Heft 5/2022, afrika süd-dossier: Glaube und Religion

Gesundheit und Heilung in Afrika

Verschiedene Sichtweisen auf den Ursprung von Krankheiten und deren Behandlungsmöglichkeiten. Der Glaube an Heilung durch Gott oder andere übernatürliche Kräfte muss nicht grundsätzlich dem wissenschaftlichen Verständnis von Gesundheit widersprechen oder dieses ausschließen.

Von Walter Bruchhausen

Aminas (Name geändert) Kind ist krank, es hat Fieber und mehrere Anfälle mit Zuckungen des ganzen Körpers gehabt. Das nächste Krankenhaus ist von ihrem Dorf im Südosten Tansanias sehr weit entfernt, eine befreundete und allgemein geschätzte Heilerin wohnt dagegen nebenan. Sie verlangt kein Geld für eine Behandlung, sondern wird nur nach erfolgreicher Heilung mit Naturalien beschenkt. Die Heilerin ist sicher, dass hier ein bestimmter Geist das Kind befallen hat, und beginnt umgehend mit gesungenen Beschwörungen, um diesen Geist zu versöhnen. Das ist einer der häufigen Wege, auf denen Kranke anders als in Deutschland eher in religiösen als in medizinischen Kategorien behandelt werden.

In Gesellschaften, in denen Rituale und übersinnliche Kräfte eine derart große Rolle wie in Afrika spielen, muss auch die Sorge um die Gesundheit einen starken Bezug zu Glauben, Religion oder Spiritualität haben, wie auch immer man diese Begriffe im Einzelnen definieren mag. Entsprechend beziehen die bedeutendsten Theolog:innen und Religionswissenschaftler:innen Afrikas regelmäßig Heilungsrituale in ihre Darstellungen und Untersuchungen mit ein.

Die hohe Bedeutung von Heilung insbesondere in den unabhängigen afrikanischen Kirchen und in charismatischen Gruppen der Großkirchen ist unübersehbar. Nicht zuletzt die Hoffnung, von Beschwerden geheilt zu werden und ein gesundes, erfolgreiches Leben zu haben, führt Menschen jedweder Religionszugehörigkeit in die Fußballstadien afrikanischer Großstädte, wo erfolgreiche „Evangelisten" oder „Propheten" aus Afrika, Nordamerika und Europa die christliche Botschaft stark auf die Heilungsversprechen ausrichten.

Doch woher kommen diese eindrucksvollen Belege für einen starken Glauben an Schutz und Wiederherstellung der Gesundheit durch Mächte jenseits derer des Menschen? Wie bei solchen verbreiteten Beobachtungen üblich, lassen sie sich nicht auf einen einzigen Faktor zurückführen. Einige der Gründe sind sehr offensichtlich, andere werden erst nach eingehender Beschäftigung deutlich. Die für zu viele Menschen auf dem Lande noch immer schwierige Erreichbarkeit von staatlichen, kirchlichen oder privaten Gesundheitseinrichtungen, die unterschiedlich hohen Kosten und das persönliche Verhältnis im Dorf sind, wie im Fallbeispiel zu Anfang, sicher wichtige Ursachen. Sie sind aber bei Weitem nicht die einzigen.

Entscheidend sind auch Vorstellungen davon, wie Krankheit entsteht und deshalb verhindert oder behandelt werden kann. Die durch ein bestimmtes Naturverständnis entstandene europäische Einteilung in „natürliche" Krankheiten, die nichts mit Glauben zu tun haben, und eventuell „übernatürliche", die zum religiösen Bereich gehören würden, ist den meisten afrikanischen Traditionen fremd. Hier spielen v. A. drei Gruppen von Krankheitsursachen eine Rolle.

