Heft 5/2022, afrika süd-dossier: Glaube und Religion

Authentischer afrikanischer Weg

RÜCKBESINNUNG AUF AFRIKANISCHE SPIRITUELLE ÜBERZEUGUNGEN. Studien zur Christianisierung Afrikas während der Kolonialzeit zeigen klar die Verbindung der drei Mächte Kirche, Handel und Militär. Das Dreigespann handelte im Dienste des Kolonialismus mit der Absicht, die afrikanischen Menschen zu vernichten, indem es sie ihrer kulturell-spirituellen Dimension beraubte. Sich dieses Machtverlustes bewusst, geht es um die Wiedergeburt Afrikas, um die Schaffung eines „authentisch afrikanischen Gesellschaftsordnung".

Von Jean-Pierre Mbelu

Welche Auswirkungen hat das Paradigma der Zerstörung, das der Missionierung, dem Militär und dem Handel innewohnte, und welche Ereignisse resultierten daraus? Durch die Betrachtung ihrer Auswüchse und Mehrdeutigkeit in ihrer Rezeption soll die Missionierung in den kolonialen Kontext eingeordnet werden. Zunächst wird die unkritische Geisteswelt ihrer afrikanischen Erb:innen hinterfragt, bevor dann ein möglicher Weg zur kulturellen Wiedergeburt Afrikas aufgezeigt werden soll.

Kolonisierung, „tabula rasa", Land und Macht

Unter kulturell-spiritueller Dimension verstehe ich die spezifische, besondere und intensive Art und Weise, auf die Afrikaner:innen ihre Beziehung zu sich selbst, miteinander und zum Anderen (bzw. Gott) lebten. Der Logik des Sklavenhandels folgend machte die Kolonialisierung in einem systemischen Versuch, das afrikanische Menschsein zu vernichten, „tabula rasa" mit der traditionellen afrikanischen kulturellen und spirituellen Welt, wie sie vor der Begegnung mit Missionarisierung, Militärs und dem weißen bzw. europäischen Handel bestanden hatte. Die Afrikaner:innen sollten aus dem Gleichgewicht gebracht, desorientiert, entwurzelt und aus ihrer Bahn geworfen werden. Obwohl diese Bestrebungen, die afrikanischen Menschen von sich selbst zu entfremden, bei vielen Afrikaner:innen auf großen Widerstand stießen und Ungehorsam hervorriefen, wurden auch zahlreiche Opfer unter denen gemacht, die den Fängen bisweilen entglitten waren und die der Haltung der Kolonialherren und Missionare entgegenstanden.

Ich stimme Fabien Eboussi Boulaga zu, wenn er feststellt, dass „man versuchen muss, die religiöse Argumentation zu verstehen, die einige Afrikaner:innen dazu gebracht hat, die Urteile der Kolonialherren und Missionare über sich selbst zu wiederholen. Alles, was vor oder unabhängig vom Christentum existiert (und was nicht unmittelbar von der jüdischen Geschichte abgeleitet werden konnte), ist heidnisch, d.h. das Werk der verdorbenen sündigen Menschen und des Teufels. Das ist der Irrtum, der vor der Wahrheit weichen muss (...). Zwischen dem Bösen und dem Guten, dem Nichts und dem Sein, gibt es keinen langsamen und allmählichen Übergang. Es ist ein Sprung. Die Afrikaner:innen gingen vom ‚Nichts zu Gott'. Denn der Gott oder die Götter, die sie zuvor gekannt hatten, waren nur falsche Götter (...). Dies ist die Lehre, die es erlaubte, die eigene sündige Vergangenheit sowie die sündige und irregeleitete Gegenwart zu hassen, der christlichen Lebensart zu huldigen und die westliche christliche Zivilisation zu verehren." (Boulaga 1991:114)

