Vor 400 Jahren, im Jahr 1622, wurde die heutige „Kongregation für die Evangelisierung der Völker" – bis 1967 noch „Propaganda Fide" – gegründet. Diese hat die katholische Missionsarbeit in den Kolonialstaaten systematisch koordiniert und besitzt noch heute die Jurisdiktion über die „Missionskirchen" im Südlichen Afrika. Die dortigen Theolog:innen machen mit Blick auf dieses ambivalente Jubiläum koloniale Kontinuitäten innerhalb der Weltkirche sichtbar.
Von Marita Wagner
Die katholische Kirche versteht sich als eine weltweite Lern-, Gebets- und Solidargemeinschaft. Wer Theologie und den christlichen Glauben als eine geschichtlich gewachsene Größe in reflexiver Verantwortung „in der Welt von heute" (Gaudium et Spes) leben und bezeugen möchte, kann dies nicht ohne Berücksichtigung des globalen Kontextes und der sich dabei auftuenden Fragen des 21. Jahrhunderts tun. Das Jahr 2022 bietet hierzu besonderen Anlass, da vor 400 Jahren die „Kongregation für die Evangelisierung der Völker" (bis 1967 noch „Propaganda Fide") in Rom gegründet wurde. Diese Kongregation führte 1622 erstmals ein systematisches Konzept für die Missionsarbeit vieler Ordensgemeinschaften ein und ist bis heute mit umfangreichen administrativen, juristischen und gerichtlichen Befugnissen ausgestattet, mit dem Ziel, das Evangelium in universalistischem Geist zu verkünden. Die im Jahr 1626 eigens gegründete Polyglott Press versorgte die Missionare und Bevölkerungsgruppen des Globalen Südens mit Grammatik- und Wörterbüchern in den jeweiligen Lokalsprachen. Gleichzeitig wurden am „Collegio Urbano de Propaganda Fide" junge Studenten aus Nordeuropa, dem Balkan und dem Mittleren Osten ausgebildet, um führende Rollen in den jeweiligen Ortskirchen auszuüben.
Noch zu ihrem 300-jährigen Bestehen bezeichnete der US-amerikanische Priester Peter Guilday (1884-1947) die Propaganda Fide als „eine der größten zivilisatorischen Kräfte, die die Welt je gesehen hat". Vor dem Hintergrund des diesjährigen Jubiläums unterziehen unter anderem Theolog:innen des Südlichen Afrika die Methodik und Arbeitspraxis der Kongregation einer kritischen Reflexion und legen dabei anhaltende koloniale Kontinuitäten in der katholischen Kirche und ihrem weltkirchlichen Agieren offen. Darüber hinaus formulieren sie die aus ihrer Sicht notwendigen strukturellen Veränderungen.
Europa als weltkirchliche Peripherie
In kirchlichen Dokumenten wird die Verkündigung der Frohen Botschaft in den „Missionsgebieten" als das Ziel der Kongregation genannt. Der Ausdruck „Missionsgebiet" (im Sinne einer Erstverkündigung des christlichen Glaubens) wird von Theolog:innen wie der Südafrikanerin Nontando Hadebe als nicht treffend identifiziert, da er an die politische Unterteilung in Kolonien und deren „Mutterländer" erinnert. Der indische Priester Felix Wilfred weist darauf hin, dass Länder wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien, die früher der „Propaganda Fide" unterstanden, heute in Analogie zu anderen Industriestaaten nicht mehr von der Kongregation betreut werden. Im Gegensatz dazu sind die als „arm" geltenden Regionen Afrikas, Asiens und Ozeaniens sehr wohl noch der direkten Jurisdiktion der Kongregation unterstellt, auch wenn diese oftmals einen deutlich höheren Anteil an Katholik:innen aufweisen als wohlhabende Länder des Globalen Nordens.