Natürliche und spirituelle Krankheiten

Viele Krankheiten liegen ganz einfach im Lauf der von Gott geschaffenen Welt, sind also alltäglich, gewöhnlich oder natürlich. Wer sich an einem Ast verletzt, hat eine Wunde, deren Heilung etwa durch gottgegebene Mittel wie bestimmte Kräuter oder Blätter beschleunigt werden kann. Hilfreiche Geister mögen hier Hinweise auf die richtigen Behandlungsmittel geben, zum Beispiel indem sie Heilerinnen und Heiler „inspirieren", im Traum oder in einem Zustand der Geistbesessenheit. Solche Hinweise aus einer außerirdischen Sphäre kennen wir auch aus dem Asklepius-Kult der griechisch-römischen Antike oder von bestimmten christlichen und muslimischen Heiligen. Es gibt also natürliche Heilmittel, für deren Existenz und Entdeckung man gegenüber dem göttlichen Bereich dankbar ist.

Es gibt jedoch auch Krankheiten, die nicht dem natürlichen Lauf der Welt entsprechend, sondern durch Menschen oder Geister verursacht werden. Wenn nach der genannten Verletzung die Wunde nicht heilt, sondern der Mensch immer kränker und schwächer wird, entsteht der Verdacht, dass ein böser Wille dahintersteckt. Solche Vorstellungen, dass Menschen anderen auf unsichtbare Weise Schaden zufügen, manchmal auch unabsichtlich, finden sich in den meisten Gesellschaften. Man kennt sie als „Böser Blick" im östlichen Mittelmeerraum, als Verfluchung auch in der Bibel und in Europa, als „brujería" in Lateinamerika, als „uchawi" in verschiedenen Regionen des südöstlichen Afrika. Die gewöhnliche Übersetzung wäre „Hexerei", „Verhexung" oder „Schwarze Magie", aber solche Begriffe können das Verständnis mehr verstellen als erhellen. Denn es geht weniger um eventuelle geheimnisvolle Wirkungen, die als gegeben vorausgesetzt werden, sondern um unheilvolle Konkurrenz, um böse Absichten und Taten von Mitmenschen im Kampf um knappe Güter. Vor solchen Angriffen können religiöse Maßnahmen und Würdenträger:innen schützen, auch christliche Priester und muslimische Imame, und das ohne Gegenangriff und damit potenziell friedlicher. Gemeinschaftliche Rituale wie die gleichzeitige Reinigung von vermeintlichem Täter und Opfer, etwa durch Trinken, Baden oder das Scheren von Haaren an Wallfahrtsstätten, sind Möglichkeiten, die das seit der Kolonialzeit verbotene Aufspüren und Misshandeln von Menschen, die angeblich „uchawi" ausüben, vermeiden können.

Die dritte Art von Krankheiten, neben den „natürlichen" und den „angehexten", steht in Verbindung mit unsichtbaren Geistwesen. Das ist für uns in Europa heute zumeist schwer nachzuvollziehen. Die intensive Beschäftigung von Psychotherapeuten wie Sigmund Freud mit den frühneuzeitlichen Berichten von Besessenheit und Begegnungen mit Geistern kann dabei vielleicht zeigen, in welcher Richtung wir das Gemeinte heute verstehen. Die hier thematisierten Krankheiten würden wohl zu einem nicht unerheblichen Teil als psychische oder psychosomatische diagnostiziert werden. Begriffe aus Bibel und Koran wie „Engel", „Dämonen" und „Teufel", die auf dem afrikanischen Kontinent neben dem wertneutralen Wort „Geister" auch verwendet werden, belegen einen eher religiösen Bedeutungsgehalt. Solche Geister sind Wesen aus ganz verschiedenen Bereichen, etwa der Wildnis oder den Verstorbenen, die Leben stärkend oder störend beeinflussen können. Entsprechend geht man mit ihnen um, häufig in ekstatischen nächtelangen Trommel-Tanz-Ritualen, die in weiten Teilen Ost-, Süd- und Zentralafrikas unter dem Namen „ngoma" bekannt sind. Die aufpeitschenden Rhythmen der Trommeln, das beschleunigte Atmen und flackernde Licht, in einigen Gegenden wohl auch die Einnahme berauschender Substanzen, führt dabei zu Trance-Zuständen, deren befreiende Wirkung auch Menschen in anderen Erdteilen so ähnlich suchen, etwa bei Techno-Musik.

