt sich weiterhin stark. Die Rechtsradikalisierung wird von politischer und individueller Gewalt, Xenophobie, Aporophobie, Fake News und Lawfare-Affairen begleitet.

Das Jubiläum der Nelkenrevolution sollte uns nicht nur an den Wunsch der damaligen Gesellschaft erinnern. Auch die damalige gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der Diktatur sollte jetzt wieder im Fokus stehen. Die Menschen feierten im Jahr 1974 nicht nur die Vorstellungen und Prinzipien der Revolution, sondern ebenso (und wahrscheinlich hauptsächlich) die Befreiung nach der langen Diktatur. Auch Lateinamerika feierte in den 80er-Jahren das Ende seiner Diktaturen. Oft hinterlassen diese ein so verwüstetes Land, dass es danach nicht mal feiern kann. Davon kann Deutschland ein Lied singen.

Descolonizar

Die Nelkenrevolution ermöglichte es, dem langen kolonialen Krieg ein Ende zu bereiten. Das portugiesische Imperium kriselte seit längerer Zeit. Unabhängigkeitsbewegungen wurden militärisch bekämpft, und der Kriegsverlauf mit schweren Menschenverlusten war ein wesentlicher Grund der allgemeinen Unzufriedenheit und einer der Impulse für die Revolution. Nicht zufällig hatten viele der beteiligten Revolutionäre und mit dem Kolonialverlauf Unzufriedene als Führungskräfte in den afrikanischen Kolonien Mosambik, Angola und Guinea-Bissau gedient. So war der Präsident der Übergangsregierung nach der Revolution, Antonio de Spínola, zwischen 1968 und 1973 Militärgouverneur von Guinea-Bissau. Sein Nachfolger Vasco Gonçalves wurde für längere Zeit in Mosambik und Angola stationiert.

Der internationale Druck, der vor allem von den Vereinten Nationen ausgeübt wurde, spielte eine wichtige Rolle bei der Beendigung des Kolonialismus. Portugal gründete seinen wirtschaftlichen Impuls seit Anfang der 60er-Jahre auf die internationalen Beziehungen. Die engere Bindung an die USA und den europäischen Raum war durch die wachsende Isolation aufgrund der Kolonialpolitik in Gefahr geraten. Zudem wurde der Krieg zu teuer. Im Jahr 1973 betrugen die Kriegsausgaben etwa ein Viertel der Staatsausgaben. Auf Dauer war so eine Spannung im Budget kaum durchzuhalten.

Spinola stellte schon Anfang 1974 in einem einflussreichen Buch „Portugal e o futuro" seine strategischen Überlegungen dar. Unter anderem befürwortete er die Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien, was auch kurz nach der Revolution geschah. Am 10. September 1974 wurde die Unabhängigkeit Guinea-Bissaus anerkannt, am 25. November 1975 erklärte sich Mosambik unabhängig, gefolgt von Angola am 11. November.

Wie sich schon 165 Jahre davor mit der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Länder gezeigt hatte, bedeutet die politische Befreiung nicht unbedingt eine Lösung aller Probleme. Oft lassen sich Kolonialstrukturen nur sehr langsam abbauen, interne politische und wirtschaftliche Akteure haben unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft oder aber gegensätzliche Projekte. Durch ihren „unsichtbaren" Einfluss versuchen auch externe Akteure, Hegemonialmächte und Wirtschaftskonzerne, die interne Politik zu ihren Gunsten zu lenken. So wird die Unabhängigkeit oft nicht von einer echten Dekolonialisierung begleitet, sondern von einer neuen Form der Dependenz. Diese verstärkt sich, wenn das Land über natürliche Ressourcen (aus der Landwirtschaft, Fischerei oder Bergbau) verfügt, die für die Produktion oder den Konsum im Zentrum eine wichtige Rolle spielen.

Unter diesem Druck stehen heute sowohl afrikanische als auch lateinamerikanische Länder mit kritischen Rohstoffen für die gegenwärtige wirtschaftliche Transformation. Die USA, China und die Europäische Union ringen mit unterschiedlichen Politiken um die Kontrolle über diese Ressourcen. Direkte Ländereroberungen, neue Kolonien, haben heute einen schlechteren Ruf als in der Vergangenheit, und die Methode wird nur als letzte Lösung angewendet. Ein häufiger benutzter Weg ist der Aufbau von Infrastruktur und wirtschaftlicher Kooperation. Darunter fallen die Projekte Chinas mit der „Neuen Seidenstraße" oder der EU mit dem „Global Gateway".

Direkte Intervention wird oft durch eine Partnerschaft mit Teilen der internen Eliten kombiniert. Ein Beispiel dafür ist Argentinien. Der neue Präsident Xavier Milei pflegt in der Öffentlichkeit seine Freundschaft mit Elon Musk und lobt in seinen Diskursen den Erfolg der Firma Tesla. Problematischer ist jedoch ein Gesetz, das Milei dem Parlament vorgelegt hat. Dort wird ein „Regime zur Förderung großer Investitionen" vorgeschlagen, das externe große Investoren dreißig Jahre lang von Steuern entlastet, die von ihnen ausgebeuteten natürlichen Ressourcen für den Export freistellt, die Konzerne von der Verpflichtung befreit, Devisen aus den Exporten ins Land zu bringen, die nötigen Devisen für Importe und Rücküberweisung der Gewinne zum günstigen Preis zur Verfügung stellt und schließlich Investitions- und operative Güter steuerfrei importieren lässt. Dadurch werden importierte Maschinen gegenüber lokal produzierten begünstigt. Kontroversen sollen nicht in den argentinischen Gerichtshöfen, sondern beim Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten gelöst werden. Da aber dort nur Unternehmen gegen Staaten klagen dürfen, aber nicht umgekehrt, verliert der Staat offensichtlich an Souveränität. Internationale Konzerne werden daher gegenüber lokalen Unternehmen begünstigt, die Binnenindustrie leidet unter unfairer Konkurrenz und die Rohstoffquellen werden unkontrolliert geplündert. Insbesondere kommen hier die größten Weltreserven von Lithium in Frage, aber auch Gas, Erdöl, Wasserstoff und verschiedene Mineralien.