Bereits seit einigen Jahrzehnten verschiebt sich das demografische Zentrum des Christentums zunehmend in Richtung des Globalen Südens, insbesondere nach Afrika, womit Europa laut Sebastian Pittl vom ehemaligen Zentrum immer mehr zur weltkirchlichen Peripherie wird. Nontando Hadebe und auch die in Botswana lehrende Theologin Musa Dube kritisieren den Umgang mit afrikanischen Bischöfen bei Besuchen in Rom, im Rahmen derer sie über die Situation in den ihnen anvertrauten Diözesen berichten. Oftmals würden sie belehrt und wie Schüler behandelt werden – anders als europäische Bischöfe aus reicheren Ländern, die nicht mehr als „Missionsgebiete" gelten. Um diesen Lehrer-Schüler-Komplex zu überwinden, bedarf es nach Wilfred eines bescheidenen Zuhörens, um die jeweilige Situation der Kirche vor Ort zu verstehen und nicht durch eine starre Bürokratie seitens Roms auszubremsen.
Auch aus deutscher Perspektive wird beobachtet, dass „Rom meist als das legitime und legitimierende Zentrum der Weltkirche" erscheine (Markus Demele). Theolog:innen wie Hadebe und Wilfred sprechen sich deshalb für eine komplette Neuaufstellung der Kongregation aus, um einem weiter gefassten und weniger territorial begriffenen Missionsverständnis in Zeiten der Säkularisierung, die sich besonders in Ländern des Globalen Nordens abzeichnet, Rechnung zu tragen. Die jetzige Struktur der Kongregation zementiere ein koloniales Macht- und Dominanzgefälle zwischen europäischen und afrikanischen bzw. asiatischen Ortskirchen.
Asymmetrien in repräsentativen Funktionen
Mit Blick auf koloniale Kontinuitäten weist der ehemalige sambische Priester Tarcisius Mukuka (inzwischen laisiert) auf die asymmetrische Repräsentanz und Entscheidungsmacht der Apostolischen Nuntien (der Botschafter des Heiligen Stuhls in den jeweiligen Ländern) hin. In Subsahara-Afrika gibt es gerade einmal zwei afrikanische Nuntien, drei viertel der vatikanischen Vertreter in Europa und Afrika insgesamt sind europäischer und nordamerikanischer Herkunft. Seit 2019 fungiert der italienische Erzbischof Gianfranco Gallone als Nuntius für Sambia und Malawi. Mukuka kritisiert, dass der sambische Nuntius diejenigen Kandidaten, die für die Bischofsernennung in Betracht kommen, eigenmächtig von der Vorschlagliste streichen kann. Im Vergleich dazu sind in Deutschland das Domkapitel und die Bischöfe aktiv an der Entscheidungsfindung beteiligt.
Finanzielle und psychologische Abhängigkeiten
Was einer Überwindung der Machtasymmetrien innerhalb der Weltkirche besonders entgegensteht ist die finanzielle Abhängigkeit der Kirchen des Globalen Südens von kirchlichen Institutionen des Globalen Nordens, insbesondere des Vatikans. Auch die sambische Ortskirche gilt bislang als „Missionsgebiet" und untersteht daher der Kontrolle der „Kongregation für die Evangelisierung der Völker", wenngleich 97,5 Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 2010 bereits christlich sozialisiert waren. Im Jahr 2000 stammten noch 89 Prozent aller Einnahmen der sambischen Diözesen aus dem Ausland. In den Strategiepapieren einzelner Diözesen wird daher als zentrale Herausforderung die Abhängigkeit von den aufgestellten Bedingungen der ausländischen Geldgeber benannt. Ein sambischer Priester (anonym) erklärt: „Um diese Subventionen zu erhalten, muss man sich selbst, das eigene Denken [...] und Handeln auf das ausrichten, was erwartet wird. Auch wenn es für die eigenen Belange nicht gerade günstig ist."
