Heft 5/2020, afrika süd-dossier: Afrika-Europa

Die Herrschaft der westlichen Welt ist zu Ende

INTERVIEW MIT DEM POLITOLOGEN KISHORE MAHBUBANI. 200 Jahre haben die westlichen Länder die Welt zur bisher erfolgreichsten Zivilisation geformt. Nun geht unsere Dominanz zu Ende, sagt der Politologe Kishore Mahbubani. Der Osten mit China an der Spitze übernimmt die Macht. Das Interview mit Mahbubani führte Gordana Mijuk, London, 2018 für die NZZ. Seine Kernaussagen sind zwei Jahre später aktueller denn je.

NZZ am Sonntag: Der Westen ist im Niedergang. Das ist die These Ihres neuen Buches. Wie kommen Sie darauf?
Kishore Mahbubani: Der Westen hat das Vertrauen in die Zukunft verloren, das Vertrauen, dass das Leben morgen besser wird. Nie waren Menschen in westlichen Ländern so pessimistisch. Im Rest der Welt macht sich dagegen Optimismus breit. Hier glauben neuerdings Milliarden von Menschen, dass ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder besser sein wird als das der Eltern. Da ist eine psychologische Revolution im Gange. Eine Umfrage von 2017 zeigt: In alten Industrienationen glauben nur 36 Prozent der Millennials, also der 20- bis 35-Jährigen, dass die Zukunft für sie besser wird. In aufstrebenden Ländern liegt dieser Anteil bei 71 Prozent. Das ändert alles.

Sie stützen Ihre Untergangs-These auf die Psychologie ab?
Nicht nur. Schauen Sie folgende Statistik an. 1980 sorgten die USA noch für einen Viertel der weltweiten Wirtschaftsleistung, Chinas Anteil lag bei 2,2 Prozent. 2017 hat China die USA überflügelt. Amerika ist nicht in absoluten Zahlen geschrumpft, aber im Verhältnis zum globalen wirtschaftlichen Output. Der Westen hat lange Jahre die Welt geformt, und sie zu erfolgreichsten Zivilisation gemacht. Ihm verdanken wir die Renaissance, die Aufklärung, die wissenschaftliche Methode. Aber diese Ära geht nun zu Ende. Noch hat keine westliche öffentliche Persönlichkeit den Mut gehabt, dies auszusprechen.

Wann hätten wir im Westen merken müssen, dass seine Dominanz zu Ende geht?
Die Terroranschläge in den USA von 2001 wurden von Intellektuellen und Politikern als wichtigstes Ereignis des Jahres behandelt. Dabei übersahen die USA und Europa, dass das bedeutendste Ereignis in ebendiesem Jahr der Beitritt der Chinesen zur Welthandelsorganisation war. Dieser Beitritt führte rückblickend zu einem weit größeren Erdbeben als die Anschläge. Er führte zur enormen Zerstörung von Stellen im Westen und leitete den Aufstieg des Ostens ein. Die alte Elite war blind dafür. Doch die einfache Bevölkerung spürte diese Umwälzungen am eigenen Leib, im Arbeitsmarkt. Der Niedergang erklärt auch Ereignisse wie die Wahl von Trump und den Brexit in Europa.

Und wieso hat man das nicht kommen sehen?
Westliche Intellektuelle haben in vieler Hinsicht versagt. Sie haben sich nach dem Ende des Kalten Krieges in den Essay von Francis Fukuyama verliebt, der besagt, dass mit der westlichen liberalen Demokratie das Modell für alle Ewigkeit gefunden wurde und damit das Ende der Ideologie-Geschichte erreicht ist. Fukuyamas Essay war eine Art Opiat für das westliche Denken. Der Westen setzte sich danach in den Schlafwagen. Er merkte nicht, dass zwei Riesen gerade erwachten: China und Indien.

