Heft 5/2017, Südliches Afrika

Urbanes Afrika und urbanisierte Afrikaner

AFRIKAS BEVÖLKERUNG IST JUNG UND URBAN. Das betrifft auch die SADC-Länder. Um so wichtiger sind Forschungen über Probleme und Chancen von Urbanisierungsprozessen. Neue Erkenntnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Region dokumentieren: Menschenwürdiges Wohnen und Arbeiten beginnt mit innovativen Konzepten vor Ort.

 

Edgar Pieterse beginnt dort, wo die meisten verarmten und perspektivlosen Stadtbewohner/innen Südafrikas leben: in Slums und Squattercamps. In diesen informellen Siedlungen forscht er seit Jahren und unterstützt lokale Initiativen wie die Social Justice Coalition in Khayelitsha, die sich für den Zugang zu sauberem Trinkwasser, Abwasserentsorgung und Schutz vor Kriminalität engagiert. Ausgehend von solchen konkreten Erfahrungen bringt er die urbanen Probleme auf den Punkt: „Geringe Produktivität, zu langsame Schaffung von Arbeitsplätzen, hohe Informalität, ganz massive Infrastrukturmängel und Lücken in den Dienstleitungen – oft verursacht durch schwache institutionelle Systeme und Kapazitäten."


Diese Faktoren beeinflussen sich wechselseitig und sind mit übergreifenden Strukturen verbunden, betont Professor Pieterse: „Hinzu kommen steigende Ungleichheiten, wachsende Umweltschäden und Verletzlichkeit gegenüber dem Klimawandel." Solche Einschätzungen stehen nicht nur in offiziellen UN-Dokumenten zu Entwicklungsproblemen, an denen er mitschreibt; vielmehr ergibt sich für ihn daraus ein Forschungsauftrag und die Notwendigkeit, die menschenunwürdigen Bedingungen politisch zu ändern.


Als Gründungsdirektor des African Centre of the Cities an der Universität Kapstadt, Berater der von Zuwanderung besonders geprägten Provinz Gauteng mit der Metropole Johannesburg und Leiter des nationalen Forums zur Urbanitätsforschung ist ihm klar, wie komplex die Schwierigkeiten vielerorts sind. Das betrifft vor allem das Wasser und Abwasser, die Energieversorgung und den Transport. Aber auch Konflikte über (Bau)land listet der Kapstädter Urbanisierungsexperte auf. Er weiß, die Zeit drängt – und das nicht nur in Südafrikas Metropolen: „Solange diese Hindernisse nicht überwunden sind, werden die Potenziale zur strukturellen Transformationen in Afrikas Städten unterminiert." Um so wichtiger sind ihm politische Veränderungen, die auf innovativen Forschungen basieren und neue Ansätze, etwa zur konkreten Infrastrukturverbesserung, erproben.


Während der internationalen Afrika-Konferenz in Basel Anfang Juli 2017, an der über 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insbesondere aus afrikanischen Ländern ihre Forschungsergebnisse präsentierten, hielt Pieterse eine richtungsweisende Grundsatzrede. Darin zeigte er Möglichkeiten zur kritischen und reflektierenden Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Stadtplanung auf. Schließlich haben die Universitäten Kapstadt und Basel einen neuen gemeinsamen Studiengang zur Urbanitätsforschung konzipiert und das Centre for African Studies Basel hatte mit dem Afrika-Forschungsnetzwerk AEGIS diese große, interdisziplinäre und multi-dimensionalen Konferenz organisiert.

 

Vertrauen in Bürger
Der international renommierte Kapstädter Stadtforscher stellte klar: Etliche Regierungen afrikanischer Länder hätten über Jahrzehnte Urbanisierung mit allen Mitteln verhindern wollen. Ihnen ging es um ihre Machtsicherung durch nationalistisch-autoritäre und patriarchale Strukturen sowie darauf basierender Narrationen, die sogar die populäre Kultur durchwoben hätten. Gemeint ist offenkundig die neo-traditionalistische Verklärung einer ländlichen Idylle, die nichts mit den Lebensrealitäten in Dörfern zu tun hat. In der DR Kongo und in Simbabwe ist das bekanntlich ein unkritisch fortgeführtes Erbe der Kolonialregime und in Südafrika eine Altlast des Apartheidstaates.


