Heft 4/2019, Afrika: Freihandel

Verwirklichung einer panafrikanischen Vision oder Triumph des Afro-Liberalismus?

DIE AFRIKANISCHE FREIHANDELSZONE ACFTA BRAUCHT EINE GUTE PLANUNG

Als sich an jenem 25. Mai 1963 Vertreter von mehr als 30 Staats- und Regierungschefs der gerade unabhängig gewordenen Länder Afrikas in Addis Abeba trafen, waren viele gute Reden zu hören, die alle in die Geschichte eingingen, aber keine war so bemerkenswert wie die vom ersten Präsidenten Ghanas, Kwame Nkrumah. Im Zentrum seiner Rede stand die Notwendigkeit für die Menschen Afrikas, sich zu vereinen, um im Kontext von Imperialismus und Neokolonialismus überleben zu können. Nkrumah hatte die große Vision von den Vereinigten Staaten von Afrika als politischer und ökonomischer Entität im Blick. Seine Ideen wurden von seinen Kollegen, vor allem aus französischsprachigen Ländern, abgelehnt. Sie bevorzugten eher die kleine Lösung: Beibehaltung der hart erkämpften nationalen Autonomie bei Schaffung von Strukturen, die die Solidarität aller Menschen afrikanischer Herkunft konkret werden lässt. Diese Institutionen blieben schwach, die Solidarität in vielen Fällen ein Wunsch. Den spöttischen Ruf der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) als „Organisation zur Verteidigung der Privilegien afrikanischer Diktatoren" ist auch die 2002 gegründete Afrikanische Union (AU) als Nachfolgeorganisation noch nicht losgeworden.

Zumindest die politische Unabhängigkeit aller afrikanischen Länder, welche bei der Gründung der OAU noch unter kolonialer Herrschaft waren, wurde damals erreicht. Namibia und Südafrika liefern die letzten Beispiele dieses Kapitels. Seitdem ist der Ruf immer beharrlicher geworden, für die ökonomische Unabhängigkeit des Kontinents genauso viel Energie aufzubringen wie für die politische. Die Afrikanische Freihandelszone (ACFTA: African Continental Free Trade Area) soll dazu beitragen.

Ohne Zweifel hat die ACFTA das Potenzial, den binnenafrikanischen Handel anzukurbeln und die Abhängigkeiten von anderen Weltregionen zu minimieren. Dafür bedarf es einer guten Planung, um an den entscheidenden Hebeln drehen zu können. Ohne diese läuft die ACFTA akute Gefahr, die kolonial geprägten Strukturen der afrikanischen Ökonomien zu zementieren und die Ungleichheiten innerhalb des Kontinents mit allen Risiken von Destabilisierung zu verschärfen, die damit verbunden wären. Beide Gefahren, Destabilisierung nach innen und Vertiefung der Abhängigkeiten nach außen, widersprechen dem Geist des Panafrikanismus und sind eher dem Afro-Liberalismus zuzuordnen.

Langes Vorspiel für einen großen Wurf
Die ACFTA hat eine lange Geschichte, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Fakt ist, dass viele der angedachten Zwischenlösungen wie die Errichtung regionaler Blöcke (RECs) oder die Tripartite Free Trade Area (TFTA), die aus dem Common Market for Eastern and Southern Africa (Comesa), der Southern African Development Community (SADC) und der East African Community (EAC) besteht, schnell aufgegeben wurden, um den großen Wurf der ökonomischen Integration auf kontinentaler Ebene zu wagen.

Im März 2018 beschlossen die afrikanischen Staats- und Regierungschefs im ruandischen Kigali die Afrikanische Freihandelszone, ein Jahr später wurde im nigrischen Niamey konstatiert, dass die notwendige Mindestzahl an Ratifizierungen erreicht wurde. Damit wurde das Projekt mit der Verabredung in Gang gesetzt, die konkrete Umsetzung ein Jahr später zu beginnen.

