Heft 4/2017, afrika süd-Dossier: Angola vor den Wahlen

Von gesund kaum die Rede

DAS GESUNDHEITSSYSTEM IN ANGOLA IST KOLLABIERT. Der Streit um Zahlen und Statistiken über die hohe Kindersterblichkeitsrate kann über das Scheitern der Regierung im Gesundheitssektor nicht hinwegtäuschen.

 

Was wissen wir über Kindersterblichkeitsrate in Angola? Das fragte die private angolanische Wochenzeitung Novo Jornal in ihrer Ausgabe vom 30. Juni 2017, die sich diesem Thema und dem gescheiterten Gesundheitssystem des Landes widmete. Der Gesundheitssektor Angolas, insbesondere die Kinder- und Müttersterblichkeitsrate, beschäftigt immer wieder Experten aus dem In- und Ausland und bleibt ein hochsensibles Thema. Jedes Jahr veröffentlichen die internationalen UN-Sonderorganisationen dazu Daten, welche die Regierung in Luanda dazu veranlassen, ihrerseits abweichende Statistiken zu verbreiten. Damit versucht sie der Weltöffentlichkeit weiszumachen, wie gut es mit dem Gesundheitssektor in Angola bestellt sei.


Diese Art von stillem Streit um die Zahlen zum Gesundheitssystem, zu Ärzten, Krankenschwestern, vorhandenen Kliniken, Krankenhäusern und und und wird seit jeher gepflegt. Das Thema beschäftigt auch die Menschen in Angola, allerdings mit großer Sorge, denn es hat sich nichts geändert und wird sich aller Voraussicht nach auch nichts ändern. Mit João Lourenço, dem designierten Nachfolger von Präsident dos Santos, der noch bis zum 27. Juni 2017 Verteidigungsminister Angolas war und dann für das Rennen um das Präsidentenamt freigestellt wurde, wird es kaum besser aussehen. In den letzten 12 Monaten hatte Lourenço so viele Rüstungsaufträge und -einkäufe für Angola überall auf der Welt getätigt, dass man den Eindruck hatte, Angola befände sich noch im Krieg oder würde sich auf einen neuen vorbereiten.

 

Sinkende Sozialausgaben
Die angolanische Regierung gibt weit mehr für Rüstung, öffentliche Sicherheit (Polizei, Sondereinheiten), Verteidigung und die Unterhaltung ihrer 100.000 Truppen starken Streitkräfte (nicht gezählt die Angehörigen von Geheimdiensten und Milizen) aus als für Gesundheit und Bildung. „Seit 1991 bleiben die Ausgaben der angolanischen Regierung für Verteidigung und Sicherheit höher als die Investitionen in den sozialen Sektor", bestätigte der Wirtschaftsexperte und Journalist Carlos Rosado de Carvalho in einem Interview mit der Deutschen Welle am 16.8.2016.


Im Haushaltsjahr 2016 waren nur 5,31 Prozent (ca. 2,3 Mrd. Euro) für Gesundheit vorgesehen. Für Verteidigung wurden jedoch ca. 13 Prozent veranschlagt, in etwa die gleiche Summe, die für Bildung und Gesundheit zusammen ausgegeben wurden. Der für das Haushaltsjahr 2017 verabschiedete Etat sieht eine erhebliche Steigerung der Investitionsausgaben für Verteidigung und Sicherheit vor; sie liegen bei ca. 20 Prozent – ohne die Präsidentengarde von 17.000 Mann. Für Gesundheit (4,4 Prozent) und Bildung (6,6 Prozent) reicht es zusammen lediglich für 11 Prozent. Für soziale Sicherheit sind weitere 5 Prozent veranschlagt. Inflationsbereinigt (sie lag im Vorjahr bei 15,8 Prozent) bedeutet das eine massive Kürzung der sozialen Ausgaben.