Der Westen mag wirtschaftlich schwächeln. Doch er dominiert weiter die Popkultur. Filmstars sind weiß und Kultprodukte werden im Silicon Valley erfunden. Ändert sich das auch?
Die amerikanische Softpower ist tatsächlich noch immer die globale Nummer 1. Auch Europa wird sehr verehrt. Dennoch ist die Zeit, in der der Westen das Monopol in diesem Bereich hatte, vorüber. Bollywood aus Indien ist in der ganzen Welt erfolgreich. Auch in unterschiedlichen Ländern wie Kuba oder Marokko. Und die koreanische Welle, also die zeitgenössische südkoreanische Popkultur, hat nicht nur ganz Asien getroffen, sondern auch Indien, den Mittleren Osten, Nordafrika und Südamerika. Eine kosmopolitische Welt ist eine bessere als die heutige.

Wie erklären Sie sich denn den Fortschritt des Ostens?
Gerade im asiatischen Raum haben unmerkliche Revolutionen stattgefunden, die auf Erkenntnissen des Westens basieren. Für tausend Jahre waren die asiatischen Gesellschaften tief feudalistisch geprägt. Gewaltherrscher regierten, und das Schicksal einer Person war von Geburt an bestimmt. Da gab es kein Entrinnen. Der Aufstand gegen dieses Denken im 20. Jahrhundert war enorm befreiend. Die einstigen Despoten erkannten, dass sie verantwortlich sind für ihr Volk.

Zum Beispiel?
Der chinesische Führer Mao Zedong war noch der traditionelle Herrscher, dessen Erlasse viel Leid in der Bevölkerung verursachten. Deng Xiaoping war der erste, der realisierte, dass er für sein Volk verantwortlich ist und das Leben der Menschen verbessern muss. Er bildete das Volk aus, öffnete den Chinesen die Welt. Das hat die Gesellschaft komplett verändert. Auch Herrscher in Burma, Bangladesh oder Pakistan wissen heute, dass sie eine Verantwortung tragen für die Bevölkerung.

Diese Länder sind weit weg von einer Demokratie.
Der Westen glaubt immer, Fortschritt sei nur möglich in einer Demokratie. China widerlegt die These. Interessant ist, dass just jetzt die demokratischen Prozesse die USA und Großbritannien tief polarisieren und vor eine Zerreißprobe stellen. Der Westen sollte sich fragen, wie seine Demokratie auf einen falschen Pfad gelangt ist.

Was wird denn jetzt passieren, wenn China die globale Vormachtstellung übernimmt?
Der Westen muss als Erstes seine Macht mit dem Rest der Welt teilen. Bisher war es zum Beispiel Usus, dass der Chef des Internationalen Währungsfonds immer ein Europäer war und jener der Weltbank ein Amerikaner. Das mag in einer Welt, als der Westen mehr als 50 Prozent der Wirtschaftsleistung erbrachte, angebracht gewesen sein. Doch nicht, wenn die aufstrebenden Länder unter dem Strich mehr Leistung erbringen als der Westen. Wenn Indien bis 2020 nicht im Uno-Sicherheitsrat wäre, aber dafür Frankreich und Großbritannien, wäre das schon absurd.

Europa und die USA trauen den Chinesen nicht recht. Sie sind bedrohlich.
In westlichen Köpfen steckt der Mythos der gelben Gefahr. Die Angst vor den gelben Völkern, die den Westen überrennen, wie einst die Mongolen. Die Angst ist Hunderte Jahre alt. Der Westen sollte sich langsam davon lösen.

Die Skepsis hat mit unterschiedlichen Werten zu tun. Wir glauben an Demokratie, Freiheiten, Menschenrechte.
Als ich 1980 nach China reiste, hatten die Chinesen alle die gleichen Kleider an, maoistische Anzüge. Sie hatten kein Recht, anzuziehen, was sie wollten; sie konnten nicht lernen, was sie wollten; sie konnten nicht arbeiten, was sie wollten; sie konnten nicht reisen. Heute tragen die Chinesen, was sie wollen. Und 120 Millionen Chinesen reisen rund um die Welt – und kehren wieder in ihre Heimat zurück. Es muss also genug Freiheiten geben in China, dass man dort glücklich leben kann. Sogar die Mehrheit der Gelehrten, die an Universitäten in den USA, im Land der Freiheit, studieren und lehren, geht zurück nach China. Wir müssen China respektieren, so wie es ist.

