Die Kraft des Glaubens als innere Energiequelle kann Zusammenhalt schaffen oder auch Misstrauen schüren. Religion bietet vielen Menschen Orientierung, ist aber – verstanden als eine von außen vorgegebene Sammlung von Prinzipien – auch ein Instrument der Mächtigen und dient(e) diesen zur Legitimation (neo-)kolonialer Gewalt. Sowohl traditionelle Riten als auch religiöse Bewegungen gestalten dabei Gesellschaft nicht nur im Privaten, sondern auch bis hin zum Anspruch auf politische Einflussnahme.
Dieses Schwerpunktheft beleuchtet, welche Rolle Glauben, Spiritualität und Religion auf dem afrikanischen Kontinent in Vergangenheit und Gegenwart spielen. Koloniale Einflüsse wirken sich dabei bis heute aus. Das Interesse hieran ist nicht neu. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert haben sich Missionare und später dann auch Kultur- und Sprachwissenschaftler:innen in ihren Forschungen mit einer überlegenen und exotisierenden Haltung den afrikanischen Glaubenssystemen gewidmet. Hierbei reichten die persönlichen Motivationen von der Überzeugung, so den „afrikanischen Nächsten" einen Zugang zum Himmelreich zu ermöglichen, bis hin zu Entdeckertum und dem Erreichen eines Held:innenstatus. Letztendlich wurden die gewonnenen Erkenntnisse jedoch nicht für den Zweck eines humanistisch motivierten transkulturellen Austauschs genutzt, sondern um die diversen kolonialen Projekte verschiedener Nationen durch neues Kapital in Form von Land, Menschen, Rohstoffen und der daraus gewaltvoll erzwungenen Wirtschaftsleistung anzutreiben. Der Schwerpunkt dieses Heftes ist daher auch die Auseinandersetzung mit europäischer Verantwortung sowie das Eröffnen einer gemeinsamen Diskussion. Die verschiedenen Beiträge bieten dabei Einblicke in spirituelle Glaubensformen aus vorkolonialer Zeit, Zielsetzungen der Missionierung und koloniale Verstrickungen und Kontinuitäten wie auch in aktuelle Entwicklungen, gegenwärtige Herausforderungen wie das Zusammenspiel oft dichotom gedachter Begriffe wie Moderne und Tradition sowie in zukunftsgerichtete Debatten.
Benson Igboin geht als erster Beitrag u. a. darauf ein, wie die Abwertung afrikanischer Glaubenssysteme als Werkzeug der Kolonisierung diente und inwiefern afrikanische Religion als solche verstanden werden kann. Dabei führt er in deren gemeinschaftliche Wertvorstellungen und den spirituellen Glauben, in dem Gott als erfahrbares Wesen verstanden wird, ein. Konkrete Beispiele zum Verständnis und zur Funktion afrikanischer Spiritualität aus dem Kongo und Westafrika sowie zu Einflüssen durch „westliche" Religionen wie dem Christentum und Erfahrungen von Kolonialität und Widerstand zeigen Jonas Bidiamba und John Diau auf. Collins Shava gibt einen historischen Überblick über den Glauben in Simbabwe, stellt Mwari, den Gott der Shona, vor und erklärt den Zulauf der Afrika-Initiierten-Kirchen mit der Suche nach der eigenen Identität. Diese Rückbesinnung zur afrikanischen Spiritualität sieht auch Flavian Gonese. Dies spiegelt sich insbesondere in Musik und Tanz wieder, durch die Menschen auch außerhalb des afrikanischen Kontinents wieder einen Zugang zur Spiritualität finden.
