WIE DIE EU MIT DER MIGRATION IN AFRIKA UMGEHT.
Nicht erst seit dem Film „Der Marsch" aus dem Jahr 1990 wird Migration aus Afrika als bedrohliches Szenario beschrieben, das durch den Klimawandel noch verstärkt wird. Die Bilder von überfüllten Booten und Schiffen, vor allem im zentralen Mittelmeer, verleiten zu der Annahme, dass Hunderttausende aus Afrika nach Europa streben. Vor allem Migrantinnen und Migranten aus Afrika werden als Armuts- oder Wirtschaftsmigranten beschrieben, denen es „nur" um ein besseres Leben gehe. Die Sicht auf Afrika bleibt dabei eindimensional, es geht um Hunger und Armut, Kriege und Konflikte, die verschiedenen 54 Staaten mit je eigener regionaler Geschichte und ihre vielfältigen Menschen und Kulturen kommen kaum in den Blick. Angesichts der geographischen Nähe und Nachbarschaft ist diese verkürzte Sicht mehr als erstaunlich.
Arbeitsmigration
Im April 2020 veröffentlichte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration sein Jahresgutachten zum Schwerpunkt Migration in und aus Afrika. Danach lebte von den weltweit 36,6 Mio. Migrantinnen und Migranten aus Afrika 2017 mehr als die Hälfte (19,4 Mio. oder 53,4 Prozent) in einem anderen afrikanischen Land. Bei den Migrantinnen und Migranten aus Subsahara-Afrika traf dies sogar auf fast drei Viertel (71,3 Prozent) zu. Die meisten blieben in der unmittelbaren Region. Von den rund 16,9 Mio. Auswanderern aus einem afrikanischen Land, die 2017 außerhalb Afrikas lebten, stammten 60 Prozent aus Nordafrika. Etwa die Hälfte davon lebte in Europa, ein weiteres Drittel in Asien, v.a. in den Golfstaaten. Die wichtigsten Zielländer sind Frankreich (v.a. aus Nord- und Zentralafrika), das Vereinigte Königreich (v.a. aus Ost- und dem südlichen Afrika), die USA (v.a. aus West- und Ostafrika) sowie Saudi-Arabien (v.a. aus Nordafrika). Gründe sind wie so oft Arbeitssuche – so sind viele medizinische Fachkräfte aus Nigeria in den USA oder im Vereinigten Königreich tätig – und Ausbildung oder Studium.
Ehemalige Kolonialverbindungen spielen ebenfalls eine Rolle, so sind die Zahlen afrikanischer Migranten in Frankreich, Portugal oder dem Vereinigten Königreich, aber auch Belgien etwas höher und häufig sind es Menschen mit besseren Qualifikationen, aber auch Sprachkenntnissen. In Italien und Spanien, die erst in den 90er-Jahren zu Zielländern für Migration wurden, arbeiten viele im irregulären Sektor, insbesondere der Landwirtschaft. Für Personen aus Afrika wurden 2018 in der EU 16 Prozent der Aufenthaltstitel für Bildungszwecke erteilt, für Erwerbstätigkeit nur 10 Prozent.
Flucht
Die Flucht vor Gewalt und Kriegen spielt innerhalb Afrikas eine große Rolle. Ende 2018 lebten in ganz Afrika insgesamt knapp 6,8 Mio. Flüchtlinge und 17,8 Mio. Binnenvertriebene innerhalb ihres eigenen Landes. Auch Flüchtlinge bleiben überwiegend in Nachbarländern. So standen 2017 und 2018 mit Uganda (Platz 3), Sudan (Platz 4) und Äthiopien (Platz 9) drei afrikanische Länder auf der Liste der zehn wichtigsten Aufnahmeländer von Flüchtlingen weltweit. Ende 2019 beherbergten Uganda 1,4 Mio. (Platz 5) und der Sudan 1,1 Mio. Flüchtlinge (Platz 7).
