Heft 3/2024, Südafrika: Wahlen

Der Befreiungsbonus ist verbraucht

Nach 30 Jahren Regieren hat der ANC seine absolute Mehrheit in Südafrika verloren. Als Befreiungsbewegung gegen den Apartheidstaat des weißen Minderheitsregimes genoss er unter seinem ersten Präsidenten Nelson Mandela ein überwältigendes Vertrauen bei der Bevölkerungsmehrheit. Und blieb bis heute uneingeschränkt an der Macht. Doch bei den jüngsten Wahlen am 29. Mai ist er von zuletzt 57 Prozent auf 40 Prozent abgerutscht.
Von Lothar Berger

Umfragen hatten es schon vorher angedeutet: Nach dem am 2. Juni ausgezählten Endergebnis der Parlamentswahlen in Südafrika ist klar, dass der ANC seine absolute Mehrheit verloren hat und auf einen Koalitionspartner angewiesen sein wird. Dass er mit knapp über 40 Prozent nicht noch unter die diese psychologische Marke gerutscht ist, wie einige Prognosen vorhersagten, mag ein Trost sein, doch die jahrzehntelange Stabilität bei über 60 Prozent der Stimmen, die erst bei den letzten Wahlen auf 57 Prozent geschrumpft war, holt die ehemalige Befreiungsbewegung auf den Boden realer Parteipolitik zurück. Der Befreiungsbonus zieht nicht mehr, Arbeitslosigkeit, eine immer noch enorme soziale Ungleichheit, Korruption, „State Capture", Kriminalität, fehlende Dienstleistungen und regelmäßige Stromausfälle haben viele junge Menschen ihre Stimme woanders setzen oder überhaupt nicht wählen lassen.

Die Democratic Alliance (DA) als größte Oppositionspartei hat bei 21,8 Prozent kaum von den Verlusten für den ANC profitiert. Ihr Ergebnis liegt im Mittel der letzten beiden Wahlen (2019: 20,8, 2014: 22,3 Prozent). Die Economic Freedom Fighters (EFF) haben gegenüber dem letzten Urnengang sogar Einbußen hinnehmen müssen und sind unter die 10-Prozent-Marke gerutscht. Profitiert hat die neue Partei uMkhonto weSiszwe (MK) von Ex-Präsident Jacob Zuma, um die es nicht nur wegen ihres Namens, der sich an den einstigen bewaffneten Arm des ANC anlehnt, so viel Ärger im ANC gab. Zuma wurde nach einigem Hin-und-Her-Gezerre vom Verfassungsgericht aufgrund einer Vorstrafe noch von einer Kandidatur ausgeschlossen, aber seine Partei erhielt aus dem Stand 14,6 Prozent und ist damit vor den EFF drittstärkste Partei geworden.

Bislang hat sich nie eine ernst zu nehmende politische Kraft als Alternative zum ANC etabliert. Die mit viel Hoffnung von der DA gegründete konservative Multi-Party Charter (MPC), der sich ActionSA, IFP, Freedom Front Plus, ACDP und andere kleinere Parteien angeschlossen hatten, um gemeinsam von über 50 Prozent zu träumen, ist durch das schwache Abschneiden der DA kläglich gescheitert. Von dem landesweiten Ergebnis von 31 Prozent bei den Lokalwahlen 2021, das sie zur Gründung des Bündnisses motiviert hatte, ist sie weit entfernt.

Da die bisherigen Oppositionsparteien vom Frust über den ANC offensichtlich nicht profitieren können, ist es vor allem die MK-Partei, die Präsident Cyril Ramaphosa den schmerzlichen Stimmenverlust bereitet hat. Der ANC ist lange schon gespalten in die moderaten Kräfte um Ramaphosa, dessen Regierungsstil fast an die Stillstandsjahre unter Kohl und Merkel in Deutschland erinnert, und die Populisten um den Scharfmacher Jacob Zuma, der für den unsäglichen Ausverkauf des Staates unter seiner Regierung verantwortlich war. Der mittlerweile 82-jährige Zuma bietet nichts Fortschrittliches an. Er ist besessen davon, seinen Rivalen Ramaphosa zu demütigen, und beschwört trotzig die guten alten Zeiten der Befreiung. Bei seiner Anhängerschaft in seiner Heimatprovinz KwaZulu-Natal zieht sein Populismus. Seine bei Zulu-Traditionalist:innen beliebte Parteineugründung konnte in KwaZulu-Natal mit fast 46 Prozent den ANC (17,6 Prozent) und die traditionelle Inkatha Freedom Party (IFP, 16,3 Prozent) weit hinter sich lassen.