Im Wesentlichen haben sich die Macher der afrikanischen Freihandelszone darauf verständigt, Handelsbarrieren zwischen den afrikanischen Ökonomien zu eliminieren. Diese sollen 90 Prozent des Güterhandels und 100 Prozent der Dienstleistungen betreffen. Damit soll der binnenafrikanische Handel verstärkt werden, der sich im Moment auf durchschnittlich nur 16 Prozent beläuft. Einige Regionen wie der Maghreb weisen kaum mehr als drei Prozent auf. Verglichen mit Lateinamerika und Asien, geschweige denn mit den EU- und nordamerikanischen Räumen hängt Afrika deutlich hinterher. Die afrikanischen Ökonomien sind nach wie vor außenorientiert und leiden unter der Doppelabhängigkeit von Importen und Exporten mit Wirtschaftsräumen außerhalb des Kontinents wie EU, China oder USA.

Daher ist es nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch politisch notwendig, nach Instrumenten zu suchen, die dieser Doppelabhängigkeit, einem Erbe der Kolonisierung, und somit der kolonialen Durchdringung ein Ende setzen oder sie zumindest eindämmen. In den Augen seiner Macherinnen und Macher ist die ACFTA eine Antwort auf diese Herausforderung. Damit die afrikanische Freihandelszone die Funktion erfüllt, die für sie angedacht ist, müssen aus meiner Perspektive bestimmte Voraussetzungen nach außen und nach innen erfüllt werden. Dies ist im Moment nicht der Fall. Von daher scheint die Umsetzung einer an sich guten Idee, die Wachstum ankurbeln und Außenorientiertheit minimieren soll, zu überhastet zu sein.

Voraussetzungen nach außen
Der Kontext der afrikanischen Freihandelszone ist geprägt durch die Verhandlungen um die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs), die die EU seit 2002 mit fünf afrikanischen Regionen und einzelnen Ländern führt. Diese Verhandlungen haben einen Flickenteppich unterschiedlicher Vereinbarungen mit der EU und jede Menge Konflikte zwischen den afrikanischen Ländern hinterlassen, so etwa zwischen Nigeria einerseits und Ghana und Cote d´Ivoire andererseits, wie auch zwischen Kenia und Tansania in Ostafrika und Kamerun und seinen Nachbarn in Zentralafrika. Kern dieser Konflikte ist, dass diejenigen Länder, die sich von der Marktöffnung zur EU haben überzeugen oder erpressen lassen, von den anderen als „Verräter" an den langfristigen Interessen des Kontinents wahrgenommen werden. Umgekehrt werden die Widerständler als „Neider" angesehen, die den Marktzugang der anderen zur EU gefährden, um selbst davon zu profitieren. Dies war deutlich zu erkennen, als zwischen Oktober 2016 und 2017 regelmäßig Presseartikel in Kenia erschienen, die den gut begründeten Widerstand Tansanias zu den EPAs in die Neid-Ecke stellten. Ähnliche Konflikte waren beim Post-Cotonou-Prozess zu beobachten. Während in Kigali unter der Federführung der AU ganz Afrika im Blick war (einschließlich Nordafrika), kehrte der Entwurf von Lomé zur kolonialen AKP-EU-Konstellation zurück, welche Nordafrika ausschließt.

Andere Faktoren, die den jetzigen Kontext prägen, sind die Initiativen Deutschlands, Europas und der G20 zur Förderung von Privatinvestitionen in Afrika. Sollten diese Initiativen den eigenen Ansprüchen genügen, d.h. massive Investitionen in Afrika ermöglichen, die mit den jedes Jahr geschaffenen Millionen Jobs dafür sorgen sollen, dass junge Afrikanerinnen und Afrikaner auf dem Kontinent bleiben und Europa in „Ruhe lassen", stellt sich die Frage, was dies für Wirtschafts- und Finanzstrukturen von Schlüsselländern Afrikas bedeutet. Zwei Hauptprobleme könnten sich ergeben: Wie wären Produkte zu klassifizieren, deren Investitionskapital mehrheitlich nicht afrikanisch ist, die aber in Afrika produziert würden? Welche Regulierungsinstrumente wären notwendig, damit die Gewinne weder legal noch illegal vom Kontinent abfließen, sondern dort reinvestiert werden? Dass ausländische Unternehmen jetzt beginnen könnten, in bestimmten Ländern des Kontinents zu investieren, um vom großen entstehenden Markt zu profitieren, ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr.

Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass Afrika im Fokus chinesischer strategischer Interessen (Rohstoffversorgung mit agrarischen, energetischen und mineralischen Produkten, Handelsrouten, Absatzmärkte) steht. Auch die USA unter der Trump-Administration versuchen, den African Growth and Opportunity Act in ein Freihandelsabkommen umzuwandeln. Angesichts all dieser Angriffe von außen kann eine afrikanische Freihandelszone nur gelingen, wenn die Öffnung nach innen einen starken Schutz nach außen zur Voraussetzung hat, wobei eine Öffnung nach innen auch bestimmten Voraussetzungen unterliegen muss.

Voraussetzungen nach innen
Afrika ist nicht gleich Afrika: Die Volkswirtschaften des Kontinents zeichnen sich nicht nur durch eine große Asymmetrie der Kräfteverhältnisse, sondern auch durch große Unterschiede in ihren Strukturen aus. Der erste Aspekt lässt sich am Beispiel Nigerias erkennen. Dort leben nicht nur 51,6 Prozent der Bevölkerung Westafrikas, es trägt auch zu 78,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts dieser Region bei. Ähnliche Verhältnisse sind mit Blick auf Südafrika in der südlichen Region und für Kenia im östlichen Teil des Kontinents zu beobachten. Über das hohe Wirtschaftswachstum des Kontinents verglichen mit anderen Weltregionen wird viel gesprochen, aber von den 55 Ländern bildete in den letzten 10 Jahren nur ein halbes Dutzend die reale ökonomische Lokomotive des Kontinents.

Die Unterschiede in den Strukturen sind u.a. am Grad der Diversifizierung auszumachen. Viele Ökonomien des Kontinents sind abhängig von ein paar wenigen Ressourcen, die wirtschaftliche Diversifizierung wird vernachlässigt. Die meisten afrikanischen Länder verdanken ihre Dynamik den Einnahmen aus Öl- und Gasvorkommen. Dies betrifft selbst Länder wie Nigeria, Algerien und Angola, die zusammen mit Ägypten, Südafrika, Algerien, Marokko, Äthiopien und Kenia zu den größten Wirtschaften des Kontinents gehören. Unter ihnen verfügt nur Marokko nicht über große natürliche Ressourcen. Dank seiner Diversifizierung, die es dem Land erlaubt, externen Marktfluktuationen standzuhalten, ist es Marokko gelungen, sich einen Platz unter den fünf größten Ökonomien des Kontinents zu sichern. In den letzten fünf Jahren ist es zum größten Intra-Afrika-Investor aufgestiegen. Länder wie Marokko, Kenia, Südafrika, Ägypten, Botswana, Mauritius und mit Abstrichen Nigeria und Ghana wären Profiteure der afrikanischen Freihandelszone. Viele andere Länder, die Probleme mit niedriger Produktivität und Diversifizierung haben, können mit diesen nicht konkurrieren.

Die afrikanische Freihandelszone ist keine Antwort auf diese Probleme, sie würde sie eher verschärfen, indem Ökonomien mit schwachen Strukturen direkt in Konkurrenz stünden mit stärkeren Volkswirtschaften. Viele Länder würden die angebotene Marktöffnung gar nicht in Anspruch nehmen können, weil sie in Ermangelung ausreichend konkurrenzfähiger Produkte nichts haben, was sie exportieren könnten. In solchen Ländern wären Substitutions- und Verdrängungseffekte an der Tagesordnung, Lebensgrundlagen kleiner Produzenten wären zerstört. In Bereichen wie Dienstleistungen und Investitionen wären in vielen Ländern Unternehmen aus anderen afrikanischen Ländern etabliert, bevor nationale Unternehmen überhaupt eine Chance erhielten, sich zu entwickeln. Letzte Konsequenz wäre eine Verschärfung der Migration innerhalb des Kontinents. Jetzt schon sind die existierenden Wirtschaftszentren Kenia und Äthiopien in Ostafrika, die Elfenbeinküste und Ghana in Westafrika, Marokko in Nordafrika und Botswana und Südafrika im südlichen Afrika unter Druck von Migrationsbewegungen aus anderen Ländern ihrer jeweiligen Regionen. Dieser Druck würde sich verschärfen, sollten die Disparitäten zwischen den Ländern größer und gleichzeitig die Bewegungsfreiheit für Menschen erhöht werden.

