Wie evangelikale Sekten zunehmend an Einfluss in der afrikanischen Gesellschaft gewinnen und Entwicklung verhindern. Ein kritischer Blick auf das Wirken insbesondere der evangelikalen Megakirchen zeigt, wie viele dieser Sekten und Kirchen gleichzeitig Wirtschaftsunternehmen sind, die von der finanziellen Ausbeutung ihrer Anhänger:innen leben und deren wirtschaftliche und politische Teilhabe beeinflussen. Die Frage, wie eine Auseinandersetzung mit den Evangelikalen gestaltet werden kann, ist jedoch ein Tabuthema. Dagegen braucht es Aufklärung und einen alternativen Dialog.
Von Klaus Thüsing
„Afrika muss im Blute Jesu Christi rein gewaschen werden!" So verkündete es über Jahrzehnte Reinhard Bonnke, ein deutscher Evangelist der Pfingstbewegung, Gründer des Missionswerkes „Christ for all Nations" (CfaN), der sich selbst als „Mähdrescher Gottes" sah. Im Jahre 2017 übergab er nach einer Abschiedsevangelisation in Lagos mit hunderttausenden von Teilnehmerinnen (die immer die größere Zahl stellen) und Teilnehmern seine Aufgabe an Daniel Kolenda.
Als Deutscher war Bonnke eine Ausnahme. Seine Mitstreiter waren seit den 1960er-Jahren in der Regel Evangelikale aus den USA. Heute hat sich das Bild gewandelt. Die afrikanischen evangelikalen Megakirchen werden von Afrikanern angeführt (immer Männer), die sich vom Heiligen Geist erfüllt als „Prophets", „Apostels" und immer als „Men of God" sehen.
Aufgeheizte Stimmung und in Trancezustand versetzt
Ich selbst habe 1991 in Kenia eine Massenveranstaltung mit dem „Mähdrescher Gottes" erlebt. Am Rande eines Slums war eine gigantische Bühne aufgebaut. Mehr als 50.000 Anhänger:innen, die meisten von ihnen sehr arme aus dem Slum, kamen zusammen. Es traten eine Reihe von Chören auf, die mit eingängigen Songs Jesus anriefen und, unterbrochen von Gebetsrufen etlicher Pastoren, die Menge in einen Trancezustand versetzten. Dann endlich nach über einer Stunde fuhr ein großer Mercedes vor die Bühne. Es entstieg ihm der „Man of God" Rheinhard Bonnke mit seiner deutschen Frau. Ein Jubelgeschrei kam auf, ein Chor heizte die Stimmung weiter an. Bonnke schrie: „Praise the Lord! Hallelujah!" Dann aber wurde überraschend ein Kapitel aus dem Evangelium vorgelesen: Die Geschichte vom armen Lazarus. Die Interpretation ist eigentlich klar: Ein Reicher, der kein Mitleid mit den Armen hat, kommt in die Hölle, während Lazarus in den Himmel kommt. Doch Bonnke interpretierte die Geschichte ganz anders: Die Todsünde des Reichen besteht darin, dass er es wagte, die Entscheidung Gottes zwischen Himmel und Hölle zu hinterfragen, was zu seiner ewigen Verdammnis führte.
Was immer Gott entscheidet, muss anerkannt werden. Es folgten Gebete zur Befreiung von Dämonen, ein Bekehrungsaufruf, den man mit dem Ausfüllen einer Entscheidungskarte zur zukünftigen christlichen Lebensführung annehmen konnte. Schließlich wurde Jesus angerufen, Behinderte, die in der ersten Reihe vor der Bühne saßen, zu heilen, wie er es einst getan hatte. In der Tat erhoben sich einige aus ihren Rollstühlen und wankten zur Bühne: Alle wurde Zeug:innen einer übernatürlichen Heilung durch die Anrufung Jesu und das Einwirken des Heiligen Geistes (einige in einem augenblicklichen Trancezustand, doch meist inszenierte Fake-Ereignisse, wie später nachgewiesen wurde). Neben der Bühne stand während der gesamten Veranstaltung auch eine Tonne, in der ein Feuer brannte. Alle, die „heidnisches Teufelszeug" dabei hatten, wie Frauen, die Puppen als Symbol der Seelen ihrer verstorbenen Zwillinge an die Brust hielten, sollten es in die Flammen werfen und damit heidnischen Bräuchen entsagen. Mit einem gigantischen Chor und Hallelujah-Rufen ging die Veranstaltung zu Ende, die in voller Länge auch vom staatlichen Fernsehen übertragen wurde. Während der gesamten Veranstaltung wurde in Eimern Geld gesammelt, da jede Spende von Gott als Opfer wahrgenommen werde und von den Sünden befreie.