Diese Vernichtung der afrikanischen Vergangenheit und Gegenwart im Zuge der unglücklichen Begegnung mit anderen Personen (Missionare, Militärs und Händler) hat mehrere afrikanische Intellektuelle dazu veranlasst, die Gleichstellung von Kolonialisierung und „Zivilisierung" in Frage zu stellen. So beispielsweise Aimé Césaire, der der Ansicht ist, dass die Kolonialisierung prinzipiell der Verdummung dient, da sie destruktive Instinkte (Gewalt, Hass, Angst usw.) anspricht. Er schreibt: „Man erzählt mir von Fortschritt, von ‚Errungenschaften', von geheilten Krankheiten, von steigenden Lebensstandards. Ich spreche von ausgehöhlten Gesellschaften, zertrampelten Kulturen, unterlaufenen Institutionen, konfisziertem Land, ermordeten Religionen, vernichteter künstlerischer Pracht und unterdrückten außerordentlichen Möglichkeiten." Und er fügte hinzu: „Man wirft mir Fakten, Statistiken, Kilometer von Straßen, Kanäle, Eisenbahnen an den Kopf. Ich hingegen spreche von Tausenden von Menschen, die im kongolesischen Meer geopfert wurden. (...) Ich spreche von Millionen von Menschen, denen man geschickt Angst, Minderwertigkeitskomplexe, Zittern, Niederknien, Verzweiflung, Knechtschaft eingetrichtert hat." (Césaire 1950)

Die missionarische Christianisierung wurde von einigen afrikanischen Intellektuellen als ein Trick erkannt, der den Weißen dazu diente, ihre grundlegenden Absichten, die dominiert waren vom Paradigma der Vernichtung der Afrikaner:innen, zu verschleiern. Fabien Eboussi Boulaga erkannte dies, als er die afrikanische Literatur der Kolonialzeit studierte. „Religion ist eine Ablenkung. Sie leitet die Aufmerksamkeit fort von dem, was die Weißen an sich reißen wollen: Land und Macht." (Boulaga 1991:117) Und mit einem Zitat von Jomo Kenyatta schreibt er Folgendes: „Der Missionar kam und sagte: Lasst uns beten. Daraufhin schlossen wir die Augen. Als das Gebet beendet war, antworteten wir: Amen. Wir hatten die Bibel in der Hand, aber wir waren unseres Landes beraubt."

In Stanlake Samkanges Roman On Trial For My Country berichtet dieser, wie Cecil Rhodes von König Lobengula eine Konzession erpresste, indem er ein gefälschtes Dokument benutzte, das ihm die alleinige Ausbeutung des Bodenschatzes von Matabele zusprach.

Das Christentum: ein zwiespältiges Unterfangen

Es ist eine Tatsache, dass das Christentum für viele Afrikaner:innen ein zu erleidendes Ereignis war. Dies schließt jedoch nicht aus, dass es in Afrika auch Persönlichkeiten gab, denen es gelang, diese Religion für sich einzunehmen, um entweder positiven oder negativen Nutzen aus ihr zu ziehen. Nachdem sie verstanden hatten, dass es sich bei dieser Religion zu Teilen um eher performative Reden handelt, versuchten sie, zum tieferen Grund ihrer Bedeutung vorzudringen. Dies geschah mit Blick auf ihre potenziellen positiven Einflüsse auf das tägliche Leben der Afrikaner:innen und ihre sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen. Für diese Fachleute ist das missionarische Christentum „daher keine bloße Idee oder Einheit, die einem anderen unbeteiligten Gefüge, welches man Afrika oder Afrikanität nennen würde, entgegensteht. Die Begegnung des Christentums mit Afrika hat keine einheitliche Form und Bedeutung. Sie ist ein mehrdeutiges Abenteuer, dessen Bedeutung immer noch offen ist, weil sie uns nicht unversehrt lässt, weil sie uns verwandelt." (Mbembe 1988:35-36) Positiv oder negativ. Genauso wie sie Gleichgültigkeit und/oder Ablehnung hervorrufen kann.

Leider haben die Nachfahren der vernichtungsorientierten Perspektive auf die afrikanische Menschheit die von den kritischen afrikanischen Intellektuellen angenommenen Infragestellungen nicht in ihre tägliche Praxis integriert. Im gesamten christlichen Umfeld sowie insbesondere in den „evangelikalen" Kreisen beträgt die Anzahl dieser Nachfahren einige Millionen. Da sie die kulturell-spirituellen Glaubensformen Afrikas mit Heidentum, Sünde und Hexerei gleichsetzen, sind sie leichte Beute für die „Theologen des Wohlstandsevangeliums".