Muslimische Gruppen aus der mystischen Sufi-Tradition und unabhängige Kirchen, oft aus pfingstlerischen Kreisen, greifen diese afrikanischen Vorlieben auf. Entsprechend spielen dann eine grüne Prophetenfahne und Halbmond, Koran und Sufi-Gesänge oder aber Kreuze, Rosenkränze und Bibel bei den Heilritualen eine Rolle. Andere Geister als Gott oder der Heilige Geist werden dabei oft als widergöttliche Geister gesehen, die es auszutreiben gilt. Dann kann es bei evangelikalen Gruppen sogar zur Verbrennung von traditionellen Kultgegenständen kommen, die als heidnisch, lebensfeindlich und „Hexenwerk" denunziert werden.

Hollistische Heilkunde

Entsprechend dieser ganz verschiedenen Krankheitsvorstellungen gibt es auch verschiedene Arten von Heilerinnen und Heilern. Manche konzentrieren sich auf die Anwendung pflanzlicher Mittel, was entsprechend als Herbalismus bezeichnet wird. Sie bieten ihre Präparate auch an Verkaufsständen in den Städten an, häufig vor Krankenhäusern. Einige von ihnen reklamieren oder wünschen die Erforschung und Anerkennung durch die naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin aus Europa, andere fürchten sie als Ausbeutung ihres eigenen Heilungswissens. Durch das Vorbild der aus Europa importierten Medizin setzen sich viele zunehmend von eher magisch-religiösen Praktiken wie Gebeten, Beschwörungen, Anrufungen oder Segnungen ab. Ein großer Teil der heutigen afrikanischen Heilkunde, etwa „Sangoma" im südlichen Afrika, bezieht jedoch die anderen Krankheitsvorstellungen mit ein und wirkt entsprechend mit eindrucksvollen Zeremonien und Verkleidungen, die ein religiöses Verständnis nahelegen.

Offenkundig geht es bei den dargestellten „traditionellen" Krankheitsvorstellungen und Heilritualen um ganz andere Fragen und Ziele als in der Medizin, die an Universitäten gelehrt wird. Deshalb ist es für viele Menschen in Afrika auch kein Problem, die verschiedenen Expertisen zu kombinieren, entweder nacheinander oder gleichzeitig: Für eine lebensrettende Operation oder medikamentöse Behandlung einer schweren Infektion nutzt man gerne Krankenhaus und Apotheke, für die Beseitigung der letzten Ursachen, etwa „Verhexung" oder „Geister", braucht man hingegen zusätzlich Heilerinnen oder Heiler. Das Vertrauensverhältnis zur Welt, das durch die Krankheitserfahrung massiv gestört wurde, muss wiederhergestellt werden. Dies ist auch bekannt aus mancher Nutzung esoterischer Verfahren in Europa und z.B. bei Krankensegnungen. Zum Glück ist also keineswegs ausgeschlossen, dass in der anfänglichen Fallgeschichte die Heilerin zusätzlich zu ihren eigenen Ritualen die Tochter der Nachbarin auch ins Krankenhaus schickt. Religion und Medizin müssen im Bemühen um Gesundheit also keine Gegensätze sein, sondern können sich ergänzen.

Der Autor ist nach Studium der Medizin, Theologie und Philosophie, ärztlicher Arbeit in Ruanda und der Eifel sowie ethnomedizinischer Feldforschung in Tansania heute Professor für die sozialen und kulturellen Aspekte der Globalen Gesundheit an der Universität Bonn.