Um die Fallstricke der repressiven Beschränkungen von Migration in die Städte zu überwinden, sind laut Pieterse lokalspezifische und partizipative Stadtplanungen notwendig. Ein wichtiger erster Schritt dafür sei die Umorientierung der Regierenden, die allzu oft ihre Stadtbewohner/innen als Problemfälle betrachteten. „Demgegenüber sollten sie die Menschen in den Städten als Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen und mit ihnen Planungsprozesse vor Ort gestalten. Dreh- und Angelpunkt ist der Aufbau von Vertrauen", lautet sein Plädoyer. Er ist überzeugt: „Dazu können Wissenschafter beitragen. Lokale Forschungslaboratorien, die an konkreten Problemlösungen arbeiten, könnten konstruktiv und kritisch diese Prozesse begleiten."


Kritisches Denken ist demnach ein zentraler Schlüssel für nachhaltige Stadtplanung, und deshalb begründet Pieterse auch seine Vorbehalte gegenüber rein technokratischen, privatwirtschaftlichen Investitionen, die ohne Zustimmung der lokalen Bewohner vorgenommen wurden. Auch hier zeigten sich koloniale Muster – pervertiert von Privatinvestoren und einer intensivierten Bürokratie – mit der Folge: unverantwortliches Regieren und Verwalten.


Stattdessen fordert der kritische Urbanisierungsexperte: „Zugang zum Transportwesen, Mitgestaltung der Siedlungen, Rechenschaftspflicht von Behörden, Verknüpfung unterschiedlicher Gremien und Ebenen. Auch der Diskurs über Infrastruktur, Entwicklung, Politik und universitäre Forschung braucht eine komplett neue Ausrichtung. Die lautet: Soziale Gerechtigkeit." Nicht westliche Standards sollten der Maßstab sein, sondern die Bürgerinnen und Bürger vor Ort und ihre (Menschen)rechte.

 

Afrikanische Union als Urbanisierungsakteur
Dafür hat schon die Afrikanische Union eine politische Trendwende vollzogen. „Hier haben konzeptionelle Veränderungen der politischen Leitlinien stattgefunden", erklärt Professor Pieterse. „Die Agenda 2063 der Afrikanischen Union (AU) bietet einen konzeptionellen Rahmen für notwendige Verbesserungen der urbanen Infrastruktur als Basis für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung auf dem Kontinent. Sie wurde 2014 anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der AU verabschiedet." Zudem weist Pieterse auf die UN-Agenda 2030 zur nachhaltigen Entwicklung hin.


Diese Agenden bauen auf das Zusammenwirken unterschiedlicher Interessengruppen auf verschiedenen Ebenen und zielen auf nachhaltige Urbanisierung ab. So gehe es nicht nur um einzelne Nachhaltigkeitsziele, Daten oder demografische Veränderungen, sondern vielmehr um multi-lokale und multi-sektorale Verbesserungen, die zu mehr Demokratie und einer Stärkung von Staatsbürgerschaft und Menschenrechten beitragen – wenn sie im Kontext nationaler Politiken auf städtischer Ebene umgesetzt werden. Der Urbanitätsexperte Pieterse unterstreicht, mit dieser mehrdimensionalen und multi-perspektivischen Konzeption, für die er beispielsweise auch auf die Konferenzergebnisse von UN-Habitat III und Vorhaben der afrikanischen Entwicklungsbank Bezug nimmt, werde die binäre und dichotome Polarisierung zwischen lokalen und globalen Ebenen absurd.