„Nur um eine Vorstellung zu haben: Die internationalen Vorgaben besagen, dass für Bildung 20 Prozent und für Gesundheit 15 Prozent des Staatshaushalts ausgewiesen werden sollten", erinnert de Carvalho an die Abuja-Erklärung von 2001, die auch Angola unterzeichnet hat. Danach müsste Luanda seine sozialen Ausgaben eigentlich verdreifachen. Wenn man sich, wie die NRO OPSA (Observatório Político Social de Angola), die Mühe macht, die einzelnen Daten genauer anzusehen, dann bleibt als erschreckende Erkenntnis, dass in der Basisgesundheitsversorgung sogar noch massiver gekürzt wird: Für Ambulanzdienste, die Anschaffung von medizinischen Geräten oder die Qualitätssteigerung von Gesundheitsdiensten stehen bis zu 93 Prozent weniger Mittel zur Verfügung als bisher. Eine Steigerung gibt es dagegen bei Spezialdiensten in Hospitälern, in Mütterzentren und immerhin um 61 Prozent bei Programmen zur Verbesserung der Mütter-Kind-Gesundheit.

 

„Haushalt der Repression"
„Weil kein Geld da ist – und das wenige, was vorhanden ist, in erster Linie der öffentlichen Verschuldung sowie Verteidigung und Sicherheit gewidmet wird (zusammen etwa 66 Prozent des Staatshaushaltes) –, ist es normal, dass jeder Einnahmeausfall die Einstellung von Investitionen in vitale Sektoren (wie Infrastruktur) bedeutet", schrieb der Verfassungsrechtler Rui Verde in Maka Angola (22. November 2016). Bereits ein Jahr zuvor bezeichnete er Angolas Staatsbudget als „Haushalt der Repression": „In den staatlichen Haushalten befindet sich ein einfacher Begriff: Repression." (1.12.2015)


„Haushalt?", fragt auch die unabhängige Wochenzeitung Folha 8 in ihrer Online-Ausgabe vom 16. November 2016 ironisch bezüglich des Haushalts 2017: „A repressão continua, a vitória é certa" – „Die Repression geht weiter, der Sieg ist gewiss", heißt es dort in Anspielung auf den Kampfesspruch der MPLA aus Zeiten des Befreiungskampfs. In der Ära nach dos Santos wird sich nur etwas ändern können, wenn eine andere Regierung als die MPLA an die Macht käme.


Der angolanische Finanzminister begegnete Kritikern mit dem Argument, die Steigerung der Militär- und Polizeiausgaben sei wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise gerechtfertigt. Diese könne zu hoher Kriminalität im Land führen. Dass jedoch die soziale Misere und extreme Armut mit hoher Kindersterblichkeit wegen fehlender Medikamente und Infrastruktur zu mehr Spannungen und Kriminalität führt, fällt nicht in die Bewertung der Regierenden. Gerade der Militärsektor ist es, der am stärksten von Korruption befallen ist: Bei den in den letzten Jahren getätigten Rüstungsaufträgen wie bei Einkäufen von militärischen Kriegs- sowie polizeilichen Repressionsmaterialien sind erhebliche Schmiergelder an angolanische und ausländische Entscheidungsträger jeglicher politische Couleur geflossen – teilweise unter Aushandlung fiktiver Verträge zur illegalen Selbstbereicherung.

 

Massive Kindersterblichkeit
In der eingangs erwähnten Juni-Ausgabe des Novo Jornal versucht der Autor und Arzt Dr. Luis Bernardino anhand der Problematik der anhaltenden hohen Kindersterblichkeitsrate in Angola, die Realität im Dos Santos-Land zu erklären. Er schreibt: „Die Kindersterblichkeit ist eines der größten Probleme, mit denen wir in Angola konfrontiert sind", und vergleicht die offiziellen Angaben mit denen von Unicef: Laut den im August 2016 vom Nationalen Statistikamt (Instituto Nacional de Angola, INE) veröffentlichten Daten aus einer Regierungsstudie, die landesweit vom 20. Juli bis 14. August 2015 durchgeführt wurde, liege die Kindersterblichkeit unter fünf Jahren bei 68 pro 1.000 Lebendgeburten. „Das steht im flagranten Gegensatz zu Daten im ‚State of the worlds' children 2016'-Bericht von Unicef, aus denen für das Jahr 2015 eine Kindersterblichkeitsrate von 157 pro 1.000 Lebendgeburten hervorgeht." Die von Unicef als höchste Kindersterblichkeitsrate der Welt veröffentlichte Angabe reduzierte sich also laut Regierungsangaben für das gleiche Jahr um 57 Prozent auf 68/1.000. „Die für Angola in diesem Zusammenhang zwischen 1990 und 2015 veröffentlichten Daten variieren von 225 (1990) bis 157 (2015). Gerade im Jahr 2015 wurde Angola auf die Liste der Länder weltweit gesetzt, welche die Millenniumsentwicklungsziele nicht erreicht haben. Danach hätte die Kindersterblichkeitsrate im gleichen Jahr auf ein Drittel des Wertes von 1991 reduziert werden müssen." Dafür hätte Angola auf eine Rate von 75/1000 kommen müssen. Nach den vom Statistikamt veröffentlichten Regierungsangaben hätte Angola seine Verpflichtungen nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen, resümiert Dr. Bernardino.


