HERAUSFORDERUNGEN (NICHT NUR) DEUTSCHER DEKOLONISIERUNG. Über ein Jahrhundert nach dem Ende deutscher Kolonialherrschaft sind koloniale Ideologien weiterhin integraler gesellschaftlicher Bestandteil. Das Engagement zivilgesellschaftlicher postkolonialer Initiativen stößt neben Zustimmung auch auf vehemente Abwehr. Von einer Dekolonisierung sind dominante Weltanschauungen noch weit entfernt.
Der britische Historiker David Andress stuft die heutigen Großmachtallüren und die Geschichtsverdrängung in Großbritannien, Frankreich und den USA in Zeiten des reaktionären nationalistischen Populismus als kulturelle Demenz ein. Diese habe Formen des Vergessens, der Fehlerinnerung und des Missverstehens der Vergangenheit. Es handelt sich ihm zufolge weder um eine besondere Form von Nostalgie, noch um Amnesie. Den Dementen bleibt es verwehrt, um den Verlust ihrer Erinnerungen zu wissen. Unter Verweis auf die Vergangenheitsbewältigung mit Bezug auf den Holocaust nimmt er Deutschland explizit von dieser Diagnose aus. Den Umgang mit dem deutschen Kolonialismus hat er nicht im Blickfeld. Zwar wäre es falsch, deutsche koloniale Geschichtsklitterung als Demenz zu charakterisieren. Was Andress für die drei Staaten seiner Analyse beschreibt, trifft aber auch auf Deutschlands Umgang mit der kolonialen Vergangenheit zu: Dieser verdrängt die eigentliche Geschichte sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung. Die „patriotische" Identität umgarnt Menschen mit einem Selbstverständnis zum Nachteil der Nicht-Dazu-Gehörigen. Sie basiert auf einem rassisch – und in seiner Konsequenz rassistisch – geprägten Entwicklungspfad und -verständnis.
Mythos Entwicklung und Fortschritt
Entwicklung und Fortschritt bleiben in diesem Verständnisrepertoire zentrale Begrifflichkeiten, die seit dem Zeitalter der Aufklärung mit einer ideologisch verbrämten Hierarchisierung von Menschen und deren Gesellschaften zu tun haben. Dies fördert eine Wertigkeit, die mit der Herabstufung Anderer einher geht. Als Mittelpunkt der Zivilisation und einer allein erstrebenswerten Daseinsform gelten die westlich-industriellen Produktions- und Lebensweisen. Der solch kolonialem Blick inhärente Rassismus und die davon motivierten Gewaltorgien bedürfen weder in der deutschen noch in jeder anderen Kolonialgeschichte kaum großer Anstrengungen zu ihrer Enttarnung. Zu offensichtlich war die selbsternannte „zivilisatorische Mission" der Kolonisierenden davon motiviert, sich die Welt untertan zu machen.
Interessanter ist die Hartnäckigkeit, mit der sich bis in unsere Zeit eine Verweigerung hält, diese Wirklichkeiten anzuerkennen. Die beharrliche Abwehr einer substanziellen Befassung mit dem Wesen des Kolonialismus kommentierte der Kolonialhistoriker Helmut Bley schon 1983 im Vorfeld der hundertjährigen Wiederkehr der Berliner Afrika-Konferenz, zu der gleich mehrere kolonialapologetische oder zumindest verharmlosende Werke erschienen: „Die deutsche Kolonialgeschichte ist deshalb auch unerledigt, weil sie die Erinnerung daran wecken kann, daß ... in dieser Gesellschaft gewalttätige Traditionen vorhanden sind, die sich nicht auf den ‚Dämon' Hitler reduzieren lassen, sondern die in sozusagen ‚normalen' Zeiten, im Grunde in der ‚guten alten Zeit' sich vollzogen."
Zur Rechtfertigung und Entlastung dienen „Autobahnargumente" (soll heißen: Nicht alles unter Hitler war schlecht, so wurden Arbeitslosigkeit reduziert und Autobahnen gebaut). Robert Koch, so wird behauptet, wog am Ende Carl Peters auf. Wie Gesine Krüger klar stellt, werden damit in irreführender Weise reklamierte individuelle „Kulturleistungen" gegen die verheerenden strukturelle Dimensionen und Folgen des Kolonialsystems für die kolonisierte Bevölkerung aufgerechnet: „Selbst wenn alle Kolonialbeamten und -militärs sehr nett gewesen wären, was sie nicht waren, ändert das nichts daran, dass die europäischen Mächte danach strebten, einen Kontinent unter sich aufzuteilen und den erwartbaren Widerstand in brutalster Weise mit Mitteln der Aufstandsbekämpfung niederschlugen, der häufig eine Politik der verbrannten Erde folgte."