85 Prozent der 26 Mio. internationaler Flüchtlinge werden von Entwicklungsländern aufgenommen, dazu gehören neben Ländern in Asien und Südamerika in Afrika Äthiopien, die Demokratische Republik Kongo, Ruanda, Sudan, Südsudan, Tansania, der Tschad und Uganda. Fünf afrikanische Staaten gehören zu den zehn Hauptherkunftsländern für Flüchtlinge: Südsudan steht mit 2,2 Mio. auf Platz 4, Somalia mit 0,9 Mio. auf Platz 6, gefolgt von der DR Kongo mit 0,8 Mio. und dem Sudan mit 0,7 Mio. auf den Plätzen 7 und 8 und dem Tschad mit 0,6 Mio. Flüchtlingen auf Platz 10.
Nordafrika und Flucht über das Mittelmeer
Der 2011 „arabischer Frühling" genannte Veränderungsprozess erfasste fast alle nordafrikanischen Staaten und führte zu Regierungswechseln in Ägypten und Tunesien, später auch Algerien, aber auch zum seit nunmehr neun Jahre währenden Bürgerkrieg in Libyen. Durch diesen Krieg verloren tausende Migranten ihre relativ einträglichen Arbeitsplätze in der Ölförderindustrie des Landes und wurden in die Flucht getrieben.
In den Bürgerkriegswirren wurden zahllose Migrantinnen und Migranten versklavt, in unmenschlichen Haftlagern der unterschiedlichen Kriegsparteien eingesperrt, misshandelt, erpresst. Die Nähe zu Italien und Malta führte zu immer mehr Bootsflüchtlingen, die von Libyen aus auf das Mittelmeer fuhren. Die italienische Insel Lampedusa war schon in den Vorjahren Ziel von Flüchtlingen aus Libyen und Tunesien, während nach Spanien mit den Exklaven Ceuta und Melilla Migranten und Flüchtlinge aus Westafrika über Marokko kamen. Nach einem schweren Schiffsunglück vor Lampedusa im Oktober 2013 begann die italienische Regierung 2014 eine beispiellose Seenotrettungsaktion Mare Nostrum, mit der Zehntausende Flüchtlinge von der Marine gerettet wurden. Ergänzt wurde Mare Nostrum von Rettungsschiffen humanitärer Organisationen wie SOS Mediterranee mit Ärzte ohne Grenzen, Seawatch, Save the Children, Open Arms und anderen mehr.
Italien bemühte sich um Unterstützung anderer EU-Staaten, insbesondere für die Aufnahme von Geretteten, stieß aber auf Ablehnung. Im Oktober 2014 wurde die Mission daraufhin eingestellt. Allerdings ließ Italien weiterhin alle aus Seenot Geretteten an Land gehen. Im April 2015 beschloss die EU eine Überwachungsmission im zentralen Mittelmeer mit dem Ziel, Schleuser und irreguläre Migration zu bekämpfen. Diese Mission EUNAVFOR Sophia warb später damit, dass zahlreiche Menschen aus Seenot gerettet wurden.
Von Juni 2018 bis Oktober 2019 war Matteo Salvini von der Lega Nord Innenminister Italiens. Er ließ Boote mit aus Seenot Geretteten nicht mehr in italienischen Häfen einlaufen, das vor 2014 übliche Abschieben der Verantwortung für die Geretteten zwischen Italien und Malta wurde nun wieder fortgeführt. 2019 waren davon selbst Schiffe der EU-Operation Sophia und der italienischen Küstenwache betroffen, was mit zur Einstellung der EU-Mission im März 2020 führte.
