Heft 5/2021, Rezension

Koloniale Raubkunst hinter Berliner Mauern

Götz Aly
Das Prachtboot – Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten
S. Fischer Verlag, Mai 2021, 235 S., 21 Euro

In vielen ethnologischen Sammlungen deutscher Museen befindet sich neben Raubkunst aus Afrika auch jene aus weniger bekannten Kolonien, wie Deutsch-Neuguinea. Ein Blick auf dortige Aneignungspraktiken komplettiert das koloniale Gewaltpanorama und wirft weitere Fragen auf. Wer sich für den deutschen Kolonialismus interessiert, sollte „Das Prachtboot – Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten" des Historikers Götz Aly gelesen haben.

Als das Humboldt-Forum in Berlin gebaut wurde, musste zunächst eine Mauer offengelassen werden, damit das Luf-Boot unbeschadet hineingelangen konnte. Die jetzige Besitzerin des Luf-Bootes, die Stiftung für Preußischen Kulturbesitz, könnte, wenn es nach Götz Aly geht, eines Tages ebenjene Berliner Mauer wieder einreißen, wenn das Luf-Boot die Rückreise zu seinen Eigentümer:innen antritt, die in Papua-Neuguinea leben. Wie Aly findet, wäre das Einreißen der Mauer „gewiss kein unüberwindliches Problem. In Berlin verbindet sich das Einreißen von Mauern mit den allerschönsten Erinnerungen" (S. 193).

Seit ein paar Jahren gibt es in Europa neue Diskussionen um den Kolonialismus und deren postkoloniale Folgen, die u. a. in Form von Kulturobjekten in europäischen Museen nachwirken. Neben Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent „erwarb" das deutsche Kaiserreich zwischen 1884 und 1914 auch Deutsch-Neuguinea im Westpazifik, das in Kaiser-Wilhelms-Land (der Nordosten der Insel Neuguinea) und das Bismarck-Archipel unterteilt war.

Erinnerungen an Deutsch-Neuguinea sind in der deutschen Öffentlichkeit jedoch kaum vorhanden. Eine NDR-Dokumentation aus 2018 mit dem Titel „Deutsches Schutzgebiet Bismarck Archipel – Tropisches Paradies mit deutscher Kolonial-Vergangenheit" überwindet den kolonialen Blick nicht, spricht weiterhin von „Naturvölkern" und erwähnt die deutsche Kolonialzeit nur am Rande, wenn es um die einzige deutsche Kreolsprache Unserdeutsch geht. Von Gewalt, Strafexpeditionen oder Schuld ist keine Rede. Erinnerungen an die deutsche Südseekolonie wurden bis heute mehrfach überlagert. Erstens dadurch, dass manche Gruppen oder Ethnien in der Südsee damals komplett vernichtet wurden und es daher weder schriftliche Quellen noch mündliche Überlieferungen mehr von ihnen gibt. Zweitens durch die Diskussionen über andere deutsche Kolonien (etwa Namibia und Tansania), drittens von erinnerungspolitischen Diskussionen über die deutsche Teilung und die Weltkriege.

Doch auch über 100 Jahre nach den kolonialen Gräueltaten ist es unumgänglich, die koloniale Amnesie zu überwinden und sich mit einem kritischen Blick dem deutschen Kolonialismus zu nähern. Es gilt, neue Quellen zu sichten, diese aufzuarbeiten, neu zu bewerten und Konsequenzen zu ziehen. Dabei wirft das neugebaute Humboldt-Forum unabsichtlich Fragen auf: Welche Objekte werden dort ausgestellt? Wie sind sie nach Berlin gekommen und welche Vergangenheit bzw. Provenienz haben einzelne Objekte? Von wem und unter welchen Umständen wurden die Objekte angeeignet, erworben oder geraubt? Welche Rolle spielten die Militärschiffe, z. B. S.M.S. Carola oder Hyäne in der Südsee? Was haben die Benin-Bronzen von 1898 aus dem heutigen Nigeria mit dem Luf-Boot von 1902/03 aus dem heutigen Papua Neuguinea gemeinsam? Wer ist neben der heutigen Besitzerin (Stiftung für Preußischen Kulturbesitz) legitimer Eigentümer des Luf-Bootes und von etwa 65.000 weiteren Objekten aus der Südsee?