 

Umstrittenes Wohnrecht
Mit der konzeptionellen Vision guter Regierungsführung und partizipativer, bedürfnisorientierter Planung für eine nachhaltige urbane Entwicklung schuf Pieterse eine analytische Grundlage für weiterführende Erörterungen und Diskussionen. Sie stellten etablierte Grundannahmen zum kontrastreichen Spannungsverhältnis zwischen Ruralität und Urbanität oder Tradition und Moderne in Frage. Das zeigten etliche Referentinnen und Referenten an Detailstudien zu Hafenstädten am Indischen Ozean, zu den Hauptstädten Angolas und der DR Kongo, zum alten und neuen Kupfergürtel in Sambia sowie zu Transport- und Handelssystemen in dortigen Kleinstädten, zu Touristenorten in Botswana und Tansania oder zu Zwangsumgesiedelten in Simbabwe.


So stellte die namhafte Simbabwe-Kennerin Amanda Hammar, die seit Jahrzehnten mit einem Menschenrechtsansatz forscht, die Probleme von verarmten und älteren Menschen vor, deren Unterkünfte in Bulawayo wiederholt von Zerstörungen durch staatliche Gewaltakteure oder Handlanger im Regierungsauftrag betroffen waren. Sie vernichteten beispielsweise die Lebensgrundlagen früherer Farmarbeiter, die bereits nach den Farminvasionen ab 2000 ihre Arbeit auf den Großfarmen verloren hatten und von dort gewaltsam vertrieben worden waren. Etliche waren aus Malawi eingewandert oder deren Eltern und Großeltern kamen von dort. Sie wurden obdachlos – das Schicksal vieler Arbeitsmigranten.


Deshalb betrachtet Hammar es als Kernproblem, wie Staatsbürgerschaft und Legalität, Vorstellungen von Persönlichkeit und Respekt die Zwangs- und Neuansiedlungen betreffen. Sie hat sich seit vielen Jahren mit Verwaltungsstrukturen und –transformationen befasst, daher kennt sie das Dilemma: „Wenn Menschen keine Papiere haben, können sie kaum ihre grundlegenden Persönlichkeitsrechte wahren. Und was bedeutet Persönlichkeit, wenn man nicht auf Verwandtschaft bauen und keine Zugehörigkeit nachweisen kann."


Schließlich wird Migranten aus Malawi auch in der zweiten und dritten Generation im offiziellen Diskurs abgesprochen, „Sons of the soil" zu sein, obwohl der leibliche Vater des Präsidenten selbst als Handwerker aus dem Nachbarland eingewandert war. Die viel beschworene „Community" ist also auf nationaler und lokaler Ebene sehr relativ. Hammar räumt mit romantischen Idealisierungen einer Slumidylle ebenso auf wie mit Verklärungen isolierter Neubauprojekte, die im Nirgendwo fern der Städte aus dem Boden gestampft werden.


„Dennoch gilt das Wohnen in einem Haus als Ausdruck von Menschenwürde", erfuhr Hammar immer wieder von ihren Gesprächspartner/innen. „Doch der Zugang muss erkauft werden und ist deshalb oft nur temporär. Selbst mit größter Anstrengung können viele nicht die bürokratischen Hürden überwinden und die Gebühren aufbringen. Ihnen fehlen die Mittel, um legale Vorgaben zu erfüllen." Und für die wenigen, die es in neue Siedlungen schaffen, gibt es zwar Steinhäuser, aber kein Wasser, keinen Strom und keine Arbeit. Die Forscherin weiß: „Wer aber nicht die Unkosten zahlen kann, lebt weiter in Unsicherheit und wird seine Bleibe verlieren." Versprechen und Hoffnungen auf dauerhaftes und würdevolles Wohnen werden gebrochen. „Und dabei verleiht die Teilhabe am formalen Leben und der Ausweg aus Ausbeutung durch neue, sichere Häuser Menschenwürde und Selbstrespekt", gibt Hammar zu bedenken.