Im Westkap konnte die DA mit 53 Prozent ihre Mehrheit trotz Stimmenverlusten halten. Die restlichen Provinzen bleiben in ANC-Hand, doch in der Kernprovinz Gauteng mit den Ballungszentren Johannesburg und Tshwane (Pretoria) verfügt er nur noch über eine Mehrheit von 36,5 Prozent (DA 26,6 Prozent, EFF 12,5 Prozent, MK 10,7 Prozent).

Insgesamt haben 18 Parteien Sitze errungen, darunter auch die im April 2023 neu gegründete Partei Rise Mzansi von Songezo Sibi, die zwei Sitze – einen davon über die regionalen Stimmen – errang. Sibi ist ehemaliger Mitherausgeber der Financial Mail und Redakteur des Business Day und bezeichnet sich selbst als Sozialdemokraten.

Parlamentswahlen 2024
Partei 2024 % +/- 2019 Sitze 2024*
African National Congress 40,18 -17,32 159
Democratic Alliance 21,81 1,04 87
uMkhonto weSizwe 14,58 neu 58
Economic Freedom Fighters 9,52 -1,28 39
Inkatha Freedom Party 3,85 0,47 17
Patriotic Alliance 2,06 2,02 9
Vryheidsfront Plus 1,36 -1,02 6
Action South Africa 1,2 neu 6
African Christian Democratic Party 0,6 -0,24 3
Restliche Parteien mit Sitzen (9) 2,82 2,94 16
Parteien ohne Sitze (34) 2,02 0,8 0
Gesamt 100,00   400

* Aus nationaler und regionaler Stimme
Quelle: Wahlkommission (elections.org.za)

Neues Wahlgesetz

Die Unabhängigkeit der südafrikanischen Justiz hat dafür gesorgt, dass für diese Wahlen ein neues Wahlgesetz galt, nach dem zum ersten Mal auch Einzelpersonen direkt in die Nationalversammlung gewählt werden konnten. In einem richtungsweisenden Urteil hatte das Verfassungsgericht im Juni 2020 das bisherige Wahlgesetz von 1998 für verfassungswidrig erklärt, weil es die Kandidatur zu den Wahlen nur über die Mitgliedschaft politischer Parteien vorschrieb und damit unabhängige Kandidat:innen ausschloss. Das Verfassungsgericht hatte angeordnet, dass das Parlament die Mängel innerhalb von 24 Monaten beheben sollte. Nach zweimaligen, dem Konsultationsprozess geschuldeten Fristverlängerungen wurde das neu gefasste „Electoral Amendment Bill" im Februar 2023 verabschiedet und trat im Juni dieses Jahres in Kraft.

Grundsätzlich ändert es nichts an dem Verhältniswahlrecht Südafrikas, nach dem 200 Sitze der Nationalversammlung ausschließlich über Parteienlisten gewählt werden. Bei den verbleibenden 200 Sitzen konnten dieses Mal aber auch unabhängige Kandidat:innen mit den politischen Parteien um die Regionalsitze im Parlament konkurrieren, was für mehr Vielfalt im Parlament sorgen sollte. Obwohl 1000 Unterschriften genügten, um sich als Unabhängige:r registrieren zu lassen, ging nur ein Dutzend unabhängiger Kandidat:innen für das nationale oder ein Provinzparlament ins Rennen.