Um eine größere Autonomie und Freiheit zu gewinnen, haben die Diözesen Solwezi und Mpika bereits einkommensgenerierende Projekte gegründet. Dazu zählen das Betreiben eines Gästehauses und einer Fischzucht sowie Investitionen in den Bereichen Landerwerb, Immobilien, Land- und Forstwirtschaft. Nicht zuletzt die schlechten Gehälter der Priester von circa 55 Euro (1.200 Kwacha) im Monat sowie eine kaum vorhandene soziale Absicherung halten die Kleriker in kirchlicher Abhängigkeit und fordern so deren Gehorsam, um weiterhin in der Gunst des Bischofs zu stehen. Diametral dazu untergräbt der nach außen hin sichtbare Wohlstand der Kirche und Priester – wie zum Beispiel teure Autos – das Verantwortungsbewusstsein der Lai:innen, sich als partizipativen Teil der Gemeinschaft zu verstehen. Oftmals ist den Gläubigen nicht bewusst, dass die finanziellen Mittel von ausländischen Kircheninstitutionen bereitgestellt werden. Zu berücksichtigen ist, dass eben jenes Vermögen der Kirchen des Globalen Nordens oft über Jahrhunderte akkumuliert wurde, gerade auch durch deren koloniale Praktiken, wie die Ausbeutung der Arbeitskraft versklavter Menschen.
Eurozentristische Curricula
Im Spiegelbild der Priesterausbildung in Sambia wird sichtbar, dass es anhaltende epistemische Ungerechtigkeiten im Südlichen Afrika gibt. Im theologischen Curriculum werden afrikanische Theologien und Philosophien meist nur tangiert. Der sambische Priester Peter Lungu begründet dies damit, dass das Priesterseminar in Lusaka nur ein Appendix der „Päpstlichen Universität Urbaniana" in Rom sei. Die Klausuren werden ausschließlich durch die Urbaniana gestellt. Aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen gibt es in Sambia keine katholische Universität, die neben der reinen Grundausbildung höhere akademische Grade in der Theologie ermöglicht. Postgraduale Studien bedürfen demnach der finanziellen Zuwendung Dritter und werden oft im Ausland aufgenommen. Gleichzeitig ist dieser Zugang zu tertiärer Bildung elementar, um bessere Teilhabechancen und damit eine gesteigerte Repräsentanz auf weltkirchlich-politischer Ebene erlangen zu können.
Mukuka und der deutsche Missionar Bernhard Udelhoven, der seit seiner Studienzeit in Sambia als Priester tätig ist, bemängeln, dass es aus diesen Gründen noch kaum eigenständige sambische theologische Ansätze gebe, die den regionalen Besonderheiten und kulturellen Gewohnheiten Rechnung tragen. Dies erinnert auch an die Feststellung des simbabwischen dekolonialen Denkers Sabelo Ndlovu-Gatsheni, der konstatiert: „Wir haben keine afrikanischen Universitäten, sondern wir haben Universitäten in Afrika." In diesem Kontext spricht er von der „Kolonialität des Wissens", die zu einer kulturellen Entfremdung und zur Geringschätzung der eigenen afrikanischen Identität(en) geführt habe. Diese Herausforderung beschreibt auch Nontando Hadebe: Der Universalitätsanspruch europäischer Wissenssysteme in der Theologie bewirke eine „epistemische Erstickung", gerade mit Blick auf die jüngere Studierendengeneration, die derzeit umso vehementer um eine Dekolonialisierung des Bildungssystems, der Universitäten und der Gesellschaft insgesamt ringt (#RhodesMustFall und #FeesMustFall in Südafrika).
Weißsein in der Theologie
Ein konkretes Beispiel für die anhaltende epistemische Gewalt innerhalb der Theologie ist die universalisierte Darstellung von Jesus als weißem Mitteleuropäer. Diese Ambivalenz fasst die südafrikanische Poetin Koleka Putuma in ihrem Gedicht „Wasser" in die folgenden Worte: „[Jesus] und ich hatten schon immer eine komplizierte Beziehung. Dieser blauäugige und blondlockige Jesus, dem ich in der Sonntagsschule gefolgt bin, ließ meine Art von Leuten den Kopf verneigen vor einem weißen und patriarchalischen Himmel, sich verneigen vor Christus, seinem Sohn und den zwölf Aposteln."