 

Kosmopolitische Urbanitäten
Jugend und Gender sind die Schlüsselworte, wenn es um innovative Formen von Urbanität in den SADC-Ländern geht. Das betrifft Metropolen wie Kinshasa in der DR Kongo oder das mosambikanische Maputo. Forscherinnen wie Sandra Manuel ergründen den Alltag junger Leute. Die an der Eduardo Mondlane-Universität in Maputo lehrende Sozialanthropologin ist überzeugt: „Wirtschaftliche Kategorien und Einteilungen, etwa nach der Höhe des Einkommens, führen nicht weit, wenn es darum geht, die so viel beschworene Mittelklasse genauer zu analysieren." Sie hat mit vielen gut ausgebildeten, jungen Leuten in Maputo gesprochen und stellt deren Gender-Vorstellungen und Interaktionen in den Mittelpunkt. Ihre Begeisterung für die mosambikanische Hauptstadt schwingt mit, wenn sie erläutert: „Maputo ist eine kosmopolitische Stadt, mit ganz unterschiedlichen Klassen und Identitäten – und zwar im Kontext bestimmter historischer, politischer, stadtgeographischer und sozio-ökonomischer Koordinaten."


Aber Manuel folgt nicht den bereits ausgetretenen Pfaden, die reproduktive Gesundheit und HIV/Aids sowie deren problematische Folgen ergründen. Vielmehr interessiert sie das sozio-kulturelle Freizeitverhalten junger Stadtbewohner. „Ausgehend von ihrem geringen Einkommen hätten etliche keine Chance, zur Mittelschicht gezählt zu werden. Aber durch ihre verbindenden kosmopolitischen Orientierungen und den gemeinsamen Lebensstil ebnen sie die Unterschiede ein", erklärt Manuel. „Sie bauen die globale Welt ideenreich in ihr lokales Umfeld ein. So handeln sie im Alltag ihre gesellschaftliche Stellung aus und überschreiten Zuordnungen durch ihre familiäre Herkunft."


Die Sozialanthropologin interessiert vor allem, wie junge Frauen und Männer Gender-Vorstellungen von Moral und Ästhetik im Alltag aushandeln. So bietet die gemeinsame Freizeit mit gleichaltrigen, kosmopolitisch orientierten Frauen den unverheirateten Männern die Möglichkeit, anerkannt zu werden, während sie in ihren Herkunftsfamilien noch immer als Jungen gelten – selbst wenn sie weit über 30 sind. Manuel weiß: „Das schlägt sich in Beziehungen nieder: Trotz gemeinsamer kultureller Vergnügungen mit gebildeten Städterinnen verlangen sie von ihren Partnerinnen Unterordnung." Das lassen sich die jungen Frauen keineswegs bieten. Sie stellen überkommene Frauenrollen und patriarchale Machtansprüche in Frage. So sind Konflikte vorprogrammiert, selbst wenn die jungen Leute Geld zusammenlegen, um mit gemeinsamen Unternehmungen, die an verbindenden kosmopolitischen Kulturinteressen orientiert sind, die Wochenenden in Maputo zu verbringen.


Solche Ambivalenzen, Widersprüche, Variationen und Vieldeutigkeiten zeichneten zahlreiche Vorträge aus, die Forscherinnen und Forscher auf der ECAS-Konferenz in Basel präsentierten. Sie bot einen inspirierenden Rahmen für den internationalen Austausch über akademische Disziplinen und geographische Grenzen hinweg. Schließlich ist Urbanisierung ein Thema, dass nicht nur das Leben in den SADC-Ländern prägt, sondern auch immer wieder unsere Vorstellungen von Urbanität in Frage stellt.


Rita Schäfer

 

Weiterführende Informationen:
www.ecas2017.ch
http://www.africancentreforcities.net/

https://zasb.unibas.ch/home/