Wie würde denn eine Weltordnung aussehen, in der China und Indien die Supermächte sind?
China und Indien wollen die gegenwärtige Ordnung nicht umstürzen. Aber wenn sie nicht mehr Einfluss erhalten in den Institutionen, werden sie wohl eigene aufbauen. Ich hoffe, der Westen wird dem Rest der Welt erlauben, die Welt mitzugestalten. Gleichzeitig müssen die globalen multilateralen Institutionen gestärkt werden, nicht geschwächt. Aber genau das machen die Amerikaner.

Sie sprechen von der Uno?
Die Uno ist schwach. Und weshalb? Ich war jahrelang Uno-Botschafter für Singapur. Während dieser Zeit waren sich die USA und Russland stets uneinig. Gleicher Meinung waren sie aber im Wunsch, die Uno zu unterminieren. Deshalb wählten sie immer schwache Generalsekretäre aus. Die einzige Ausnahme war die Wahl von Antonio Guterres. John Bolton, der neue Nationale Sicherheitsberater von Donald Trump, findet, die Uno sollte abgeschafft werden. Das Schlimme daran ist, dass ihm niemand widerspricht.

Wenn China die USA als Supermacht ablöst, geht es wohl auch um militärische Macht.
China hat kein Interesse, die Welt zu erobern. Das Land wird sich davor hüten, die globale Ordnung zu destabilisieren. Viele fürchten sich derzeit vor einem Krieg im Südchinesischen Meer oder vor einem Konflikt zwischen China und Japan. Aber es wird keinen Krieg geben. Das wäre für die Chinesen ein großer Rückschlag. China will weiter wachsen.

Und wieso rüstet China denn so stark auf?
China hat die Militärausgaben beachtlich gesteigert, so wie es sein Bruttoinlandsprodukt beachtlich gesteigert hat. Die Amerikaner werfen den Chinesen vor, sie würden die Uno-See-Konvention im Südchinesischen Meer brechen. Das mag zwar stimmen. Aber die Amerikaner haben diese Konvention ja nicht einmal ratifiziert. Man kann den Chinesen nicht vorschreiben, einem Richter zu gehorchen, den man selbst nicht anerkennt. Die USA haben stets den politischen Alleingang zelebriert. Dabei widerspricht das ihren eigenen langfristigen Interessen. Die Chinesen fokussieren auf die Wirtschaft. An ausländischen Interventionen sind sie nicht interessiert.

Eben diese ausländischen Interventionen etwa der USA kritisieren Sie scharf.
Ja, mit dem Einmarsch in den Irak 2003 etwa haben der Westen und insbesondere die USA ihren Hochmut und ihre Inkompetenz gezeigt. Sie eroberten Irak als Rache für die Terrorattacke von Osama bin Ladin. Doch das war nicht die einzige Sünde. Der Westen hat in der islamischen Welt in den letzten zwei Jahrhunderten Ungeheuerliches angerichtet. Diese Historie wird auch die nächsten 200 Jahre zwischen dem Islam und dem Westen prägen. Der Nahe Osten muss sein Schicksal aber selber in die Hand nehmen.

Die USA hielten sich in den letzten sieben Jahren im Syrienkrieg ziemlich zurück. Doch dadurch entstand ein Vakuum, das von neuen Akteuren wie Russland, Iran und der Türkei gefüllt wurde. Das Chaos ist riesig.
Es gibt Regionen, die muss man sich selber überlassen. Südostasien war genau so eine Unruheregion. Vietnam etwa oder Kambodscha mit den Roten Khmer. Pol Pot tötete mehr Menschen als das Asad-Regime in Syrien. Damals glaubte man, die Region sei hoffnungslos. Doch die Region fand selbst aus dem Schlamassel, und heute ist Südostasien befriedet.