Wie lässt sich das erklären? Es gehe um die angewandte Methodik zur Durchführung solcher Studien, schreibt der Arzt. Auch wenn beide, Unicef und die angolanische Regierung, die gleiche u.a. von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Methodik MICS (Multiples Indicators Cluster Survey) anwenden würden, fielen die Ergebnisse jedoch sehr unterschiedlich aus. Dies habe mit der mangelnden Infrastruktur in den meisten sogenannten Dritte-Welt-Ländern zu tun, wo kaum Geburten am ersten Tag registriert werden und keine Statistiken über Todesfälle erfasst werden. Und zu dieser Ländergruppe gehört auch Angola, so der Autor. Es bleibt also viel Raum für Spekulation und beschönigende Angaben.

 

Gesundheitssystem ist kollabiert
Lässt man diesen unergiebigen Streit um Zahlen und Statistiken, mit denen die angolanische Regierung ihr Image nach Außen aufpolieren will, außer Acht und beschäftigt sich mit dem aktuellen Zustand des gesamten Gesundheitssystems, lässt sich nur eines schlussfolgern: Das angolanische Gesundheitssystem ist längst kollabiert. Was sich in den angolanischen Krankenhäusern abspielt, auf den Bildern davon, ist wie eine reale Darbietung vor den Toren zur Hölle, noch auf Erden. In der Pädiatrie, den Kinderabteilungen, müssen sich zwei kleine Patienten eingepfercht ein Bett teilen. Kinder, die kein Bett erhalten, müssen mit ihren Müttern oder Vätern auf dem Fußboden schlafen. Damit infizieren sie sich noch zusätzlich mit weiteren Krankheiten oder stecken sich gegenseitig ein.


Solche Bilder sind in den Provinzen Angolas allgegenwärtig und lassen einem die Sprache verschlagen. Allerdings sterben Angolas Kinder nicht nur aufgrund des unterfinanzierten und vernachlässigten Gesundheitssystems massenhaft, sondern ganz allgemein wegen einer fehlenden Sozialpolitik seitens der Regierung. Sie hat keine konkreten Maßnahmen zur Beseitigung von Armut, geschweige denn nachhaltige Strategien zur Bekämpfung von Unterernährung bei Kindern entwickelt. Die Programme stehen allenfalls auf Papier, das zwecks Propaganda präsentiert wird.


Eines hat die Regierungsstudie „IIMS 2015-2016" des Nationalen Statistikamts zumindest eingestanden: „Etwa 38 Prozent der angolanischen Kinder leiden unter chronischer Unterernährung, mit einer höheren Inzidenz in den ländlichen Gebieten – in der Provinz Bié mit der höchsten Rate von 51 Prozent der Fälle und in der Provinz Cabinda der niedrigsten von 22 Prozent. Insgesamt sind eine Million Kinder unter fünf Jahren in Angola von Unterernährung betroffen, weil vielen Familien das Geld fehlt, sich und ihre Angehörigen angemessen zu ernähren. Tausende Kinder sterben davon."