Vorhandenes Wissen bleibt oftmals noch immer geleugnetes Wissen und verhindert so auch nicht, dass apologetische oder relativierende Meinungen weiterhin integraler Bestandteil einer deutschen Dominanzkultur sind. Auch Andress betont, dass es jede Menge mit fundierter Literatur bestückte Bibliotheken und Buchgeschäfte gibt und zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Studierenden und allen anderen, die es hören wollen (oder auch nicht), seit mindestens einer Generation zu erklären versuchen, wie es wirklich war. Das Problem der Geschichtsverdrängung oder -leugnung aber bleibt, wenn Menschen weder hören noch lernen wollen.
Trotz einer markanten Zunahme von Forschungsergebnissen, die kolonial verantwortete dauerhaften Zerstörungen eindeutig belegen, hat die Verharmlosung des deutschen Kolonialismus als „Abenteuer" oder „Episode" auch in der deutschen Dominanzkultur überlebt. Dass die Relativierung kolonialer Folgen vor Politikern innerhalb des Establishments nicht Halt macht, dokumentierte spektakulär Günter Nooke. Der Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin erklärte in einem am 7. Oktober 2018 in der „Berliner Zeitung" veröffentlichten Interview: „Der Kalte Krieg hat Afrika mehr geschadet als die Kolonialzeit." Leider bleiben solche Entgleisungen weiterhin ziemlich folgenlos und führen nicht dazu, dass die deutsche Entwicklungs- und Afrika-Politik auf die zugrunde liegenden weltanschaulichen Prämissen hin geprüft und revidiert wird. Selbst Herr Nooke ist trotz selbstgerechter Zurückweisung aller Kritik weiter im Amt.
Kolonialapologetischer Revisionismus
Nicht nur in Deutschland gibt es einen Terraingewinn postkolonialer Diskurse zu verzeichnen. Die Forderungen nach mehr globaler Gerechtigkeit durch die Bearbeitung der kolonialen Gewaltverhältnisse, verbunden mit einer sowohl ideellen als auch materiellen Verantwortung für deren Langzeitfolgen, sind deutlich lauter geworden. Als eine erkennbare Diskursverschiebung kann neben den von lokalen postkolonialen Initiativen beförderten Aktionen und Kampagnen zur Umbenennung öffentlicher Einrichtungen, Plätze und Straßen sowie zur Errichtung kolonialer Mahnmale und Gedenkorte insbesondere auch die in der öffentlichen Sphäre aufmerksam verhandelte Identifizierung und Rückführung geraubter Kulturgüter – einschließlich Tausender menschlicher Gebeine – gelten.
Dies mag als ein positiver Faktor betrachtet werden, um den rasanten Aufstieg des rassistisch-nationalistischen Rechtspopulismus nicht nur in den deutschen Landen auch als eine Reaktion auf Bedrohungsängste zu deuten und zu verstehen (nicht, dass es diese Reaktionen dadurch akzeptabler macht). Neuerdings wird wieder vermehrt die „zivilisatorische Mission" der gewaltsamen Ausbreitung Europas auf den Rest der Erde reklamiert. An vorderster Front agiert dabei die Alternative für Deutschland (AfD), die so gar keine Alternative ist. Durch die Reklamierung kolonialer „Errungenschaften" und die Leugnung des Völkermords in der Kolonie Südwestafrika werden alte Stereotypen reanimiert (siehe dazu Aram Ziai in afrika süd Nr. 3/2020).
So oder so ähnlich hätten sich diese wohl auch ohne den postkolonialen Diskurs entfaltet. Aber hätte es nicht die durch das Land Baden-Württemberg und das Stuttgarter Linden-Museum beschlossene Rückgabe zweier prominenter im frühen Krieg gegen Hendrik Witbooi erbeuteter Exponate nach Namibia gegeben, hätte der fraktionslose AfD-Politiker Wolfgang Gedeon wohl kaum im März 2019 im Stuttgarter Landtag behauptet: „Der Kolonialismus ist ein Zeichen dafür, dass die europäische weiße Rasse anderen Völkern und Ethnien zivilisatorisch überlegen war." Er fügte hinzu, „dass man den Völkern dort eine Menge an Blut, eine Menge an Schweiß erspart hat durch die Kolonialisierung". Er plappert damit dem AfD-Rechtsausleger Björn Höcke nach, der in seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss" dem deutschen Kolonialismus das Verdienst zuschreibt, die Kultur nach Afrika gebracht zu haben.
Speziell Angehörige privilegierter Gruppen haben, wie David Andress bemerkt, keine Lust, Historikern zuzuhören, die ihnen Schlechtes über ihre geschätzten Identitäten erzählen. Sie sind nicht an wirklicher Geschichte interessiert. Ihnen behagt die Schmusedecke des Halb-Erinnerns. Expertise, so Andress weiter, vermag die Schichten der Mythologisierung kaum abzutragen. Die Beziehungen des Westens zu seiner Vergangenheit sind eine aktiv konstruierte, eifersüchtig bewachte und vergiftete Weigerung, sich den Fakten zu stellen. Diese sind bekannt, aber emotional und politisch unbequem. So gibt es keine Bereitschaft, sich mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen.