Wie wirkmächtig diese weiße Dominanz noch immer ist und welche Autorität sie genießt, beschreibt ein sambischer Priester (anonym): „Ich bin ein gültig geweihter Priester. Aber wenn ich in eine Gemeinde gesandt werde, wo es einen weißen Priester gibt, dann habe ich es schwer. Wir haben immer noch viele Gläubige, die der Überzeugung sind, dass die ‚richtigen' Priester die Weißen sind." Peter Lungu bestätigt, dass es für einige Gläubige befremdlich sei, sich Jesus als Schwarze Person vorzustellen, und damit zum Selbstbild zu machen, geschweige denn, zu dieser zu beten. Hierin zeigt sich, wie hartnäckig die Kolonialisierung des Denkens, wie Ng?g? wa Thiong'o sie beschreibt, anhält und wie wichtig es ist, die Absolutheitsansprüche europäischer Theologien zu hinterfragen und neue Sehgewohnheiten zu fördern.
Wozu braucht es postkoloniale Theologien?
Die hier abgebildeten Stimmen zeigen schlaglichtartig, wie wichtig innerhalb der Theologie – auch in Europa – die Beschäftigung mit der Verwobenheit von Postkolonialismus und Mission ist, um das koloniale Erbe innerhalb der Kirche aufzuarbeiten. Die eigenen Abhängigkeiten von der Kolonialität der Theologie zu erkennen und diese zu analysieren, führt zu einem widerständigen und gleichsam heilsamen Lernprozess, schlussfolgert Stefan Silber. Ziel ist es, vom universalen Anspruch europäischer Theologien Abstand zu nehmen und deren Kontextualität – in Parallelität zu den Theologien des Globalen Südens, die gern als „interkulturelle" bzw. „kontextuelle Ansätze" bezeichnet werden – wahrzunehmen. Postkoloniale Theologien stellen somit vieles in Frage, was theologisch oftmals als selbstverständlich vorausgesetzt wird. In diesem Sinne braucht es eine Bereitschaft zur Verunsicherung (Stefan Silber), um sich von kolonialen Denkmustern befreien und der ursprünglichen Botschaft des Evangeliums von einer den Menschen dienenden Kirche zuwenden zu können.
Die Autorin hat Katholische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main sowie an der University of Pretoria in Südafrika studiert. Derzeit promoviert sie am Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen der Paris Lodron Universität Salzburg zu den dekolonialen Fallism-Studierendenprotestbewegungen in Südafrika.
Anmerkung:
Sämtliche Informationen und direkten Zitate mit Blick auf koloniale Kontinuitäten in der sambischen Ortskirche entstammen einem Artikel von Sebastian Laschet. Dieser hat während eines Forschungsaufenthaltes in Sambia qualitative Interviews mit Priestern verschiedener Diözesen geführt. Die zentralen Ergebnisse stellt er in dem folgenden Sammelband dar:
Sebastian Laschet, „Kolonialität in der römisch-katholischen Kirche am Beispiel Sambias", in: Franz Gmainer-Pranzl, Magdalena Kraus, Miriam Leidinger & Stefan Silber (Hg.), Befreiungstheologie und Kritische Entwicklungsforschung. Dokumentation des Siebten Workshops „Befreiende kontextuelle Theologien" (Salzburg 2021), Salzburger interdisziplinäre Diskurse Band 23. Berlin 2023 (noch nicht erschienen).
Weitere Aspekte zum Thema „Postkoloniale und dekoloniale Theologien" finden sich in der Ausgabe 1/2022 des theologischen Fachmagazins Forum Weltkirche. Dieses Magazin wird vom Internationalen Katholischen Missionswerk missio Aachen e.V. in Kooperation mit dem Verlag Herder herausgegeben.