Eine zentrale Quelle von Aly, auf die er gleich zu Beginn aufmerksam macht, ist die 2005 erschienene Dissertation von Alexander Krug mit dem vielsagenden Titel „Der Hauptzweck ist die Tötung von Kanaken – die deutschen Strafexpeditionen in den Kolonien der Südsee 1872 - 1914". Laut Krug gab es in den 30 Jahren des deutschen Kolonialismus in der Südsee trotz lückenhafter und fehlender Quellen mindestens 200 bis 300 sogenannte „Strafexpeditionen", bei denen Tausende unmittelbar umkamen, auf der Flucht ertranken oder nach der Politik der Verbrannten Erde (Häuser verbrennen, Vorräte vernichten, Fischernetze zerschneiden etc.) verhungerten. Zudem starben laut Gouverneur Albert Hahl etwa 25 Prozent der etwa 85.000-100.000 Arbeitskräfte im Schutzgebiet durch harte Plantagenarbeit, was Krug „Vernichtung durch Arbeit" nennt. Melanesier:innen galten deutschen Kolonialbeamten lediglich als billiges Arbeitsmaterial. „Eine kleine Clique von weitestgehend autonomen Beamten führten das Herrenmenschentum im Pazifik ein und machte den Kanaken zum minderwertigen Untermenschen. ... Die Auslöschung kleiner Ethnien durch eine Strategie der massenhaften Vergeltung korrespondiert mit dem Vernichtungskrieg, der in Deutsch-Südwestafrika gegen die Herero und Name geführt wurde."

Neben der deutschen Marine, die mit Kriegsschiffen vor Ort war, koordinierten ein paar Dutzend Polizeikräfte Gewaltaktionen, bei denen man verschiedene Gruppen unter Einsatz von Söldnern verfeindeter Ethnien gegeneinander ausspielte. Weiter heißt es bei Krug: „Menschenleben auszulöschen – unabhängig von ihrer persönlichen Schuld –, wurde zum festen Bestandteil jeder Strafexpedition. Die Kollektivhaftung eines ganzen Volkes für das Verbrechen einzelner Mitglieder nahm in Einzelfällen Formen eines Genozides an."

Nun wurde das Luf-Boot, um das es Aly in seinem Buch beispielhaft geht, in ebendiesem kolonialen Gewalt- und Unrechtskontext um 1902/1903 auf der Insel Luf von den Hermit-Inseln „angeeignet", „erworben", „getauscht" und/ oder „gestohlen". Das Spektrum kolonialer Praktiken war breit, die Übergänge fließend und die Quellenlage ungenau und einseitig. Die Einwohner:innen der Insel Luf, so viel ist klar, gibt es heute nicht mehr. Laut einiger Quellen haben sich die Luf-Menschen kollektiv dazu entschieden, nicht mehr existieren zu wollen. Andere Quellen legen nahe, dass wenige Jahrzehnte kolonialer Herrschaft (samt Krankheiten, Zwangsarbeit und Terror) ausgereicht haben, um jahrtausendealte Kulturen teilweise oder komplett auszulöschen. Noch einmal Krug: „Das Massaker des Kanonenbootes Hyäne Ende 1882 auf den Hermit-Inseln kann ... als erster deutscher Völkermord bewertet werden." Ob man Krug in seinem Völkermord-Begriff zustimmt oder nicht, könnte der Beginn einer Debatte sein, die zumindest in der Öffentlichkeit erst ganz am Anfang steht.

Obwohl koloniale Subjekte einerseits als kulturlose Kanaken (ursprünglich: hawaiianisch kanaka maoli für Menschen, einfache Leute) verunglimpft wurden, waren ihre Kulturobjekte andererseits ab den 1870er-Jahren in ganz Europa als Kuriositäten heiß begehrt. Da vielen Händlern, Abenteurern, Wissenschaftlern, Pflanzern, Missionaren und Kolonialbeamten früh klar wurde, dass jene Kulturobjekte begrenzt sind und auf absehbare Zeit keine neuen mehr geschaffen werden würden, war der Wettkampf um möglichst vollständige koloniale Serien eröffnet. Berlin war dabei auf Boote spezialisiert. Götz Aly legt in seinem Buch mehrere Quellen offen, die nahelegen, dass das Luf-Boot bandenmäßig geraubt wurde. Von einem Kaufvertrag auf Augenhöhe zwischen Käufer und Verkäufer kann keine Rede sein.

Es wird Zeit, so Aly, die Hinhaltetaktik der Stiftung für Preußischen Kulturbesitz und ihres Präsidenten Hermann Parzinger zu beenden. Die Direktor:innen sämtlicher deutscher Ethnologischer Museen sollten laut Aly sehr viel offener, als in der Heidelberger Erklärung von 2019 geschehen, Inventarlisten anlegen und Provenienz-Forschung unterstützen. Die deutsche Öffentlichkeit sollte zudem aktiv miteinbezogen, anstatt mit Wortnebeln abgelenkt werden.

Rene Vesper