Heft 5/2016, Südafrika: Kunst

Das Innere nach Außen kehren – Roger Ballens Bilderwelten

DIFFUSE TIERISCHE TÖNE, ÜBERSPROCHEN MIT EINER TIEFEN MÄNNERSTIMME – ein riesiges düsteres Video und verstörende Fotos von kunstvoll arrangierten Vogelkadavern in heruntergekommenen Räumen fangen Ausstellungsbesucher ein. Der multi-mediale Künstler Roger Ballen aus Südafrika katapultiert sie an die Randzonen menschlicher Existenz. Zugleich zeigt er die Abgründe südafrikanischer Seelenlandschaften.

 

Die Brutalität des Apartheidsystems und die perfide staatliche Repression haben sich tief eingegraben in die menschliche Psyche. Unter einer wohlsituierten weißen Ober- und Mittelschicht in begrünten Vorstadtsiedlungen oder auf herausgeputzten Farmen blieb eine Gruppe an den Rand gedrängt: Arme Weiße – Afrikaans-sprachige Buren. Ihnen widmet sich der Fotograph Roger Ballen seit den frühen 1980er Jahren. Eine große Werkschau mit über einhundert schwarz-weißen Bildern und fünf Filmen aus unterschiedlichen Schaffensperioden zeigte die Von-der-Heydt-Kunsthalle in Wuppertal von Mai bis August 2016. Die Ausstellung ermöglichte visuelle Begegnungen mit dem komplexen und auf den ersten Blick irritierenden oder gar konfrontativ wirkenden Werk des Künstlers.

 

Grenzen überschreiten
Ein wechselvolles Leben führte Roger Ballen nach Südafrika: Als Sohn der New Yorker Magnum-Fotografin Adrienne Ballen kam er schon früh mit legendären Fotokünstlern wie Henri Cartier-Bresson, Paul Strand und André Kertész in Manhattan in Kontakt. Doch das Fotografieren blieb lange nur sein Hobby.

 

Zunächst studierte er Psychologie, später Geologie. Als promovierter Geologe verschlug es den weit gereisten Weltenbummler schließlich Anfang der 1980er Jahre nach Südafrika. Seine Arbeit für Minengesellschaften brachte ihn in abgelegene ländliche Gebiete – in heruntergekommene Dörfer, die von den „Segnungen" des Apartheidregimes scheinbar nicht erreicht worden waren. Oder deren Bewohnerinnen und Bewohner hatten sich dem reglementieren Zugriff der staatlichen Planer und der kontrollierenden Strenge der holländisch-reformierten Kirchenvertreter entzogen.


„Dorps" (1986, Dörfer) und „Platteland" (1994, plattes Land) lauten die treffenden und symbolreichen afrikaansen Titel zweier großer Bildserien des Fotografen aus der Hochphase der Apartheid, sie dokumentieren eindrücklich Aspekte weißer Armut. Vor bereits angegrauten Wänden, deren einstige Kalkfarbe längst ihre leuchtend weiße Strahlkraft verloren hat, zeigt Ballen die scharfkantigen Bruchstellen in der burischen Gesellschaft, deren Protagonisten sich als auserkorene Zivilisationsbringer in Afrika beweihräucherten.


Auf dem platten Land, dorthin, wo der sogenannte große Treck die Planwagen frommer burischer Einwanderer um die 1840er Jahre geführt hat, an dieser ehemaligen, erfolgreich eroberten Frontier visualisiert Ballen die offensichtlichen Grenzen staatlicher Wohlfahrt: Geisteskranke in Folge von Inzest. Ballen portraitierte „Dresie and Casie, Twins" – eines seiner berühmtesten Werke. Es entstand im westlichen Transvaal, dem Herzland des burischen Kulturnationalismus, einer Hochburg der Nationalen Partei. Etwa zeitgleich erschien Marlene van Niekerks grotesker Roman Triomf (Triumpf), der subversiv und symbolreich auf die inzestuösen Folgen der Apartheid im urbanen Milieu armer Buren anspielte.


Nicht allen, die die Machthaber des rassistischen Apartheidregimes ab 1948 immer wieder bei Wahlen im Amt bestätigten, kamen deren sozialstaatliche Leistungen zugute. Das dokumentieren Ballens Fotos: Männer, Paare und Kinder in kargen Behausungen, ärmlich gekleidet. Einige sind sichtlich krank und körperlich von einem entbehrungsreichen Leben gezeichnet.