Über das zentrale Mittelmeer kamen vor allem Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Sudan und Südsudan, aber auch syrische und palästinensische Flüchtlinge aus dem Nahen Osten aus den Flüchtlingslagern im Libanon oder Jordanien und aus Ägypten. Der Bürgerkrieg in Syrien trieb seit 2012 Millionen Syrerinnen und Syrer in die Flucht. Mit dem stetigen Anstieg der Flüchtlingszahlen wurde die Versorgung der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten schwierig, auch wurden Fluchtwege durch die Türkei und in die EU mit dem EU-Türkei-Deal vom März 2016 gesperrt. Die Balkanroute, über die im Sommer 2015 viele Flüchtlinge nach West- und Nordeuropa gelangten, wurde von den Balkanstaaten versperrt. Mehrere Tausend Flüchtlinge befinden sich nach wie vor in Serbien und Bosnien in der Hoffnung, es doch in die EU zu schaffen. Über Mali und Niger kamen und kommen Flüchtlinge aus dem Tschad und Nigeria, auch Arbeitsmigranten aus verschiedenen westafrikanischen Staaten. Die Routen sind durch die Abschottungspolitik der EU teurer und vor allem gefährlicher geworden.
EU-Afrikapolitik
Die Zusammenarbeit mit Herkunftsländern zu Migration war schon lange geprägt vom Wunsch der EU-Staaten, Rückübernahmeabkommen mit möglichst vielen Ländern zu vereinbaren. Dieses Ziel wurde zunehmend in andere Kooperationsverträge – Cotonou, Euromed, Nachbarschaftsprogramme – aufgenommen. Einige Staaten lehnen jedoch die Rückübernahme von Personen aus Drittstaaten ab, wie dies im EU-Verhandlungsmandat vorgesehen ist.
Nach dem Bericht der Globalen Kommission für Internationale Migration und dem darauffolgenden Prozess des „Globalen Forums zu Migration und Entwicklung" ab 2007 wurden mit verschiedenen Ländern „Migrationspartnerschaftsprogramme" erprobt. Darin sollten Rückkehrprogramme, aber auch Visaerteilung für Arbeitsmigration unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen Schwerpunkte (kein „Brain drain") einander ergänzen. Die Finanzkrise von 2008 hat einige der zarten Ansätze zunichte gemacht.
Auch für afrikanische Flüchtlinge sollten über gezielte Resettlement-Programme (Neuansiedlung) Perspektiven eröffnet und Schutz in ausgewählten Regionen gefördert werden. Auch diese mit Enthusiasmus begonnenen Programme blieben weit hinter den Erwartungen und Notwendigkeiten zurück, obwohl die Flüchtlingszahlen in der EU bis 2010 rückläufig waren.
Rabat-Prozess zu Migration und Entwicklung
Seit 2006 gab es einen Austausch zu Migration und Entwicklung zwischen der EU und afrikanischen Staaten. Die politische Erklärung von Rabat stellte eine ausgewogene Politik in Aussicht, die sich auch in Formulierungen der EU für einen Global Approach to Migration and Mobility wiederfinden – z.B. dass Entwicklungsziele gefördert werden, Mobilität und Austausch, aber auch irreguläre Migration gemeinsam angegangen werden. Schon der Aktionsplan von Rabat 2006 enthält jedoch als konkrete Maßnahmen die Unterstützung und Ausbildung von Grenzschützern, Ausstattung und Ausrüstung, z.B. für maschinenlesbare Pässe und Visa.
Diese Widersprüchlichkeit setzt sich in der Erklärung von Valetta/Malta 2015 fort. Die EU und afrikanische Regierungsspitzen vereinbarten hier große Ziele in der gemeinsamen Bearbeitung von Migration im Lichte der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, auch im Aktionsplan gibt es gute Ansätze. Konkret wird die Förderung jedoch auch hier bei Grenzschutz und Ausstattungshilfe zur Kontrolle von irregulärer Migration. Entsprechend wird 2016 das Mandat der EU-Grenzschutzbehörde Frontex für die operative Kooperation mit Drittstaaten ausgeweitet.
Die politische Krise der EU bei der Flüchtlingsaufnahme 2015 führte zu mehreren Instrumenten, die diese Ideen wieder aufnahmen: Die Resettlement-Programme sollten in einer Rahmenvereinbarung verbindlich für die EU-Staaten geregelt werden, und auch der EU Emergency Trust Fund for Africa sollte nicht nur Migration kontrollieren, irreguläre Migration verhindern, sondern auch Mobilität ermöglichen und Entwicklung fördern. In Nordafrika werden jedoch insbesondere Rückkehr- und Reintegrationsprogramme, über Italien auch ein „integriertes Grenzmanagement" in Libyen gefördert.