Nach dem neuen Wahlsystem gab es drei statt wie bisher zwei Stimmzettel: einen für die 52 Parteien, die sich um 200 Sitze bewarben, ein zweiter für Parteien und unabhängige Kandidat:innen in den neun Provinzen (für die restlichen 200 Sitze) und ein dritter für die Wahlen zu den Provinzparlamenten. Das eröffnete den Wähler:innen auch die Möglichkeit, mit unterschiedlicher Stimmabgabe strategisch zu wählen.

Doch im Ergebnis scheint von dieser Möglichkeit kaum Gebrauch gemacht worden zu sein. Bei den kleineren Partei hat sich trotz vieler neuer Parteien wenig getan, die unabhängigen Kandidat:innen haben keine Sitze erringen können. Auch wenn vier von ihnen im öffentlichen Fernsehen ausführlich Zeit bekamen, ihre Ziele zu präsentieren, drangen sie nicht zu den Menschen vor. Unter ihnen waren so bekannte Gesichter wie der Aktivist Zackie Achmat, der im Westkap antrat. Achmat hat soziale Organisationen wie Equal Education oder die Social Justice Coalition gegründet und hatte mit der Treatment Action Campaign gegen die irrige HIV-Politik der damaligen Regierung Mbeki Furore gemacht. In Gauteng versuchte es Anele Mda. Sie ist seinerzeit aus dem ANC ausgetreten und hatte 2008 den Congress of the People (Cope) gegründet, der mit damals 7 Prozent zweitstärkste Oppositionskraft wurde, nach internen Kämpfen aber in die absolute Bedeutungslosigkeit verschwunden ist.

ANC auf Koalitionsregierung angewiesen

Die gewünschte politische Diversität ist bei der Wählerschaft in Südafrika nicht angekommen. Eher wenden sich vor allem junge Menschen von der Politik ab. 60 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung blieb den Urnen fern. Von den 28 Millionen registrierten Wähler:innen haben 59 Prozent gewählt.

Der angezählte ANC steht jetzt vor der schwierigen Aufgabe, die richtigen Koalitionspartner zu finden. Generalsekretär Fikile Mbalula kündigte nach Bekanntwerden des Endergebnisses an, dass seine Partei Gespräche mit anderen Parteien aufnehmen werde. Mit der DA und den EFF hätte die Regierung eine Zweidrittelmehrheit. Im Gespräch ist auch eine nach 1994 schon erprobte Regierung der „nationalen Einheit" unter Einschluss der DA und der IFP. Die DA hat bereits ihre Koalitionsbereitschaft signalisiert und ein Verhandlungsteam ernannt, das die Gespräche über Koalitionen auf nationaler Ebene, in KwaZulu-Natal und in Gauteng führen soll. Sie hat sich von dem Bündnis Multi-Party Charter gelöst und möchte verhindern, dass der ANC mit den EFF und Zumas MK eine Koalition bildet. Zumas Tochter Duduzile Zuma-Sambudla hat allerdings sofort klar gemacht, dass die MK „definitiv nicht" in eine Koalition mit dem Ramaphosa-ANC gehen werde, auch nicht mit der DA. Eher würde die MK ein Bündnis mit den gleich gesinnten EFF suchen. Duduziles Vater hat die Stimmung weiter aufgeheizt und weigert sich, wie 19 weitere Kleinparteien auch, die Wahlergebnisse anzuerkennen.

Es werden zähe Verhandlungen werden. Erfahrungen mit instabilen Koalitionsregierungen in Metropolen wie Johannesburg geben kaum Anlass für viel Zuversicht. Auf Präsident Ramaphosa könnten Rücktrittsforderungen zukommen. Gleichzeitig könnte Südafrika aber auch zeigen, dass eine frühere Befreiungsbewegung auch in der Lage sein kann, die Macht zu teilen, wenn sie die Lektionen verstanden hat. Immerhin hat Ramaphosa Besonnenheit gezeigt, als er das Wahlergebnis als „den Willen der Bevölkerung" in einer „starken, robusten und dauerhaften" Demokratie anerkannte.

Südafrikas Demokratie scheint sich doch reifer zu zeigen, als es die vielen Berichte über „State Capture", anhaltende Korruption, Stromausfälle und auch über die Spaltungen im ANC vermuten lassen.