Heft 5/2020, afrika süd-dossier: Afrika-Europa

Anatomie eines komplexen Verhältnisses

EINE REZENSION

Henning Melber (Hrsg.) Deutschland und Afrika – Anatomie eines komplexen Verhältnisses
Brandes & Apsel Verlag 2019, ISBN 978-3-95558-257-9; Euro 24,90

Buchveröffentlichungen zu Afrika sind in den letzten Jahren selten geworden. Umso mehr ist dem Verlag Brandes & Apsel, der auch sonst etliche Monographien zu afrikanischen Ländern veröffentlicht hat, zu danken für ein Buch, in dem achtzehn Autorinnen und Autoren zu Wort kommen. Der Band hat den Anspruch, ein Jahrhundert nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft Aspekte eines deutsch-afrikanischen Verhältnisses in das Blickfeld zu rücken, „die sich mit den Folgen dieser Geschichte in der Gegenwart auseinandersetzen".

Der erste Teil des Buches widmet sich der „Analyse außen-, wirtschafts-, sicherheits- und entwicklungspolitischer Aspekte der offiziellen deutschen Afrikapolitik" gefolgt von „virulenten Themen wie der Politik mit Flüchtlingen und dem Umgang mit geraubten Kulturgütern." Es geht aber auch um die „Bearbeitung des deutschen Kolonialismus und dessen anhaltenden Erscheinungsformen im Alltag". Ein Buch, das einen weiten, aber notwendigen Bogen spannt, um die heutigen Debatten um Kolonialismus, den Umgang mit geraubten Kulturgütern, Rassismus, Migrations- und Flüchtlingspolitik zu verstehen und eine begründete Position zu beziehen.

Im einleitenden Beitrag „Das deutsche Afrika" entlarvt der Herausgeber Henning Melber, der lange in Namibia gelebt hat, den Mythos der Kolonisierung als „zivilisatorische Mission" und konstatiert die Geschichtsverdrängung oder -leugnung als „Koloniale Amnesie" („als zeitweiliger oder dauerhafter Gedächtnisverlust)", wenn vorhandenes Wissen oftmals noch immer geleugnetes Wissen bleibt. Das verdeutlicht er dann am „Kolonialsujet Namibia".

Andreas Mehler, Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts in Freiburg, versucht in seinem Beitrag „Deutsche Außenpolitik in Afrika" eine Antwort auf die Frage „Was will deutsche Afrikapolitik eigentlich, was sind ihre Interessen?" Die Antwort ist nicht einfach angesichts der Gemengelage verschiedenster Interessen der involvierten Ministerien, der Interessen Europas und der Rolle der Vereinten Nationen. Beachtenswert ist sein Fazit: „Außenpolitik in Afrika ist auch viel stärker zur „Innenpolitik mit anderen Mitteln" geworden, seitdem die Fluchtursachen- (eigentlich aber Migrations-)bekämpfung so sehr in den Vordergrund gerückt ist." Dieses Fazit wird nachvollziehbar belegt.

Während die „Entwicklungspolitische Zusammenarbeit" (EZ) in dem Beitrag von Andreas Mehler nicht beachtet wird, geht es im Artikel „Deutsche Afrikapolitik – mehr als Stückwerk?" von Robert Kappel, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler und Prof. em. der Universität Leipzig, genau darum. Ein außerordentlich lesenswerter Artikel, weil er sich differenziert mit der deutschen EZ auseinandersetzt, verständlich erklärt, was es mit dem „Marshallplan mit Afrika" und dem „Compact with Africa" auf sich hat und konkrete Vorschläge für eine „Neuorientierung der deutschen Afrikapolitik" unterbreitet. Er fordert eine neue europäische Handels- und Landwirtschaftspolitik und „vor allem einen Paradigmenwechsel, der anerkennt, dass Entwicklung nur von Innen kommen kann. Das heißt: Die Afrikaner entscheiden über ihren Weg." Sehr nützlich ist die als Anhang des Beitrages zu findende Auflistung „Wer tut was in der deutschen Afrikapolitik". Wenn man den Beitrag von Robert Kappel in Verbindung bringt mit dem von Boniface Mabanza Bambu an späterer Stelle des Buches, ist es möglich, einen fundierten, kritischen Blick auf die deutsche Afrikapolitik zu werfen.

