Heft 5/2022, afrika süd-dossier: Glaube und Religion

Religion als Politik – Touba im Senegal

Als zweitgrößte Stadt des Senegal liegt Touba knapp 200 km östlich der Hauptstadt Dakar. 1888 hat sich der Gründer der Mouridiyya, Cheikh Ahmadou Bamba, an diesem Ort unter einem Baum niedergelassen und seine Vision von einem heiligen spirituellen Zentrum verkündet.

Von Janine Traber

Heute ist Touba nicht nur ein heiliger Ort und religiöse Pilgerstätte der Anhänger:innen der muslimischen Sufi-Bruderschaft, sondern auch ein politisches Schwergewicht. Die Realität hat also die Vision sogar übertroffen, könnte man sagen. Wenn die Regierung Senegals an ihre Grenzen der gesellschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit stößt, sind es die Worte von Toubas Anführern, denen die Bevölkerung Gehör schenkt. So wurden unter anderem die gewaltvollen Demonstrationen gegen die Regierungsmaßnahmen während der Covid-19-Pandemie und die Verhaftung des wichtigsten Oppositionsführers Ousmane Sonko im März 2021 beruhigt.

Geschichte und Leitbild

Um das zu verstehen, muss man einen Blick auf die geschichtlichen Zusammenhänge werfen. Cheikh Ahmadou Bamba lebte von 1853 bis 1927 und stellt die zentrale Kultfigur der Mouridiyya dar, einer der verschiedenen insbesondere in Westafrika verbreiteten sufistisch-islamischen Glaubensgemeinschaften und der größten im Senegal. Er siedelte weitmöglichst abseits von allen weltlichen Einflüssen mit seinen Ehefrauen in der ländlichen Wildnis. Seine Nähe zu Gott soll er durch harte körperliche Arbeit auf dem Land gefunden haben. Yalla yalla baay sa tool – „Gott pflügt deinen Acker", lautet ein Leitspruch der Mouriden, wer hart arbeitet (insbesondere auf dem Feld, was im Senegal reine Männerarbeit ist), für den wird auch Gott seinen Teil tun.

Bamba zog mit der Zeit eine zunehmende Zahl an Jüngern, sogenannte Talibe, an, was bald die Skepsis der französischen Kolonialherrschaft auf sich zog. Deren Anweisungen, die sich formierende Bruderschaft aufzulösen bzw. unter französische Kontrolle zu stellen, kam Bamba jedoch nicht nach. Daraufhin wurde er zwangsweise verschleppt und erst nach Gambia und später nach Gabun ins Exil geschickt. Anstatt seinen großen gesellschaftlichen Einfluss gewaltvoll für seine Befreiung zu nutzen, speist sich ein großer Teil seiner noch heute andauernden Achtung aus seiner Ermutigung zu friedvollem Protest und Widerstand gegen die Kolonialmacht. Dieser fand insbesondere darin Ausdruck, der Kolonialverwaltung die Arbeit auf dem Feld zu verwehren, auch wenn dies zu persönlichen Einschränkungen bis hin zur eigenen Unterversorgung führte. Nichtsdestotrotz gelang es der kolonialen Besatzung, einige Teile von Bambas Anhänger:innenschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und ihre wirtschaftlichen Kräfte in Form der Erträge aus der ursprünglich religiös motivierten Landwirtschaft (insbesondere des Erdnussanbaus) für sich zu nutzen.

Im kollektiven Gedächtnis ist jedoch der Widerstand und die ideologische Selbstaufgabe als Form des friedlichen Protests gegen den Kolonialismus fest verankert. Als Bamba nach seinem Tod in Touba bestattet wurde, wurden der Ort und insbesondere Bambas Niederlegungsstätte, die große Moschee, zu einem Pilgerzentrum. Bambas Nachfahren wurden zu religiösen Oberhäuptern und auch die derzeitigen Marabouts (religiöse Anführer, denen das bewirtschaftete Land gehört) und deren Khalif (Vorsteher) positionieren sich in direkter Erblinie zu Bamba.

Touba als Stadt wuchs im Laufe der Zeit immer weiter, sodass ihr politischer Einfluss allein dadurch zunahm, dass immer mehr Land eingenommen wurde. Zudem nahm die Anzahl der Personen zu, die sich aus Nähe zum spirituellen Kult in der Stadt ansiedelten, und auch in anderen Teilen des Landes unterwarfen sich immer mehr der Lehre Bambas. Im Vergleich zu anderen Ausrichtungen des Islams orientiert sich der Sufismus stark an dem Konzept der „Liebe für Gott", im Gegensatz zur „Furcht vor Gott". Die religiösen Treffen sind oft von intensivem bis ekstatischen Tanz und Gesang geprägt. Fürsorge, Gemeinschaft und Nächstenliebe sind zwar in allen Religionen auch abseits des Islams gängige Tugenden, in der Mouridiyya stellen sie allerdings ein besonders wichtiges Leitkonzept dar. Da formelle Bildung, Arbeitsplätze und Zugang zu den alltäglichsten Ressourcen wie Wasser Privilegien im Senegal darstellen, stützt sich der große Zulauf der Bruderschaft darauf, dass nicht nur jede:r willkommen geheißen, sondern darüber hinaus auch versorgt wird.