Deutlich wird, dass der traditionelle Glaube in weiten Teilen Afrikas ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist und oft parallel zum Christentum, zum Islam oder anderen Religionen gelebt wird. Kentey Pini-Pini Nsasay stellt dar, wie problematisch das Erbe der Missionierung sich bis heute auf das Ausleben afrikanischer Glaubensformen auswirkt. Wie die Kirche aber auch wichtigen Widerstand geleistet hat, führt Roderick Ressmann am Beispiel gegen die Apartheid in Namibia an. Marita Wagner hingegen geht genauer auf Strukturen innerhalb der Kirchen in Afrika selbst ein und zeigt, wie dominant darin weiterhin die europäischen Machtverhältnisse sind. Eine wirkliche Aufarbeitung des kolonialen Erbes innerhalb der Kirche erfordert daher eine Beschäftigung mit der Verwobenheit von Postkolonialismus und Mission. In der heutigen Zeit haben insbesondere die evangelikalen Pfingstkirchen mit ihren Wohlstandstheologien einen großen Einfluss auf afrikanische Gesellschaften. Klaus Thüsing schildert, wie sie Entwicklung und kritisches Denken verhindern. Dion Forster schließt an mit einer Diskussion über Säkularisierung in Südafrika. Dabei zeigt er Probleme und Potenziale im Verhältnis von Staat und Religionsfreiheit auf.
Weitere Beiträge befassen sich auch mit den empowernden Funktionen von Glaube und Religion. Wie die Autor:innen hier zeigen, kann sich dies auf sehr heterogene Bereiche beziehen, die von Geschlechterrollen und Emanzipation bis hin zu Gesundheit und Umwelt reichen. Marie-Luise Frost berichtet in diesem Zusammenhang von afrikanischen Kirchengründerinnen, Thsenolo Madigele von Geschlechterkonstruktionen und Aussichten auf deren Dekonstruktion. Ein Fallbeispiel von Janine Traber zu der größten Sufi-Bruderschaft im Senegal beschäftigt sich mit politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeitmachung. Verschiedene Sichtweisen auf den Ursprung von Krankheiten und auf Behandlungsansätze erläutert Walter Bruchhausen, Perspektiven auf Religion und transformative Prozesse im Umweltschutz Philipp Öhlmann und Juliane Stork. Abschließend blickt Jean-Pierre Mbelu in die Zukunft und fordert die Emanzipierung der erschütterten und entwurzelten afrikanischen Gesellschaften. Dafür plädiert er unabhängig von Zwängen für eine Rückbesinnung zur afrikanischen Spiritualität – eine Wiedergeburt Afrikas.
Zusammenfassend lässt sich darauf verweisen, dass Glaube, Religion und Spiritualität auf dem afrikanischen Kontinent ein dynamischer Fächer sich teilweise überlappender, verwobener und vielfältiger Vorstellungen, Lebensweisen und Einflüsse sind. Die Autor:innen haben dabei diese Heterogenität und die vielschichtigen Herausforderungen durch koloniale Erblasten und neokoloniale Entwicklungen bei deren Wiederentfaltung in Bezug auf die verschiedenen Aspekte und Bereiche des Lebens deutlich gemacht. Über die in diesem Heft thematisierten Glaubensformen und Einflüsse hinaus gibt es viele weitere Gesichtspunkte dieser Diversität. Bemühungen um weitere Beiträge, insbesondere zum Islam, aber auch zu weiteren Religionen wie dem Judentum oder Hinduismus, sowie zu zusätzlichen traditionellen oder durch migratorische Einflüsse aufgekommene Glaubensformen, waren jedoch leider nicht erfolgreich.
Um die unterschiedlichen Ansätze und Blickwinkel auf bestimmte Phänomene und Begriffe zu erklären, sind einige versuchsartig in einem Glossar am Ende des Heftes definiert. Wir hoffen, mit diesem Dossier einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit den verschiedenen Facetten und Perspektiven auf das Thema „Glaube und Religion" und Hinterfragung etablierter Machtverhältnisse leisten zu können. Zum Weiterlesen zu „Postkolonialen und dekolonialen Theologien" sei daneben auf die gleichnamige Ausgabe 1/2022 des theologischen Fachmagazins Forum Weltkirche sowie auf die Initiative Decolonize Theology von Hamburger Theologiestudent:innen verwiesen: https://decolonizetheology.jimdosite.com. Ihre fortlaufende Plattform bietet einführende Texte zu postkolonialen und marginalisierten Theologien sowie Veranstaltungshinweise.
Anna Balkenhol und Janine Traber