Argentinien bietet nur ein Beispiel, das sich in Lateinamerika und Afrika in unterschiedlichen Formen wiederholt. Deutlich sind darin neue Kolonialstrukturen unter dem Namen des „Extraktivismus" zu erkennen. Diese finden sich auch in den Regeln internationaler Organisationen wie des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank oder der Welthandelsorganisation, die den legalen Rahmen setzen. Zu diesen gehören auch die Investitionsschutzabkommen und die Freihandelsabkommen der vierten und fünften Generation. Somit ist heute auch die zweite Forderung der Nelkenrevolution in Gefahr.

Desenvolver

Neokoloniale, extraktivistische Strukturen widersprechen auch der dritten Forderung der Nelkenrevolution, die der Entwicklung.

Portugal hatte in den 60er-Jahren einen Entwicklungsprozess eingeleitet, der auf einer kapitalintensiven Industrialisierung mit hoher Produktivität beruhte. Dadurch bildete sich eine duale Wirtschaft, mit einerseits einem hochproduktiven Sektor für Exportprodukte, mit einer niedrigen Beschäftigungsquote, einer räumlichen Konzentration und einer fragilen Verflechtung mit der restlichen Wirtschaft und zum anderen eine Industrie und Landwirtschaft mit niedrigem Wachstum, niedriger Produktivität und niedrigen Löhnen. Armut, Arbeitslosigkeit und Emigration charakterisierten die portugiesische Wirtschaft vor der Revolution. Aus diesem Grund war damals die Wichtigkeit der Entwicklungsfrage gerechtfertigt. Nicht nur für Portugal, denn die theoretische Debatte über Entwicklung prägte die gesamte Wirtschaftswissenschaft.

Es war noch eine Zeit, in der die Erfolge der sozialistischen Wirtschaftsmodelle den Kapitalismus herausforderten. Der Kalte Krieg bildete die Grundlage für eine starke Debatte um Produktions- und Verteilungsprobleme. Internationale Organisationen wie die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der Vereinten Nationen, unter Leitung von Raúl Prebisch, begründeten das Bedürfnis einer autonomen Industrie als Kern des Entwicklungsprozesses. Staatsplanung und aktive Politiken wurden als unabdingbar betrachtet. In der Praxis bildete die „importsubstituierende Industrialisierung" die allgemeine Grundlage für interne Politiken in mehreren Ländern Afrikas und Lateinamerikas.

Was ist aus dem Impuls geworden? Der portugiesischen Wirtschaft gelang es nicht, einen langfristigen sozioökonomischen Entwicklungsprozess zu generieren. Es existiert keine interne Integration der Wirtschaftsbranchen. Das macht das Land für Krisen anfällig. Die Einkommensverteilung bleibt polarisiert, und die Arbeitslosigkeit konnte nicht beseitigt werden. Die Wachstumsrate ist gesunken, während die Verschuldung stieg. Die neoliberalen Politiken und der Beitritt in den Euroraum förderten die Finanzialisierung, die die Gesamtproblematik verstärkt hat.

Dieses Panorama ist in der Peripherie bekannt. Portugal ist kein Einzelfall. Eher gehört die portugiesische Wirtschaft trotz allem zur Gruppe mit der besten Performance. Deindustrialisierung, Verschuldung, Finanzialisierung und Primarisierung sind seit den 80er-Jahren ein gemeinsames Charakteristikum der Peripherie. Durch Finanzen, Schuldendienst, Kapitalflucht, ungleichen Austausch und unfaire Wertschöpfungsketten entgeht der Peripherie ein großer Teil der generierten Einkommen. Dies polarisiert die Akkumulation des Kapitals und vertieft dadurch die Kluft zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern. Anstatt diesen Prozess zu mildern, verschärft die neue Konkurrenz um die Hegemonie diese Problematik. Und das, obwohl die peripheren Länder Lateinamerikas und Afrikas über kritische Ressourcen für die Transformation verfügen.

Dies führt uns zur noch offenen Debatte der Nelkenrevolution und ihrer Zeit: Wie kann ein inklusiver Entwicklungsprozess gelingen, der für eine bessere Lebensqualität der Bevölkerung sorgt? Reicht es aus, sich den internationalen Wertschöpfungsketten anzuschließen und sich nach den komparativen Vorteilen zu orientieren? Oder ist es doch nötig, den Prozess explizit zu gestalten, die Produktion zu integrieren (ohne in die Autarkie zu fallen) und sie durch einen festen politischen, sozialen und institutionellen Rahmen zu verankern? Die letzte Alternative impliziert die Demokratisierung und die Dekolonialisierung als Grundlagen für die Entwicklung. Genau das Motto der Nelkenrevolution!

Andres Musacchio ist Professor für argentinische und Weltwirtschaftsgeschichte an der Universität Buenos Aires und Studienleiter für Ökonomie und Sozialpolitik an der Ev. Akademie Bad Boll.