Anschließend wurde Rheinhard Bonnke vom damaligen Präsidenten Kenias, Arap Moi, einem korrupten und gewalttätigen Diktator, empfangen, der die Botschaft von Bonnke dankbar begrüßte: Menschen, die im Elend leben, sind daran selbst schuld, weil sie sich nicht zu Jesus bekehrt haben, gemäß der Divise von Bonnke: „Alle haben gesündigt und mangeln des Ruhms, den sie bei Gott haben sollten."
Merkmale der evangelikalen Pfingstkirchen
Die geschilderte Veranstaltung hat eine Reihe von Erkenntnissen geliefert über die evangelikalen, charismatischen und Pfingstkirchen:
Alles liegt in Gottes Hand:
Es gibt keine Freiheit des Menschen. Der Mensch kann höchsten durch inniges und ständiges Gebet Gott gnädig stimmen und so auch der Hölle entgehen, die allen Menschen droht. Elend, Hunger und Verzweiflung haben nichts mit der Regierung zu tun, die von Gott berufen ist, es sei denn, sie wendet sich gegen die Christen. Denn das Unglück des Menschen ist selbstverantwortet. Ändern kann das der Mensch nur, wenn er sich öffnet für die Revolution der Gnade, für das übernatürliche Wirken des Heiligen Geistes mitten im Alltag und an Gottes großes Wunderwirken glaubt. Er kann wie ein Flüchtender in eine neue Kirche kommen. Dann wird alles gut und er kann seine Sorgen vergessen. Von seinem traditionellen Glauben, dem Leben im Geist der Vorfahren, muss der Mensch sich abwenden, da das teuflische Mächte sind.
Um gesegnet zu werden, muss der/die Bekehrte aber auch geben:
Das ist der einzige Weg. Daher gehört die finanzielle Ausplünderung der Menschen („der Zehnte" gehört Gott), speziell zum Wohlergehen der selbsternannten „Men of God", fundamental zur evangelikalen Wohlstandstheologie mit dem Versprechen, dass alle, die sich wirklich bekehren, ebenfalls auf ein finanzielles Wohlergehen hoffen können. Die Folge: Es gibt in Afrika inzwischen, ähnlich wie in den USA, evangelikale Megakirchen mit Bauten, die für zehntausende Menschen errichtet sind; Kirchen, die von allen Steuern befreite Großunternehmen sind und deren Leiter als „Men of God" zu vielfachen Millionären wurden und z. B. in Nigeria zu den Reichsten des Landes gehören wie Cristian Oyakhilome (Pastor Chris), der Gründer von „LoveWorld Incorporated" (Christ Embassy). Er betreibt auch ein weltweites Radio- und Fernsehprogramm und ein Online-Gebetsnetzwerk für Glaubensheilung. Je nach Größe der Anhängerschaft hat die häufige Ausplünderung dieser seitens der zahlreichen Groß- und Kleinkirchen verheerende Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung afrikanischer Staaten. Die Anzahl derartiger Gemeinden steigt seit fünfzig Jahren rasant und überholt die traditionellen christlichen Kirchen wie z. B. die katholische.
