INDIENS AUßENPOLITIK IST GEKENNZEICHNET VON SELBSTBESTIMMUNG UND MULTIPLEN IDENTITÄTEN. Als ehemals blockfreier Staat und Mitglied der BRICS-Gruppe verfolgt Indien das Prinzip der Nicht-Diskriminierung und sieht sich in der Vermittlerrolle zwischen globalen Machtzentren. Aufbauend auf den starken Verbindungen durch die gemeinsame koloniale Vergangenheit weitet Indien die Beziehungen zum afrikanischen Kontinent nun aus. Beim eigenen Anspruch auf eine künftige Weltordnung der „Einheit in Vielfalt" zeigt sich, dass das südasiatische Land auch nicht frei von Widersprüchen und Ambivalenzen ist.
Die indische Außenpolitik führt nicht selten zu Irritationen. Große Verärgerung rief beispielsweise Indiens Beteiligung an der Blockierung des Vertragsentwurfes zum Nachfolgeabkommen des Kyoto-Protokolls 2009 hervor. Indien schloss sich kurzerhand mit Brasilien, Südafrika und China zur BASIC-Koalition zusammen, um die Verhandlungsposition der Schwellenländer zu verbessern und so gemeinsam die Industriestaaten bei der Bekämpfung des Klimawandels in die Verantwortung zu nehmen. In einem informellen Treffen handelte die Gruppe schließlich mit der US-Delegation die sogenannten Kopenhagen-Vereinbarungen aus, die einziges Ergebnis des Klimagipfels blieben. Und das, obwohl sich Europa bereits zuvor zum Klimagipfel 2007 mit den Schwellenländern solidarisiert hatte, um die G77-Staaten auf seine Seite zu ziehen. Durch diesen Schachzug konnte die in den Verhandlungen damit vollkommenen isolierte USA auf Bali zum Einlenken bewegt werden, ihre Veto-Stimme nicht auszuspielen. Bis zum nächsten Gipfel in Kopenhagen wurden die Karten aber wieder neu gemischt und der Prozess zum Kyoto-Nachfolgeabkommen verzögerte sich durch das Eingreifen der BASIC-Koalition um sechs Jahre. In Paris wurden 2015 daraufhin geforderte Finanzhilfen für die Entwicklungsländer zusätzlich vereinbart.
Vom Westen als natürlicher Verbündeter angesehen, stellt sich Indien diesem in bestimmten Politikfeldern – z.B. Klima oder Welthandel – mit dem Prinzip des „passiven Widerstandes" bzw. „satyagraha" (Ghandi) als Veto-Spieler entgegen. Aufstrebende Mächte wie China und Indien sehen sich jeweils als aktive Akteure und (Mit-)Gestalter bzw. Umgestalter der „westlich" dominierten Weltordnung, in die sie sich nicht einfach eingliedern wollen. Zu diesem Anliegen hat Indien Bündnisse mit anderen Schwellen- und Entwicklungsländern geschlossen, steht jedoch auch nicht per se auf der Seite des „Südens".
Indische Prinzipien
Um die indische Verhaltens- und Verhandlungsposition nachzuvollziehen, ist es wichtig zu verstehen, nach welchen Kriterien Indien handelt und wie es sich und seine Rolle in der Weltordnung sieht. Oberste Priorität hat dabei das Prinzip der Souveränität. Das Hauptziel der indischen Außenpolitik ist somit die Wahrung der eigenen Autonomie. Umgekehrt gilt die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten, allerdings auch in Bezug auf Menschenrechte. Zu Zeiten des Kalten Krieges äußerte sich dies im Konzept der Blockfreiheit (Non-alignment), das seit seiner Unabhängigkeit Indiens Selbstverständnis ausmachte, als dritte und unabhängige Kraft in der Weltpolitik jenseits der Blöcke aufzutreten. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich die Grundlage dafür auf und stürzte Indien in eine Identitätskrise.
Um den eigenen Anspruch auf Eigenstaatlichkeit aufrechtzuerhalten und sich gleichzeitig der Globalisierung anzupassen, entschied man sich künftig für eine mehrgleisige Ausrichtung (Multi-alignment). Im Zuge dieser Neuausrichtung erweitert Indien seit den 1990er-Jahren seinen außenpolitischen Fokus von der eigenen Region in Südasien zunächst in Richtung der florierenden asiatischen Tigerstaaten („Look East"-Politik) hin zu einer globalen Diversifizierung der Partnerschaften. Zu blockfreien Zeiten ein Vertreter eines sozialistischen Wirtschaftsmodells, zwang die Globalisierung Indien zur Wirtschaftsliberalisierung. Dadurch näher an die westlichen Industriestaaten gerückt, vor allem den USA, gab Indien die Beziehungen zu traditionellen Partnern wie Russland oder den blockfreien Staaten jedoch nicht auf. Seit Anfang der 2000er-Jahre kooperiert Indien auch verstärkt mit anderen aufsteigenden Mächten, insbesondere mit Brasilien, Südafrika und China. In diesem Sinne knüpft Indien auf der Suche nach strategischen Partnerschaften und Handelspartnern Beziehungen mit allen Ländern der Welt – egal ob Ost oder West, Nord oder Süd, demokratisch oder autoritär, klein oder groß, Großmacht oder Entwicklungsland und in verschiedenen Konstellationen. Zugleich vermeidet es indes allzu enge und einseitige Beziehungen, die zu Abhängigkeiten führen oder den Verhältnissen zu anderen wichtigen Akteuren schaden könnten. Abstand nehmend von staatenspezifischen Verbindungen verfolgt Indien teilweise noch seine „wertegeleitete" Außenpolitik, insbesondere aber themen- und interessenbasierte Partnerschaften.