Aus diesen Gründen darf der Prozess kontinentaler Integration nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Er bedarf einer konsequenten Vorbereitung, die u.a. auf folgende Aspekte achtet:

  • Die Schaffung von Schutzmaßnahmen, die dafür Sorgen, dass jene Wirtschaftssektoren der schwächeren Handelspartner nicht gefährdet werden, die Aussicht auf Konkurrenzfähigkeit haben.
  • Die Gestaltung von Handlungsspielräumen, damit die Öffnung nach außen prioritär dem Import von Inputs gilt, die die Entwicklung der lokalen Industrie voranbringen.

Kontinentale Integration macht letztendlich nur Sinn, wenn Komplementaritäten zwischen den Ökonomien identifiziert und genutzt werden, um dadurch Synergien zu erzeugen, die einer Region im globalen Wettbewerb Vorteile bringen. Südafrika und Simbabwe könnten sich zusammentun, gemeinsam Platin verarbeiten und Wertschöpfungsketten durch die Region verteilen. Das gleiche könnten Botswana, Namibia, Simbabwe und die DR Kongo im Hinblick auf Diamanten tun, Sambia und der Kongo für Kobalt und Kupfer und die Sahel-Länder für die Verarbeitung von Wolle. Bei alldem handelt es sich um Produkte, mit denen die afrikanischen Länder individuell und stärker noch in Verbünden über eine gewisse Marktmacht verfügen. Um diese zu zementieren, brauchen die verschiedenen Regionen Investitionen in Infrastrukturen für Energie, Transport, verarbeitende Industrie und berufliche Bildung. Unter diesen Voraussetzungen würde der Prozess der kontinentalen Integration zur Verstärkung oder Schaffung der regionalen Komplementaritäten beitragen. Diese würden Synergien entfalten, die die kontinentale Freihandelszone mit Leben füllen. Ohne diese Voraussetzungen würde also sprichwörtlich das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt.

Ideal eines Afrika ohne Grenzen
Eine afrikanische Freihandelszone hat das Potenzial, die notwendige wirtschaftliche Integration des Kontinents voranzutreiben. Ein Afrika ohne Grenzen ist nicht nur ein politisches Ideal, es könnte auch die Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung sein, für einen wettbewerbsfähigen kontinentalen Markt, um das Wachstum zu beschleunigen und den Kontinent wettbewerbsfähiger im globalen Handel, bei Investitionen und Wertschöpfungsketten zu machen. Sie würde die Entwicklung grenzüberschreitender Industrien ermöglichen und Größenvorteile für Investoren bieten. Sie würde den Wettbewerb zwischen Unternehmen anregen, würde ihre Produktivität steigern und das Wachstum von Kleinunternehmen erleichtern. Es würde dazu beitragen, Monopolsituationen zu beseitigen, während die grenzüberschreitenden Leistungen zwischen Küsten- und Binnenländern gestärkt werden. Darüber hinaus kann die regionale Integration zur Verbesserung der regionalen Sicherheit beitragen, da die Ausweitung des internationalen Handels oft mit einer Verringerung der Konflikte einhergeht. Damit all diese hochgesteckten Ziele erreicht werden können, bedarf es einer guten Vorbereitung, welche die Unterschiede im Entwicklungsstand berücksichtigt, sowie realistischer Übergangsfristen, die dazu dienen, sich progressiv an die Marktöffnung anzupassen. Ohne gute Vorbereitung läuft die ACFTA Gefahr, mehr Schäden als Gutes zu verursachen.

Mit Blick auf die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen hat einmal der damalige Handelsminister und jetzige Präsident Namibias, Hage Geingob, gesagt: „Gar kein Abkommen ist besser als ein schlechtes Abkommen. Wenn Du ein schlechtes Abkommen unterzeichnest, musst Du mit den Konsequenzen leben." Das gilt auch für die kontinentale Freihandelszone.

Boniface Mabanza Bambu