Die Cheikhs bzw. Marabouts bieten Kindern ohne Bleibe und Familie die Möglichkeit, die Koranschule zu besuchen und Mahlzeiten zu erhalten. Dafür sammeln die Kinder im Gegenzug Spenden auf der Straße von Passanten. Dies kann man durchaus kritisch betrachten und mag teilweise an Kinderarbeit bzw. organisiertes Betteln anmuten, aber für die Kinder bietet dieses Angebot oft die einzige Lebensgrundlage, die ihnen zur Verfügung steht. Es wird von der Bevölkerung grundsätzlich als ein Akt der Mildtätigkeit seitens der religiösen Anführer verstanden, der auch die meisten Privathaushalte dazu bewegt, täglich etwas mehr Essen zuzubereiten, als der Haushalt braucht, und den Überschuss an bedürftige Personen auf der Straße zu verteilen.

Die Anhänger:innen der Bruderschaft verbreiteten sich also nach und nach im ganzen Land. Insofern sah sich die Kolonialverwaltung angesichts einer wachsenden Menge an potenziell Widerstand leistender Personen zunehmend unter Kooperationsdruck, wenn sie nicht die Früchte deren wirtschaftlicher Produktion verlieren wollte. So stimmte die Kolonialverwaltung letztendlich zu, die Stadt Touba formell als unabhängig verwaltet anzuerkennen, um den Rest des Landes weitestgehend unter Kontrolle halten zu können. Auch nach der Unabhängigkeit Senegals 1960 blieb die Eigenständigkeit Toubas erhalten.

Wirtschaftsmacht und Politik

Ein großes Projekt Toubas, das international für Furore sorgt und als anti-(neo-)koloniales Aushängeschild gilt, ist die Universität. Im Rest des Landes ist jegliche Art von zukunftsversprechendem Schul- und Universitätsunterricht nicht nur teuer, sondern auch noch ausländisch organisiert. Viele Intellektuelle Senegales:innen sehen hierin ein Problem. Nicht nur wird den Schüler:innen und Student:innen mit dem Unterricht in Fremdsprachen beigebracht, dass afrikanische Sprachen keinen kognitiven Wert hätten, sondern auch die insgesamt im Unterricht vermittelten Konzepte entstammen den westlichen Kulturen und basieren nicht auf den durchaus existierenden senegalesischen Wissenstraditionen.

Die Universität in Touba soll hingegen moderne und religiöse Fächer verbinden und in Arabisch und Wolof unterrichten – unabhängig von Staatsgeldern (die es für Lehre sowieso kaum gibt) und ausländischen Finanziers. Das funktioniert durch die Spenden, die die Gläubigen bei nahezu jeder religiösen Veranstaltung geben. Denn auch hier gilt wieder das Prinzip, dass die religiöse Gemeinschaft einander unterstützt. Wer bspw. zum Magal (dem Geburtstag des Propheten) oder Tabaski (am Ende des Ramadans) eine Moschee besucht oder gar nach Touba reist, der oder die bringt besser genügend Geldscheine mit, die möglichst gut sichtbar gespendet werden. Je mehr man gibt, desto größer nicht nur der soziale Status, sondern auch die moralische Reinheit. Aus diesen Geldern wird dann nicht nur das Essen für alle Anwesenden finanziert, sondern auch der Bau von Straßen, Kanalisation, der Universität, der Häuser der Cheikhs sowie deren Autos und Benzin. Während der Senegal es nach europäischen Maßstäben nicht wirklich schafft, ein funktionierendes Steuersystem durchzusetzen (der größte Teil der Gesellschaft arbeitet im sog. informellen Sektor), hat Touba als „Staat im Staat" es also geschafft, ein Finanzierungsmodell zu finden, das vermutlich sogar mehr Geld als ein richtiges Steuersystem einbringt.

Internationale Diplomatie

Im Vergleich zu anderen islamischen Bruderschaften gilt die Mouridiyya im Senegal trotz ihrer sektenartig anmutenden Organisationsweise als beliebte Vermittlungsstelle zur Schlichtung von Streit und dem Erhalt von Frieden. Da sich in umliegenden Staaten wie Mali islamistischer Terror bereits ausgebreitet und zu Anschlägen geführt hat, wurde Ähnliches auch für den Senegal befürchtet. Die breite gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung der religiösen Mouridiyya sowie deren politischer Einfluss haben aber wohl dazu beigetragen, dies zu verhindern. Die Bruderschaft wird sowohl innenpolitisch für ihre Diplomatie zwischen Regierung und Gesellschaft geschätzt, wie bei den bereits erwähnten März-Demonstrationen von 2021 unter Beweis gestellt, als auch außenpolitisch erwogen als Unterstützung bei Verhandlungen zur Friedenssicherung. Wenngleich sicher einige ihrer Werte, wie die völlige Unterwerfung einem Marabout gegenüber oder auch die vorherrschende patriarchale Struktur, aus europäischer Perspektive schwer nachzuvollziehen sind, so stellen die Stadt Touba und der Sufismus im Senegal nichtsdestotrotz ein beeindruckendes und beachtenswertes Gesellschaftskonzept dar. Dieses bietet insbesondere der Jugend, die sich nach politischem Wandel und einer internationalen Anerkennung des Wertes afrikanischer Kulturen sehnt, große Hoffnung, ohne dass sie dafür ihren Wurzeln entsagen müsste.