Im Beitrag von Stephan Klingbeil, Forschungsprogrammleiter am „Deutschen Institut für Entwicklungspolitik" (DIE), hält der Verfasser ein „Plädoyer für Entwicklungszusammenarbeit mit Sub-Sahara Afrika". Er stellt ein sprunghaft gestiegenes afrikapolitisches Interesse Deutschlands fest. Die vielen Reisen der Bundeskanzlerin nach Afrika hatten aber wesentlich ein Ziel: Regierungen in Westafrika zu überzeugen, Migration zu verhindern. Dafür gab und gibt es vor allem Geld. Ein stärkeres entwicklungspolitisches Engagement Deutschlands war weniger wichtig. Genau dafür plädiert aber Stephan Klingbeil und nennt vier Gründe für eine Strategiedebatte über die künftige entwicklungspolitische Ausrichtung.

Der Beitrag „Gender in der deutschen Afrikapolitik" von Rita Schäfer, freiberufliche Wissenschaftlerin und ausgewiesene Afrikaexpertin, enttäuscht insofern, als er zwar ausweist, dass sich die Verfasserin in den einschlägigen Papieren, Resolutionen und Diskussionen sehr gut auskennt, aber ansonsten nur Fragen stellt und keinen Weg weist, wie die Gender-Frage in der Afrikapolitik verankert werden könnte.

In seinem Artikel zum komplexen Thema „Frieden und Sicherheit" erklärt Ulf Engel, Professor für „Politik in Afrika" am Institut für Afrikastudien der Universität Leipzig, sehr einleuchtend, wie der Begriff der „Krisenprävention" Eingang in die politischen Entscheidungen gefunden hat, wie die deutschen „friedenserhaltenden Einsätze" sich in den letzten Jahren „afrikanisiert" haben, was von der Öffentlichkeit so kaum wahrgenommen wird und wie janusköpfig die Politik der Bundesregierung ist, die einerseits versucht, sich „international als zivilstaatlicher, friedenspolitischer Akteur zu etablieren, ... auf der anderen Seite fördert sie in einer eng nationalstaatlichen Perspektive die Exportinteressen der deutschen Rüstungsindustrie."

Um den „Finanzplatz Afrika: Grüne Finanzflüsse und afrikanische Energietransitionen" geht es im Beitrag von Steffen Haag und Franziska Müller, die sich mit diesen Fragen an ihren jeweiligen Hochschulen beschäftigen. Es geht zunächst wesentlich um den Begriff „Derisking", also darum, grüne Investitionen in Afrika und anderen Ländern des Südens durch öffentliche Garantien weniger risikoreich zu machen und so zu fördern. Am Beispiel Uganda und Sambia wird das für die deutsche EZ anschaulich dargestellt. Doch der Artikel setzt sich dann durchaus kritisch mit „Derisking" auseinander, indem er die Gefahren der Verschleierung struktureller Probleme und die „Entpolitisierung und Entdemokratisierung eines sozial-ökologischen Transitionsprozesses" aufzeigt. Die dagegen aufgezeigten positiven Beispiele sind allerdings wenig überzeugend, weil lokal begrenzt.

Zum Thema Migration legt Melanie Müller, Politikwissenschaftlerin an der Universität Kassel, einen beachtenswerten Artikel vor: „Neuer Schwerpunkt in der Afrikapolitik – Migrationsabwehr". Sie entlarvt, dass hinter vielen als EZ mit afrikanischen Ländern bezeichneten Politiken nichts anderes steht als der Versuch, Migration in die Drittstaaten zu verlagern, formuliert als „Migration steuern, Fluchtursachen vermeiden, Flüchtlinge schützen". Es geht aber der Politik darum, Migration nach Europa, wesentlich aus Westafrika, überhaupt zu verhindern. Dazu ist man bereit, Diktatoren zu „Türstehern Europas" zu machen, wie das Beispiel Nigeria zeigt. Dass die eigentliche Migration in Afrika selbst stattfindet, und hier ein wichtiges Feld für die EZ liegt, wird von der Politik nur am Rande zur Kenntnis genommen.

