Heft 4/2015, Editorial

Der Steuerzahler und der Buchhalter

HELLAS AFRICANA: Nun sehen wir, wie jetzt die Arbeiterschaft des Nordens ihrerseits auch „angepasst" wird. „Anpassung" nannten es die Afrikaner in den 1980er- und 90er-Jahren. Wenn jemand z.B. im Kongo halbverhungert aussah, bezeichnete man ihn als „konjunkturiert"! Soll heißen, er wurde von innen grundlegend durch die Strukturanpassungsmaßnahmen „bearbeitet", die vom IWF und der Weltbank durchgesetzt wurden. Das war zu Beginn des Neoliberalismus, den man bereits Ende der 70er-Jahre aufkeimen sah. Afrika und Lateinamerika bildeten dafür die ersten Versuchslabore. Aber niemand diesseits der Ozeane hatte erwartet, dass diese neoliberalen Maßnahmen wie ein Bumerang zurückkommen würden, um die Länder des Nordens zu drangsalieren. Eine dramatische Ironie der Geschichte! Die Afrikaner könnten inzwischen den Europäern ihre „technische Hilfe" anbieten, wie man die Strukturanpassungsmaßnahmen überlebt. Schließlich sind sie Spezialisten geworden auf diesem Gebiet des Überlebens!


Das Wort „Steuerzahler" genießt heutzutage sehr hohes Ansehen, das kann man wohl behaupten. Wird es unbewusst als Gegensatz zum „Nicht-Steuerzahler", zum Arbeitslosen, verwendet, der wohl nicht rentabel ist, weil er keine Steuern zahlt? Ein „Klassen-Gedanke" par excellence, der darauf zielt, dass nur diejenigen Rechte besitzen, die in der Lage sind, Steuern zu entrichten. Dies erinnert uns an die Vorstellung von nicht sehr weit zurückliegenden Jahrhunderten der Unterdrückung! Diese Idee im Hintergrund ist aber wesentlich verantwortlich für die vergiftete Atmosphäre, die gegenwärtig spürbar ist. Ist das vielleicht die Bestätigung eines totalen Paradigmenwechsels?


Was ist passiert mit einer internationalen Gemeinschaft, die auf die menschlichen Werte bauen wollte, auf das politische Bewusstsein und auf soziale Gerechtigkeit; die sich der internationalen Demokratie verschrieb, der Förderung der kollektiven Verantwortung und dem Respekt der Menschenrechte; die sich vornahm, bei Gefahr gemeinsam zu handeln, um in der Zukunft ähnliche Katastrophen zu vermeiden, wie sie im letzten Jahrhundert Mensch und Natur zerstörten?... Wie mutierte eine solche Gemeinschaft zu einer Gesellschaft, die nur auf Geld basiert und von Buchhaltern dominiert wird?


Diese jetzige Entwicklung – war sie wirklich nicht vorhersehbar, wie uns zurzeit einige Herren weismachen wollen? Diese Rhetorik mit dem Gesicht des tausendköpfigen Handels, zum Nachteil der Menschen – gehört diese Rhetorik wirklich nur zu diesem Jahrhundert, derartig ausgetrocknet, emotionslos und ohne Mitgefühl?


Als ich mich Ende 1970, Anfang 1980 auf Einladung des Peter Hammer-Verlages in verschiedenen Städten der Bundesrepublik aufhielt, habe ich bei Diskussionen diese Fragen oft angeschnitten. So geschah es 1977 während einer Debatte in Wuppertal beim Präsidium der SPD, dass ich die desaströse Politik des IWF und der Weltbank in unseren Ländern des Südens angeprangert habe. Warnend habe ich hinzugefügt, dass wir vielleicht nur die Versuchslabore sind für die Zukunft. Ich habe auch die berühmte Politik der „Entwicklungshilfe" bemängelt, so wie sie durchgeführt wird, die ich schon damals als eine der schönsten Hochstapeleien der Weltgeschichte angesehen habe. Viele Jahre später, 2005, haben Emanuel Matondo und ich bei einem Treffen von Attac in Essen ebenfalls auf die verheerende Wirkung der neoliberalen Politik weltweit hingewiesen, die sich jetzt nun auch in Europa auswirkt.


Die Gewalt, mit der die internationalen Finanzinstitutionen Griechenland behandeln, all das, was sich momentan auf diesem Kontinent abspielt, scheint doch für den Großteil der europäischen Bevölkerung hinnehmbar und notwendig zu sein, so wie damals, vor vielen Jahren, als wir die Opfer dieser „Strukturanpassungen" waren. Auch heute wird dem griechischen Volk nicht viel Solidarität entgegengebracht, genauso wie damals kaum jemand sich darum scherte, was sich in den Ländern der Dritten Welt abspielte. Der Mehrheit in Europa war das vollkommen egal.


Es geht darum, nachzudenken und unsere Welt anders zu gestalten; und die richtigen Worte zu gebrauchen! Hilfe und Solidarität sind keine Slogans des Kommerzes oder der Werbung, sie sind auch keine Bankschalter, zu denen man geht, um Geld auszuleihen zu überhöhten Zinsen! Deshalb über Solidarität und Hilfe im Zusammenhang mit der Krise in Griechenland zu sprechen – wo doch die internationalen Finanzinstitutionen dem Land Geld leihen, damit es die Banken ausbezahlen kann –, ist mehr als ein Missbrauch der Sprache; es ist eine Obszönität!


Viele Frauen und Männer sind manipulierbar. Glücklicherweise gibt es, über den ganzen Planeten verteilt, Widerstandsinseln gegen diese wahrhaft illegitimen Schulden. Deshalb überlebt die Hoffnung an diesen humanen Orten. Doch das Rätsel bleibt: Wie entsteht diese Fähigkeit zum Widerstand, diese Weigerung, sich den Ungerechtigkeiten und Demütigungen zu unterwerfen, im Bewusstsein mancher Menschen?


Wir durchleben in diesem Moment eine Zeit der überwunden geglaubten Knechtschaft – und zwar ganz präsent.


Muepu Muamba – Schriftsteller aus der DR Kongo
Frankfurt am Main, 22.07.2015
Übersetzung aus dem Französischen: Maria Kohlert-Németh