Der EU-Migrationspakt 2020
Am 23. September 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Vorschlag für einen neuen Europäischen Migrationspakt. In der Kommunikation und den Gesetzesvorschlägen wird wenig von Flüchtlingen und Flüchtlingsschutz gesprochen, mehr von Migranten und unberechtigt Eingereisten. Solidarität wird viel beschworen, diese gilt jedoch nicht den Menschen auf der Flucht, sondern den Mitgliedsstaaten untereinander. Sicher finden sich in den 500 Seiten auch einige positive Wendungen, es wird auch davon gesprochen, dass mehr sichere und legale Wege für Flüchtlinge und Migranten eröffnet werden sollen. Hierfür gibt es außer einer auf das nächste Jahr verschobenen Konkretisierung zu Resettlement aber keine klaren Vorschläge.
Nun sollen Vorprüfungen an Grenzen eingeführt werden, wie es sie an manchen Flughäfen im Transitbereich bereits vor der Einreise gibt. Dies soll nun an Landesgrenzen (oder deren Nähe) ohne Rechtsberatung praktiziert werden. Der Rechtsweg soll erst bei einer Entscheidung über Asylverfahren oder Abschiebung/Rückschiebung möglich sein. Ein Schwerpunkt der Vorschläge ist ohnehin, dass möglichst viele Migranten zurückgeschickt werden. Dafür sollen Regierungen nun „Patenschaften" übernehmen, einen eigenen Koordinator soll es für Rückführung geben. Grund für diese politische Weichenstellung, so heißt es, seien die sinkenden Anerkennungsraten für internationalen Schutz. Dass von den 60 Prozent in erster Instanz abgelehnten Asylanträgen ein großer Teil in zweiter Instanz anerkannt wird, bleibt außen vor; ebenso die Tatsache, dass seit 2012 – anders als in den 2000er-Jahren – der Anteil der Anerkennungen für Flüchtlinge hoch ist.
In der Konsequenz hieße das: Sollten die Vorschläge der Europäischen Kommission so beschlossen werden, könnte es zu noch mehr menschenunwürdigen Lagern an den Grenzen kommen. Eine Multiplizierung von Lagern wie Moria, ob in Kara Tepe, an der griechisch-türkischen Landgrenze, in Italien und Spanien, auf Zypern und Malta, oder an der kroatisch-bosnischen, der ungarisch-serbischen Grenze, sollte die EU nicht wollen: Diese Lager verstoßen gegen Menschenwürde und Menschenrechte, in diesen Lagern sind Menschen nicht sicher. Solche Lager sollten schnellstens evakuiert und geschlossen werden!
Das nächste Gipfeltreffen zwischen Europäischer und Afrikanischer Union wird wohl erst 2021 unter der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft stattfinden. Wenn die EU es ernst meint mit ihren Versprechen, Migration und Mobilität partnerschaftlich zu regeln, dann müssten dort Angebote für Studienförderung, vor allem aber leichtere Visaerteilung für Studium, Ausbildung und auch für Arbeitsplatzsuche vorgelegt werden (ein Vorschlag des SVR). Ebenso wünschenswert wäre die konkrete Unterstützung der Freizügigkeit innerhalb Afrikas, die von ECOWAS bereits geplant und von der AU angestrebt wird. Dringend notwendig ist eine stabile Förderung für die Länder in Afrika, die Flüchtlinge aus ihrer Region aufgenommen haben. Denn der größte Teil der Migration findet innerhalb Afrikas statt. Hier ist Solidarität gefragt.
Doris Peschke
Die Autorin arbeitet als Referentin in der Abteilung Flucht, interkulturelle Arbeit, Migration bei der Diakonie Hessen.