US-Präsident Donald Trump will sich aus ausländischen Abenteuern zurückziehen. Liegt er also richtig?
Er weiß, dass das amerikanische Volk keine Soldaten mehr schicken will. Ich teile Trumps America-First-Strategie. Aber der Alleingang ist nicht die Lösung, sondern Kollaboration. Amerika muss auch unter Trump ein Interesse an einer stabilen Ordnung haben.

Der Westen wirkt in dieser neuen Weltordnung auch ängstlich. Autoritären Staaten wie Russland kann er kaum Paroli bieten. Wladimir Putin kann schalten und walten, wie er will. Der Westen tut wenig. Weshalb?
Der Westen macht einen fundamentalen Fehler in seinem Verständnis von Russland: Er schaut nur auf Russlands Verhalten, seit Putin gewählt und an der Macht ist. Er sieht jedoch nicht, was für Ressentiments und was für eine Wut der Westen in der russischen Bevölkerung verursacht hat. Putin ist so populär, eben weil er diesem aggressiven Westen die Stirn bietet.

Er hat einen Teil eines anderen Landes annektiert und Völkerrecht gebrochen. Russland ist nicht nur ein Unschuldslamm.
Dass die Osteuropäer vor Russland Angst haben, ist nachvollziehbar. Aber ein Russland, das in der westlichen Ordnung integriert ist, ist viel stabiler als ein ausgeschlossenes Russland. Putins strategischer Albtraum ist nicht länger Napoleons oder Hitlers Armee. Es gibt keine Gefahr, dass deutsche Panzer nach Russland steuern. Europas langfristige Herausforderung ist China. Russland wird von sich aus näher nach Europa rücken. Deshalb sollte der Westen ein neues Verhältnis zu Putin finden. Er wird Kompromisse machen müssen und der Westen auch. Leider ist den westlichen Politikern diese Fähigkeit etwas abhanden gekommen.

Was ist die Rolle Europas in dieser neuen Welt?
Die Europäer müssen die Bündnisse zu verschiedenen Partnern stärken und sich gegen die Amerikaner auflehnen, etwa beim Nuklear-Deal mit Iran. Das Abkommen ist nicht perfekt, aber gut. Und Iran hält sich an die abgemachten Bedingungen. Eine Aufkündigung vonseiten der USA wäre dumm. Wieso sollte Nordkoreas Kim Jong Un künftig Abmachungen mit Amerika unterzeichnen, wenn er weiß, dass sich das Land nach kurzer Zeit davon distanziert?

Ist die EU stark genug, um sich von der USA zu emanzipieren?
Die EU muss endlich einsehen, dass sie andere Interessen hat als Amerika. In der Geopolitik geht es vor allem um Geografie. Die größte Herausforderung für die USA ist China. Jene für Europa ist Afrika. Afrikas Bevölkerung war 1950 halb so groß wie jene von Europa. 2100 wird Afrika eine zehnmal größere Bevölkerung haben als Europa. Wenn dieser Kontinent wirtschaftlich nicht wächst, hat dies fatale Auswirkungen auf Europa. Denken wir nur an die Flüchtlingsströme. Deshalb sollte Europa in Afrika mit jenem Land zusammenarbeiten, das dort investiert. Und das ist China.

Kishore Mahbubani, 1948 in Singapur geboren, lehrt Politologie an der National University in Singapur. 2018 erschien sein Buch „Has the West Lost It? A provocation" (Penguin Books), sein jüngstes Werk trägt den Titel „Has China won? The Chinese challenge to American primacy", PublicAffairs, New York 2020.
Das hier gekürzte Interview entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung vom 21.4.2018
https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/die-herrschaft-der-westlichen-welt-ist-zu-ende-ld.1379558