In einer zunehmend pluralistischen Weltordnung und zur Stabilisierung der eigenen nationalen Identität mit unterschiedlichen Kulturen, Traditionen und Systemen ist Indiens Idealvorstellung die „Einheit in Vielfalt", die friedliche Koexistenz in einer ziemlich heterogenen Gesellschaft. Dabei erachtet es das Prinzip der Nichtdiskriminierung, also die Ablehnung diskriminierender und hegemonialer Praktiken zur Bewahrung der herrschenden Weltordnung, als zentralen Eckpfeiler. Gleichwohl zeigen interne Konflikte, repressive Regierungspraktiken und die Verhältnisse zu Nachbarstaaten wie Pakistan die eigenen Bruchlinien auf. Dennoch überzeugt davon, über eine besondere Rolle in der Welt zu verfügen und als Vermittler zwischen den Extremen dienen zu können, sieht sich Indien als „Brückenmacht" und Wortführer des Südens und somit mit einmaligen globalen Einflussmöglichkeiten.
Indien, Afrika und vielfältige Interessen
So vielfältig die Partnerschaften, so vielfältig sind auch die außenpolitische Interessen. Wirtschaftlich geht es Indien um Rohstoffe und Absatzmärkte, geopolitisch um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat, um Interessengemeinschaften als Gegengewicht zu den nördlichen Industrieländern und überdies um die Anerkennung als Großmacht. Auch wenn Asien weiterhin der Schwerpunkt bleibt, spielen hierbei die Verbindungen zum afrikanischen Kontinent wirtschaftlich und strategisch eine zentrale Rolle. Anknüpfend an die alte Verbundenheit durch die gemeinsame koloniale Vergangenheit und Mitgliedschaft in der G77 baut Indien die Beziehungen nun aus, auch in Konkurrenz zu China, und erweitert seine Kooperationen über die Länder des südlichen und östlichen Afrika hinaus zu nicht-anglophonen Ländern (u.a. zu Ruanda).
Als rohstoffarmes Land ist Indien seit der Liberalisierung mit einer wachsenden Wirtschaft und einem zunehmenden Energieverbrauch auf den Import von Erdöl (u.a. aus Nigeria, Angola, Sudan) und Gas (Katar, Australien, Mosambik) angewiesen. Mehr als zwei Drittel des Öl- und Gasbedarfes muss Indien bereits importieren, wovon über 25 Prozent aus afrikanischen Ländern kommen. Zu den weiteren Importen zählen Kohle (Australien, Indonesien, Südafrika), Uran für sein Atomprogramm (Namibia, Malawi), Gold (Ghana, Südafrika) und Diamanten (Südafrika, Simbabwe) für die Edelstein- und Schmuckproduktion. Die indische Gegenleistung besteht hierfür einerseits in der Vergabe von Mitteln, der Lieferung von u.a. Pharmazeutika oder der Durchführung von Entwicklungs- und Infrastrukturprojekten. Daneben gibt es Beteiligungen an UN-Friedensmissionen, militärische und akademische Austauschprogramme. Anderseits liegt bei der Exportförderung ein besonderes Augenmerk auf den afrikanischen Absatzmärkten, insbesondere für Textilien, Elektronik, IT- und Kommunikationsdienstleistungen (z.B. Airtel oder die Tata-Gruppe). Hierzu hat Indien eine Reihe von Wirtschaftsprogrammen und multi- wie bilaterale Foren eingeführt (u.a. „Focus Africa"; Verhandlungen Indien-SACU; Indien-Afrika-Gipfel; IBSA; ISABS). Parallel dazu hat Indien seine Diaspora und deren Geschäftsverbindungen als Katalysator bei der Erweiterung von Absatzmärkten in den jeweiligen Ländern „entdeckt". Die Präsenz indischer Gemeinschaften und der Erfolg indischer Filme trägt dabei indirekt auch zur Vermarktung indischer (Mode-)Produkte wie Textilien, Kosmetika und Schmuck bei (vgl. nachfolgenden Beitrag „Bollywood und die indische Softpower").
Geopolitisch ist Indien auf Süd-Süd-Kooperationen und Bündnisse wie BRICS angewiesen und erhofft sich in Bezug auf den UN-Sicherheitsrat insbesondere auch von afrikanischen Staaten Unterstützung. Immerhin machen Indien und der afrikanische Kontinent ein Drittel der Weltbevölkerung aus. Mit den Bestrebungen zur Großmacht baut sich Indien mittels einer prinzipienorientierten, wenn auch manchmal zwiespältigen, Politik und teilweise konkurrierender Interessen untereinander ein differenziertes Netzwerk an komplexen Beziehungsverhältnissen auf und ist – obgleich selber fern einer toleranten Koexistenz – überzeugt davon, einen Beitrag zum Aufbau einer gerechteren und friedlicheren Weltordnung leisten zu können.
Anna Balkenhol
Für den Aufsatz wurden Beiträge u.a. des Giga-Instituts, Hamburg, des Deutschlandfunks und der Deutschen Welle (2013-2019) ausgewertet.
https://www.giga-hamburg.de/de/system/files/publications/gf_afrika_0601.pdf
https://www.dw.com/de/indiens-vielf%C3%A4ltige-interessen-in-afrika/a-19386018
https://www.dw.com/de/indiens-comeback-in-afrika/a-51535192
https://www.swp-berlin.org/wissenschaftler-detail/christian-wagner/