In mehreren Provinzen sind 2016 viele Kinder in dieser Altersgruppe der Unterernährung zum Opfer gefallen, nämlich in Uíge in 17 von 148 registrierten Fällen, in Huambo in 98 von 1.195 Fällen. Noch alarmierender ist die Situation in Bié, Moxico, Cunene, Huíla und Luanda mit jeweils mehr als 300 Toten bei über 4.000 registrierten Fällen. In den drei Südprovinzen und einer Ostprovinz Angolas spielt auch die anhaltende Dürre eine große Rolle. Dort fehlen seit über fünf Jahren jegliche Maßnahmen seitens der Regierung zur Ernährungssicherheit. Dazu kommen noch andere aus dieser Situation resultierende Krankheiten, die das Überleben in Angola schwerer machen, nicht nur für Kinder: Tuberkulose, Malaria, HIV/Aids, Cholera, Schlafkrankheit etc. Das Massensterben der Kinder Angolas findet, je weiter sie von der Hauptstadt Luanda entfernt wohnen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne ausländische Kameras statt.

 

Versagen von Staat und Regierung
Weil die Regierung bei der Bekämpfung dieser Krankheiten versagt oder zumindest überfordert ist, greifen ihre „strategische Partner" ein und stellen schließlich humanitäre Nothilfe zur Verfügung. Dies tat zum Beispiel die US-Regierung am 17. Mai 2017 mit der Bereitstellung von 63 Mio. US Dollar für ein fünfjähriges Programm gegen Malaria und Aids, während Angolas Elite zugleich Milliarden Gelder für teure Kriegsgeräte verschwenden darf. „Für Mitglieder der angolanischen Regierung gibt es so etwas wie ein Recht auf Stehlen", schrieb Folha 8 in einem Kommentar über Hungertod und Unterernährung in Angola, verursacht durch institutionalisierte Korruption.


Es ist schlichtweg ein Skandal, dass so viele Menschen im angolanischen Gesundheitssystem zum Sterben verurteilt sind, weil es in den Krankenhäusern oder Gesundheitszentren kein Strom gibt oder dieser während der Behandlung unerwartet ausfällt, sodass das Personal die Versorgung der Patienten einstellen muss. So ein Fall ereignete sich z.B. am 25. April 2017 im angolanischen Institut für Krebsuntersuchung (Instituto Angolano de Controlo do Cancro), wo die Behandlung mit Röntgen und Chemotherapie schließlich eingestellt wurde aufgrund der Pannen beim Betrieb der Aggregate. Diese rührten von den monatelangen Schwankungen durch andauernde Stromausfälle in der Hauptstadt Luanda her. Das Krebsuntersuchungsinstitut musste danach warten, bis ein Reparatur-Team kommen konnte, um wenigstens die Krebspatienten zu behandeln, zumindest diejenigen, die überlebt haben. Auch das ist Angola.


Mitglieder der angolanischen Regierung kennen die Lage, aber sie tun trotzdem wenig. Angesichts dieser dramatischen Situation im Gesundheitssektor kann man nicht umhin als von „grober Fahrlässigkeit" zu reden. Ein interner Bericht des Gesundheitsministeriums zur Situationsanalyse über den Zustand des Gesundheitssystems, erstellt am 31. Oktober 2016 für den Chef des Zivilbüros des Präsidialamtes und irrtümlich ins Internet gestellt – unter dem schönen Titel „Contribuição do Sector Saúde para o Plano Nacional de Desenvolvimento 2018-2022" –, ist nichts anderes als ein Eingeständnis vom Scheitern der staatlichen Institutionen für diesen lebenswichtigen Sektor jeder modernen Gesellschaft und eines gut funktionierenden Staates im 21. Jahrhundert. Die Mängelliste in diesem Bericht ist so lang, dass man auf eine Aufzählung verzichten kann. Die ganze Bilanz der 42 Jahre Regierung unter der MPLA und von 38 Jahren Alleinherrschaft unter José Eduardo dos Santos fällt im Gesundheitssektor ebenso wie im Bildungssektor negativ aus. Das hat schwerwiegende Folgen auf künftige Generationen von Angolanern und Angolanerinnen und die Entwicklung des Landes.


Emanuel Matondo