Viele von ihnen sind gewillt zu glauben, dass der Zugang zu Visa, Heirat, Geld usw. nur eine Frage des Glaubens an „Gott" und des Gebets ist. Sie verdrängen aus ihrer Gedankenwelt die Realität der Bedingungen von materiellen und kulturellen Möglichkeiten, an die ihre religiösen Überzeugungen geheftet sind. Sie liefern „den Intellektuellen einen großen Teil zu deren Begründung dafür, die christlichen Kirchen in Afrika als ‚Schaltzentrale des Weltimperialismus' und Agenten der Entfremdung zu betrachten, die sie bei den Afrikaner:innen beklagen." Es fällt ihnen schwer zu verstehen, dass „ihr naiver Glaube" im Kontext dieses „Weltimperialismus" und der Verbreitung seiner dominanten hegemonialen Kultur steht und dass er die Möglichkeiten des Besitzens zuungunsten der Möglichkeiten des Seins und des realen Lebens bevorzugt.
Diese Kirchen sind zumeist das afrikanische Pendant zu den amerikanischen evangelikalen und methodistischen Kirchen, deren Herausforderungen sie teilen. Und diese „sind gewaltig, denn sie bedeuten die endgültige Beseitigung des Weltverständnisses und des menschlichen Fortschritts, die die Aufklärung mit sich gebracht hat, und ihren Ersatz durch die fundamentalistische biblische Lehre, die ein Gefühl der Gewissheit und Sicherheit vermittelt." (George 2007:232)

Es handelt sich darum, das Denken in Ketten zu legen und einen Feldzug „im Namen Gottes" gegen den kritischen und verantwortungsbewussten Geist zu führen. Eines „Gottes", der sich hinter den Interessen der reichsten Einprozent versteckt, die das Land rauben und die Macht auf Kosten der verarmten Bevölkerung an sich reißen, die in stumpfsinnigen Spiritualitäten gefangen sind.

Schlussfolgerung: Afrika muss wiedergeboren werden

Die unglückliche Begegnung der afrikanischen Menschen durch die kollaborativen Handlungen der Missionsgesellschaften, dem Militär sowie den Händler:innen sollte immer wieder ausgehend von ihrem Grundprinzip – der absoluten Macht – und dem Paradigma der Auslöschung hinterfragt werden. Das gleiche gilt in Hinblick auf die Landfrage. Dieses und die durch sie ausgelöste Debatte sind für die Wiedergeburt des afrikanischen Menschen, für die Bewahrung seines Landes und für seine politische Emanzipation von entscheidender Bedeutung. Er muss sich wirklich neu verwurzeln, indem er einen „authentischen afrikanischen Kodex'' neu erschafft, der auf den Maat-Werten Gerechtigkeit, Wahrheit und Solidarität beruht.

Der afrikanische Mensch wird wieder lernen müssen, sich mit sich selbst, mit (lebenden und toten) Anderen, mit dem Land der Vorfahren und mit dem Göttlichen zu verbinden, und zwar in völliger Freiheit, frei von Angst, Zittern, dem Niederknien, Minderwertigkeitskomplexen und Unterjochung. Schulen und Gemeinschaften können zu Orten dieser Re-Zivilisierung und Wiedergeburt werden, die in den kulturell-spirituellen Werten Afrikas verwurzelt sind. Die afrikanischen Menschen, Urheber der Globalisierung, die sowohl individuell als auch kollektiv in einer Welt von wechselseitigen Abhängigkeiten leben, müssen ihre Dynamik wiederfinden und auf das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen achten; auf die Möglichkeiten und Chancen, die durch Interkulturalität realisierbar werden.

Der Autor stammt aus der Demokratischen Republik Kongo und ist ein ausgebildeter Philosoph, Priester und politischer Analyst. Er ist Mitautor der Sammelbände Le Congo post-Kabila par la diaspora congolaise (2010), La République démocratique du Congo face au Complot de balkanisation et d'implosion (2013) und Les congolais rejetent le régime de Kabila (2015).
https://www.lecteurs.com/auteur/jean-pierre-mbelu/4021887

Übersetzt aus dem Französischen.

Literatur:

  • Boulaga, F. E. 1991, A contretemps. L'enjeu de Dieu en Afrique, Paris, Karthala
  • Césaire, Aimé 1950, Discours sur le colonialisme
  • George, S. 2007, La pensée enchaînée. Comment les droites laïque et religieuse se sont emparées de l'Amérique, Paris, Fayard, 2007
  • Mbembe, A. 1988, Afriques indociles. Chrsitianisme, pouvoir et Etat en société postcoloniale, Paris, Karthala