Heft 3/2024, Editorial

Zeitenwende oder ein ganz normaler Vorgang?

Je länger eine ehemalige Befreiungsbewegung an der Macht ist, desto beharrlicher werden ihre Machterhaltungstriebe. Das zeigen die Erfahrungen überall im südlichen Afrika dort, wo ehemalige Freiheitskämpfer die Macht übernommen hatten. Hatte nicht der Revolutionstheoretiker Amilcar Cabral, prägende Persönlichkeit des Befreiungskampfes in Guinea-Bissau und Kap Verde, verlangt, dass die Klasse der Kleinbourgeoisie, aus der sich die Führung der Befreiungsbewegungen speiste, nach der Unabhängigkeit „Selbstmord" begehen sollte? Er ahnte, wie schnell die neue Elite, einmal an der Macht, die Ideale des Befreiungskampfes auslöschen würde.

In Simbabwe und den ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik haben sich Zanu-PF, MPLA und Frelimo über Jahrzehnte darin geübt, wie sie ihre Parteien trotz formaler Mehrparteiendemokratie unangefochten an der Macht halten können – und sei es um den Preis gesteigerter Repression und immer dreisterer Wahlmanipulationen. In Mosambik baut die Frelimo mit der Erfassung von „Geisterwähler:innen" schon darauf vor, die Wahlen im Oktober einmal mehr unbeschadet überstehen zu können. Wobei sich noch zeigen wird, ob der gegen die Pläne von Amtsinhaber Filipe Nyusi überraschend gewählte Präsidentschaftskandidat Daniel Chapo – ein junger, von der militärischen Vergangenheit unbelasteter Provinzgouverneur – neuen Wind in die verkrusteten Strukturen der Frelimo bringen wird (s. S. 20 f).

Ein Hoffnungsschimmer? Der Ausgang der Wahlen Ende Mai in Südafrika (s. S. 8 f) und der Umgang mit ihnen machen trotz eines polternden Jacob Zuma zumindest Hoffnung, dass das als historisch bezeichnete Ergebnis tatsächlich eine Zeitenwende einleitet. Präsident Cyril Ramaphosa zieht sich nicht in den Schmollwinkel zurück; er hat den erstmaligen Verlust der absoluten Mehrheit für den ANC souverän als demokratischen „Willen der Bevölkerung" bezeichnet.

Südafrikas Demokratie zeigt sich robuster und reifer, als es die vielen Berichte über „State Capture", anhaltende Korruption, Stromausfälle und auch über die Spaltungen im ANC vermuten ließen. Es waren weitgehend friedliche Wahlen, bei denen die Regierungspartei die Mehrheit verlor. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang. Gleichwohl hängt jetzt vieles davon ab, wie sich die nötig gewordenen Koalitionsgespräche entwickeln und welches Spiel noch von Ramaphosas Erzfeind Zuma und seinen Kohorten zu erwarten ist. Sowohl Malemas Economic Freedom Fighters wie auch Zumas MK hatten sich aus dem ANC herausgelöst. Sie vereint ein populistisches und pseudo-radikales autoritäres Gehabe, aber sie haben Gewicht, repräsentieren sie doch zusammen ein Viertel der Wähler:innenstimmen. Eine Koalition des ANC mit ihnen wäre nur ohne Ramaphosa möglich – und würde einen Rückschritt in alte Kampfideologie bedeuten. Sucht aber Ramaphosa ein Bündnis mit der von vielen immer noch als „weiße" Partei gesehenen konservativen Demokratischen Allianz mit der IFP als Juniorpartner, läuft der ANC Gefahr, die radikalisierte Jugend Südafrikas gänzlich an die Populisten zu verlieren. Die Geschäftswelt mag bei einer solchen „Regierung der nationalen Einheit", bei der der ANC auch eine von DA und IFP geduldete Minderheitenregierung anstreben könnte, applaudieren. Für den ANC wäre eine solche Lösung ebenso wie alle anderen ein Drahtseilakt.

Vielleicht ist aber eben das die Zeitenwende: Nachdem das „heroische Narrativ der einstigen Befreiungsbewegung ein für alle Mal zu Grabe getragen worden ist", wie es Henning Melber in einem Kommentar für das Nordic Africa Institut so trefflich formuliert, stehen jetzt Werte wie Gesprächskultur, Kompromissbereitschaft, Anerkennung von unterschiedlichen Wegen und Respektierung der Verfassung an. Das ist in einer Ära, in der nicht nur in Südafrika, sondern weltweit der Populismus auf dem Vormarsch ist, eine immense Herausforderung. Für Zackie Achmat, dem prominenten Aktivisten der sozialen Bewegung, der als unabhängiger Kandidat nicht die erforderlichen Stimmen auf sich vereinen konnte, um einen Sitz im Westkap zu erringen, erfordert dieser „Trump-Moment" eine genaue Prüfung der Zusammenarbeit, „um die Zerstörung unserer verfassungsmäßigen Ordnung zu verhindern." Für ihn wäre eine ANC-DA-Koalition die „beste Lösung unter den schlimmsten Umständen", wie Melber zitiert.

Im südlichen Afrika steht eine Zeit an, die mehr Flexibilität in der Regierungsbildung erfordert. In Mosambik, Botsuana und Namibia wird im Oktober und November gewählt. Sowohl die Frelimo als auch die Swapo in Namibia haben ihre anfänglich deutliche Vorherrschaft über die Jahrzehnte kontinuierlich eingebüßt. Sie werden genau beobachten, wie der ANC in Südafrika mit der Zeitenwende umgeht. Sie müssen sich wohl bald selber danach ausrichten.

Lothar Berger