Der Beitrag „Politik mit Flüchtlingen" von Boniface Mabanza Bambu, Koordinator der „Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika" (KASA) in Heidelberg, ist zweifellos der profilierteste politische Beitrag des Buches. Gut argumentiert wird die Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU schonungslos entlarvt und ihre Menschenrechtsverachtung dargestellt. Die Notlage, aber auch die korrupten Strukturen vieler afrikanischer Staaten werden hemmungslos eingesetzt, um die europäische Abschottungspolitik durchzusetzen. Staaten mit zweifelhafter Menschenrechtslage wie Marokko gelten nun als „sichere Herkunftsstaaten". Mabanza entlarvt die Politik Europas als „Symbolpolitik": Man tut so, als würde afrikanischen Staaten geholfen werden, nach innen gerichtet geht es aber darum, „alle notwendigen Kanäle zur „Eindämmung" der „Flüchtlingsströme" zu mobilisieren." In diesem Zusammenhang muss auch die sog. „Investitionsoffensive nach Afrika" gesehen werden. Eine ernst gemeinte Fluchtursachenbekämpfung dagegen müsste vor allem auch die europäische Handelspolitik thematisieren, die die Existenzgrundlage der Bauern und Fischer gerade in Westafrika zerstört. Die Handelsabkommen in ihren verheerenden Auswirkungen sind eine der wesentlichen Fluchtursachen. Dies wird aber von der Politik vehement bestritten.

Die Ausführungen von Andreas Eckert, Professor für die Geschichte Afrikas an der Humboldt Universität zu Berlin, sind ein sehr lesenswerter Beitrag über die Wege, aber insbesondere auch Irrwege der „Afrikawissenschaften in Deutschland". Er beklagt mit Robert Kappel, dass „die heutigen Afrikastudiengänge immer noch von der Lehre der Sprachen, Kultur, Geschichte und Ethnologie dominiert werden." Es wird dann der Nachweis geführt, wie stark sich die Afrikakunde in den Dienst des Kolonialismus einschließlich der protestantischen Missionsbewegung gestellt hat, lässt das tödliche Schicksal im Nationalsozialismus der sog. „Sprachinformanten", also der afrikanischen Assistenten der Sprachforscher an den Universitäten, nicht unbeachtet und zeigt, wie schwer es nach dem 2. Weltkrieg für die Disziplin der Entwicklungssoziologie war, sich als Studienfach zu etablieren. Beachtenswert sind zum Schluss des Beitrages die Hinweise auf eine zunehmende Internationalisierung der deutschen Afrikawissenschaften, indem immer mehr Publikationen in englischer Sprache erscheinen und damit internationale Anerkennung finden. Nahezu nebenbei fällt eine wichtige Bemerkung: „In Afrika selbst litt die akademische Wissensproduktion erheblich unter den zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Krisen."

Der Beitrag von Manfred Loimeier, der an der Universität Heidelberg zu Afrikanischen Literaturen in englischer Sprache lehrt, zu „Deutschland und die Literaturen Afrikas" erscheint wie herausgefallen aus allen anderen, was aber lediglich zeigt, dass die afrikanische aktuelle Kultur bei uns kaum Beachtung findet und „afrikanische Literaturen hier noch nicht zu Hause sind." Loimeier führt das zu recht auch darauf zurück, dass als Literatur bei uns vornehmlich Romane gelten und Essays, Kurzgeschichten, Gedichte, geschweige denn digitale Veröffentlichungen kaum Aufmerksamkeit finden. Aber auch von den mindestens sechshundert Romanen afrikanischer Autorinnen und Autoren, die wahrgenommen werden sollten, gibt es nur die Hälfte in deutscher Sprache. Was veröffentlicht wird, muss nach Auffassung der französischen Literaturwissenschaftlerin Claire Ducournau eine Form von Exotismus oder „afrikanischer Authentizität" verheißen. Leider folgt Loimeier nun in seinen Ausführungen wesentlich dieser Literaturwissenschaftlerin und ihrer nur in französischer Sprache vorliegenden Studie. Ihre Überlegungen zur Rezeption afrikanischer Literatur in Frankreich versucht Loimeier auf Deutschland zu übertragen und zentrale Parallelen festzustellen. Ein Versuch, der sich als wenig erkenntnisreich erweist. Dazu sind die Unterschiede zu groß angesichts der Kolonialgeschichte Frankreichs, der Tatsache, dass viele afrikanische Autoren in französischer Sprache veröffentlichen und es in Frankreich eine andere literarische Kultur gibt. Dennoch ist der Beitrag von Loimeier sehr lesenswert, weil er eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen vermittelt, wie das „Versprechen darauf, was es aus den afrikanischen Literaturen noch alles zu erfahren und zu entdecken gäbe."