Fallstricke und Stolpersteine
Auch diejenigen, die keiner Amnesie anheimfallen, sind keinesfalls immunisiert. Sozialisiert in einer „Tätergesellschaft", ist auch das Wissen darum noch kein vollständiger Schutz vor Denk- und Sprachmustern, die von der Dominanzkultur infiziert sind. Insofern weisen neuere Studien zurecht auf eine nötige Selbstreflexion hin, die auch die eigene „emanzipatorisch" intendierte Wissensproduktion kritisch prüft. Gesine Krüger fragt so zurecht: „Ist nicht vielmehr genau die Tatsache, dass wir es uns leisten können, uns nur mit afrikanischer Geschichte zu beschäftigen, wenn sie unmittelbar bedeutungsvoll für unsere eigene Geschichte und Auseinandersetzung mit historischer Schuld ist, nicht weit mehr noch eine Fortführung kolonialer Dominanz?"
Macht und Wissen spielen nicht nur bei der Herausbildung und Stabilisierung kolonialer Wissens- und Machtverhältnisse eine entscheidende Rolle. Auch deren kritische Hinterfragung bedient sich häufig ähnlicher Denk- und Ausdrucksweisen, verrät die Verortung in derselben (Dominanz-)Gesellschaft und ist von deren Sozialisationseffekten beeinflusst. Der Fokus auf den verbrecherischen Unrechtskontext reduziert zumeist afrikanische Stimmen auf die der Opfer und verdeckt deren Rolle als eigenständige Subjekte. Die Überwindung solcher Grenzen bleibt eine große Aufgabe. Doch selbst wenn ein Narrativ mit Perspektiven „der Anderen" hinreichend gelingen sollte, wäre dies wohl kaum von stärkerer Überzeugungskraft in der Öffentlichkeit. Das soll jedoch nicht dazu führen, dass wir das Handtuch werfen.
Eine zumindest indirekt damit verbundene Herausforderung bleibt in der Asymmetrie, die zwischen dem (Selbst-)Verständnis eines in der historischen Verantwortung stehenden ehemaligen Kolonialstaates und den (nicht-)staatlichen Akteuren in einer ehemaligen Kolonie besteht. Dies berührt auch ungelöste Komplexitäten bezüglich des Anrechts auf Entgegennahme geraubter Kulturgüter innerhalb dieser Gesellschaften, deren Strukturen sich seit der Kolonialzeit modifiziert und durch zentralstaatliche Instanzen eine neue Wirklichkeit geschaffen haben. – Was keinesfalls als Ausrede missbraucht werden darf, eine solche Rückgabe zu unterlassen.
Kulturelle Demenz (Andress) ist irreversibel. Koloniale Amnesie nicht. Sie vermag das vorhandene Wissen zu ignorieren oder sich dagegen immunisieren. Im Falle einer Aufgabe der Verweigerung lässt sich dieses Wissen aber zu eigen machen. Dass es dieses Wissen gibt, ist hingegen kein Beweis für die Inexistenz von Amnesie bzw. derer Heilung. Erst die Aneignung und als Konsequenz die Nutzbarmachung im Sinne der Anwendung und Umsetzung des Wissensbestands kuriert Amnesie. Die Überwindung der „Gedächtnislücken" erfordert eine grundlegende Revidierung von Sicht- und Verhaltensweisen auch in der Alltagswelt und Politik. Bis dahin ist es noch ein langer, beschwerlicher Weg. Er verlangt viel Ausdauer und Beharrlichkeit, ständige Selbstprüfung und kritische Reflexion, die eigene Grenzen und Beschränkungen erkundet, akzeptiert und zu reduzieren versucht.
Henning Melber
Dieser Text basiert auf Teilen des Einleitungs- und Schlusskapitels in dem von Henning Melber herausgegebenen Sammelband „Deutschland und Afrika – Anatomie eines komplexen Verhältnisses" (siehe die Besprechung in diesem Heft).
Literatur
David Andress, Cultural Dementia. How the West has Lost its History, and Risks Losing Everything Else. London: Head of Zeus 2018.
Helmut Bley, Unerledigte deutsche Kolonialgeschichte. In: Entwicklungspolitische Korrespondenz (Hrsg.), Deutscher Kolonialismus. Materialien zur Hundertjahrfeier 1984. Hamburg: Gesellschaft für entwicklungspolitische Bildungsarbeit 1983, S. 11-18.
Gesine Krüger, Koloniale Schuld und afrikanische Geschichte. Es ist Zeit für einen neuen historische Blick auf das koloniale Afrika. Geschichte der Gegenwart, 6. Juni 2018. https://geschichtedergegenwart.ch/koloniale-schuld-und-afrikanische-geschichte-es-ist-zeit-fuer-einen-neuen-historischen-blick-auf-das-koloniale-afrika/