Die ehrgeizigen Bemühungen des Apartheid-Architekten und Premierministers Hendrick Verwoerd, mit großzügig finanzierten Programmen zur Arbeitsbeschaffung und flankierenden sozialarbeiterischen Maßnahmen arme Weiße als Teil der burischen Nation zu fördern, zeitigten große Erfolge, aber nicht überall. Verwoerd hatte als Professor für Sozialarbeit an der Universität Stellenbosch begonnen. In den 1930er Jahren galten etwa dreißig Prozent der Weißen als arm. Nationalistische Wohltäter wollten sie vor „Degeneration" bewahren. Buren, die nach dem Burenkrieg (1899-1902) und in Folge der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre verarmt waren, erhielten Jobs bei der Polizei oder in Staatsbetrieben wie der Post und Eisenbahn. Sie wurden wegen ihrer Hautfarbe gegenüber der in viel größerem Ausmaß verarmten schwarzen Bevölkerungsmehrheit privilegiert, dennoch hielten sich in der ländlichen Peripherie einige Nischen weißer Armut, ihnen widmete sich Ballen.


Für Ballen ist Armut jedoch relativ; er interessierte sich für die Menschen, mit denen er zusammenarbeitete. Sie posierten so, wie sie gezeigt werden wollten: Als Individuen in spezifischen Lebenszusammenhängen. Mit ihnen schuf Ballen persönliche Erinnerungsbilder: Portraits stummer Amtsträger mit hoch dekorierten Uniformen. Doch auch die teils schimmernden, teils verblassten Orden eines Gefängniswärters können nicht verbergen, dass der Siedlermythos glorreicher weißer Vorherrschaft die Existenz einiger ihrer Träger nicht verbessert hat. All das brachte dem einzigartigen Künstler, der sich auf die janusköpfige und von Gewalt geprägte Geschichte der Buren bezog, viel Kritik ein. Denn er traf einen zentralen Nerv des Apartheidregimes und hielt dessen Profiteuren einen Spiegel vor. Eigentlich waren nicht die abgebildeten, zum Teil latent aggressiven Randexistenzen in ihrer verwahrlosten Umgebung grotesk, sondern das menschenverachtende Apartheidsystem, das sie erzeugte und nicht nur schwarze Menschen in jeder Hinsicht ausbeutete und entwürdigte, sondern auch Körper und Psyche der Weißen deformierte.


Überzeugte Verfechter der auf umfassende „Reinheit" beachten rassistischen Gesellschaftsordnung feindeten Ballen an und bedrohten ihn. Zu seinen Kritikern zählten auch Moralisten, die meinten, er würde die zum Teil im Schmutz lebenden Portraitierten ästhetisch instrumentalisieren und voyeuristisch missbrauchen. Dabei pflegt Ballen, der seinen Kritikern die Verflechtung jedes Einzelnen in Ausbeutungsformen entgegenhält, mit etlichen Menschen, die er fotografierte, seit Jahren persönlichen Kontakt und unterstützt sie auf vielfältige Weise.


Wie wenig staatliche oder kirchliche Wohlfahrt ihnen geholfen hat, zeigen religiöse Elemente, die in vielen Bildern aufscheinen. Immer wieder tauchen christliche Worte und Embleme oder absurde Kreuzigungsszenen auf und kontrastieren das karge Umfeld, in dem sich die Menschen bewegen. So überhöhen die Bilder die dokumentarische Ebene: Sie sind Abstraktionen der Wirklichkeit, in denen Ballen den Blick auf die menschliche Existenz, die Psyche und den inneren Geist richtet.

 


Die Antwoord
Die Antwoord (Afrikaans: Die Antwort) ist Kult: 2012 drehte Roger Ballen gemeinsam mit dieser südafrikanischen Rap-Techno-Rave-Band das provokante Musikvideo „I fink you freeky". Durch seine Zusammenarbeit mit Die Antwoord erweitert Ballen seine multiplen Verfremdungen von Realitäten und Illusionen um neue Ebenen. Im Internet wurde diese Performance über 80 Millionen Mal angeklickt. Unter Bezug auf weiße Underdogs auf dem Platteland oder im Outland nennt Die Antwoord ihre aus lokalen Sprachen und Stilen gemixte Musikrichtung Zef, was so viel heißt wie Hinterwäldler oder Prolet. Allerdings kommen die Meister einer inszenierten, urbanen „white-trash"-Subkultur selbst nicht aus dem Poor-White-Milieu, sondern aus der Kapstädter Musikszene.
Über ihr Auftreten scheiden sich die Geister: Manche Kommentatoren rühmen sie als Inbegriff avantgardistischer, ironischer und multi-medialer Innovation, andere sezieren ihre angeblich authentischen Biographien und durchleuchten den expressionistischen Lumpen-Look, in dem sie vor arrangierten Kulissen posieren würden. Zelebrierter Krawall als lukrative Marketing-Strategie? Auf jeden Fall avancierten die erfolgreichen Jungstars im Fußball-WM-Jahr 2010 zum südafrikanischen Exportschlager und begeistern seitdem zahlreiche Fans in Deutschland und anderen europäischen Ländern.
http://home.dieantwoord.com/