Die folgenden Beiträge des Buches reflektieren unseren internen Umgang mit Afrika in Deutschland. Albert Gouaffo, Professor für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie für interkulturelle Kommunikation an der Universität Dschang in Kamerun (endlich einmal ein Afrikaner) und Stefanie Michels von der Universität Hamburg schreiben über „Afrikanische Kulturgüter und deutsche Museen: Wem gehört was?" Der lesenswerte Beitrag informiert sehr anschaulich über die aktuelle Diskussion in Deutschland, geht auch auf die Positionen in Afrika ein und stellt schließlich zwei alternative Möglichkeiten vor: Einerseits die „Re-Historisierung und Re-Afrikanisierung" oder andererseits „Die Überwindung der symbolischen Gewalt der Gegenwart", womit gemeint ist: „Die entscheidende Frage ist also vielleicht gar nicht „Wem gehört was?", sondern: „Wer entscheidet, in welcher Art und Weise über Kulturgüter gesprochen wird, wie mit ihnen gearbeitet wird und wer überhaupt Zugang zu ihnen hat?" Das trifft in der Tat den Kern des Problems.

Der sehr lesenswerte Beitrag von Joachim Zeller, ein in Namibia geborener und jetzt in Berlin lebender Historiker und Publizist, „Weg vom Vergessen? (Post)Koloniale Erinnerungskultur in Deutschland" setzt sich differenziert mit der deutschen Erinnerungskultur auseinander, wie sie u.a. bei „leipzig-postkolonial" formuliert wird, wenn Vergegenwärtigung kolonialer Vergangenheit verknüpft wird mit „den aktuellen Debatten um Rassismus, globale Ungleichheit und den Umgang mit „Anderen". Zeller beschreibt anschaulich die Geschichte der „Kolonialapologie" und fordert, da auch Deutschland eine „postkoloniale Gesellschaft" sei, „sich der Gegenwart der kolonialen Vergangenheit zu stellen".

Nach dem Beitrag „Zwischen kolonialer Amnesie und konstruktivem Engagement – Postkoloniale Asymmetrien" von Reinhart Kößler gibt der Herausgeber Henning Melber lobenswerter Weise auch Afrodeutschen in dem Sammelband eine Stimme. So schreiben Tahir Della, Aktivist der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland" (ISD) und Bebero Lehmann, Historikerin und Journalistin, ebenfalls aktiv in der ISD und der Initiative „Decolonize Deutschland", über „Afrodeutsche und eine deutsche Afrikapolitik – Zwischen kritischer Aufarbeitung und kolonialen Kontinuitäten". Sie weisen auf den strukturellen Rassismus in der Bundesrepublik und damit auf ein sehr aktuelles Thema hin. Sie belegen, dass „Racial Proffiling" eine Realität ist, und beleuchten den Zusammenhang zwischen Rassismus und den „Gewalttaten gegenüber geflüchteten Menschen". Sie fordern eine „Globale Solidarität" und betonen: „In der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik zeigt sich besonders deutlich, dass die humanitären Werte, auf die sich der Westen bezieht, bis heute nicht für alle gelten." All das hat nach Meinung des Autors und der Autorin wesentlich seine Ursache in der „ignoranten Verdrängung der deutschen Kolonialgeschichte". Leider ist der Beitrag in einigen Ausführungen sehr pauschal und weniger argumentativ.

Das kurze Schlusskapitel des Herausgebers Henning Melber „Herausforderungen deutscher Dekolonisierung" beleuchtet wesentlich am Beispiel des Berliner Humboldt Forums die These: „Die Beziehungen des Westens zu seiner Vergangenheit sind eine aktiv konstruierte, eifersüchtig bewachte und vergiftete Weigerung, sich den Fakten zu stellen." Wer es nach der Lektüre des Buches noch immer nicht begriffen hat, dem wird noch einmal verdeutlicht: „Koloniale Demenz ist irreversibel. Koloniale Amnesie nicht."

Klaus Thüsing