 

Durchgangsheime
Eine gebrochene Bezugnahme auf christliche Ikonographie, etwa die zwischen Himmel und Erde vermittelnden Tauben – Symbole für Reinheit und Frieden –, scheint in weiteren Film- und Bildserien auf: Asylum of Birds, Boarding House, Shadow Chamber. Sie alle entstanden nach der Abschaffung der Apartheid, deren unheilvolles Erbe jedoch weiter nachwirkt. In unheimlichen Schattenkammern, die von marodem Baumaterial am Rand der urbanen Metropole Johannesburg gebildet werden, haben sie in großer Zahl Zuflucht gefunden. Hier leben Menschen und zahlreiche Tiere auf engstem Raum unter einem Dach. Dennoch sind sie nicht sicher, wie eine abrupte Tötungsszene oder gemarterte Vogelkadaver als Sinnbilder einer verkehrten archetypischen Symbolik offenlegen. Mit lebendem Federvieh und Ratten bilden sie surreale oder irreale Stillleben.


Während Ballen in seinem Frühwerk die Menschen selbst bestimmen ließ, wie sie posierten, greift er in späteren Jahren immer direkter in die Bildarrangements ein, was er in großflächigen Videos zeigt. Mit schnellen Strichen skizziert er fratzenhafte Fabelwesen auf die Wände und schafft kontrastreiche Kompositionen von Menschen, Tieren und Gegenständen, die subversiv eine chaotische und gewaltbereite Welt kommentieren. In spannungsgeladenen Bildern, von denen manche archaische und magisch-brutale Opferrituale suggerieren, wirft Ballen grundlegende Fragen zum Zusammenleben von Mensch und Tier auf, zur Evolution und Persönlichkeit. Dennoch bleibt die Ausdruckskraft jedes einzelnen Bildes von den Menschen, dem besonderen Ort, dem dortigen Licht und Schatten abhängig, wie der Künstler betont.


Aber der eigentliche Fokus ist weniger auf die abgebildeten Räume gerichtet, sondern vielmehr auf die tiefe, abgründige Innenwelt von Menschen, konkret seiner Protagonisten und der Betrachter. Ballens kontrastreiche Fotos provozieren, sie sind wie Albträume mit dichten Schichten schwarzen Humors, wo verbotene Orte irreal werden, wo ausrangierte Alltagsgegenstände so arrangiert und verfremdet sind, dass sie ihre Funktionalität verlieren und bedrohlich wirken – wo gesellschaftskritische und psychologische Dimensionen ineinander verschwimmen.


Das betrifft insbesondere die Bildserie Boarding House, einen trügerischen Transitraum. Gerade in Johannesburg – seit seiner Gründung eine Drehscheibe hoher Mobilität –, bleiben die meisten Neuankömmlinge nur kurz an einem Ort. Ballen führt sie nicht vor, sondern inszeniert mit ihnen ihren existenziellen, zum Teil gebrochenen Überlebenswillen. Nicht allen entwurzelten Fremden gelingt der soziale Aufstieg – weder während der Apartheid noch danach. Einige Ausgestoßene werden verrückt oder nehmen sich das Leben. Auch mit diesen Abgründen des Unterbewusstseins, mit mehrfach irritierenden Zwischenräumen konfrontiert Ballen seine Betrachter. Er schaut fast ausschließlich auf weiße Außenseiter, was viele ihm vorwerfen, doch er will nicht politisch korrekt sein. Ihm geht es um persönliche Reflexionen und die Schaffung neuer Sichtweisen: Nur wer das Dunkle erkenne, sei auch in der Lage, das Licht zu sehen.


Rita Schäfer

 

Webseite des Künstlers:
www.rogerballen.com

 

Fotobildbände von Roger Ballen:
Outland 2015,The Asylum of Birds 2014, Die Antwoord: I fink you freeky 2013, Boarding House 2009, Shadow Chamber 2006.

 

Hintergrundlektüre:
Edward-John Bottomley: Poor White, Cape Town 2012.
Robert Morrell (ed.): White but Poor, Pretoria 1992.
Annika Teppo: "Poor Whites" Do Matter, in: Africa Spectrum, 48, 2, 2013. (elektr. Version)