Kapitalakkumulation, die Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung, wird so schlicht verhindert. Dabei behaupten die Kirchen, sie würden Wohlstand und Gesundheit bringen, die Armut brechen als leistungsorientierte Christen. Ihre Pastoren seien Ingenieure der menschlichen, spirituellen und sozialen Entwicklung. Und die Zahl der Pastoren und Kirchen wächst rasant, weil jedermann behaupten kann, Gott habe ihn berufen und aufgefordert, eine eigene Kirche aufzubauen. Dies führt zu dem Eindruck, dass es in einigen Ländern mehr Pastoren gibt als Ingenieure. Gesellschaftliche Ursachen von Armut werden ausgeblendet, denn wer nicht erfolgreich ist, hat nicht die richtige Einstellung.
Evangelikale Botschaften verfangen in Afrika:
Ursprünglich aus den Vereinigten Staaten nach Afrika, wesentlich nach der Unabhängigkeit der Staaten Afrikas, importiert, haben sich die evangelikalen Kirchen weitgehend afrikanisiert. Dennoch spielen die Pfingstkirchen der USA noch eine große Rolle als Geldgeber und Ausbilder von Pastoren. Doch Weiße wie Reinhard Bonnke gibt es nicht mehr auf dem Kontinent. Aber seine zentrale Botschaft: „Vom Minus zum Plus! Die erstaunlich einfache Lösung für die Probleme der Menschheit" gilt mehr denn je. Im Internet sind tausende von Sprüchen zu finden, die die simple evangelikale Botschaft verkünden:
„If God can change night into day, He can turn your burden into blessings. Amen!"
„When your Prayer becomes your habit, Miracles become your lifestyle!"
„God is changing your financial situation very soon. You will have more than you need. Amen!"
Zusammengefasst: „Nothing can stop God's plan for you!"
Das sind alles Botschaften gegen jede Aufklärung und die Selbstbestimmung des Menschen und für das Durchsetzen einer reduzierten und verzerrten Wirklichkeit sowie dem Gehorsam gegenüber Macht und Autorität. Demokratie hat mit der Botschaft Jesu nichts zu tun. Die allgemeinen Menschenrechte und erst recht die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sind nicht die Botschaft Jesu (wie man es in Brasilien sieht bei den Unterstützer:innen von Bolsonaro und in den USA von Trump).
Ein religiöser Fundamentalismus ist ein durchgängiges Merkmal aller evangelikalen Kirchen:
Ihre selbsternannten Pastoren haben nur ein Buch in der Hand: Die Bibel! Sie muss wortwörtlich genommen werden. Alles kann mit ihr erklärt werden. Sie gibt auf alles eine Antwort, da sie das Wort Gottes ist. Eine historisch-kritische Sicht auf die Bibel ist sündhaft, weil sie es wagt, Gottes Wort zu hinterfragen. Die Bibelwissenschaft gehört beseitigt. Die Leben-Jesu-Forschung ist vom Teufel inspiriert. Schriftliche Bibelkommentare sind ein Irrweg und gehören verbrannt, da der Heilige Geist seinen Pastoren im richtigen Augenblick die richtigen Worte in den Mund legt, weshalb das zentrale Ereignis eines jeden Gottesdienstes eine lange Predigt des „Man of God" ist, der dadurch seine Berufung beweist und die bedingungslose Gefolgschaft seiner Anhänger:innen einfordern kann.
Evangelikale Auffassung duldet nichts neben sich:
Zwar ist der Erfolg der evangelikalen Kirchen und die Macht ihrer Verkünder in Afrika auch mit der durch die traditionellen Religionen überlieferten Sehnsucht einer animistischen Verbindung von Menschheit, Geist und Natur zu erklären (s. Pasca Maitre), doch die Vernichtung der afrikanischen Kultur und Geschichte durch die Evangelikalen, die mit unzähligen Missionaren und sehr viel finanziellen Mitteln zu Anfang aus den USA kamen, ist neokolonial. Rev. Peter Assanful bezeugte das so: „Keiner kann zwei Herren dienen, wie Jesus gesagt hat (Lukas 16:13). Du kannst nicht Gott dienen und gleichzeitig der Tradition und Kultur" (ASENTA News 1998 Vol. 1:10, Seite 16). Damit muss, wie in der Kolonialzeit, auch die afrikanische Geschichte ausgelöscht werden, weil die neue Zeit nur noch einen Herrscher kennt: Den Heiligen Geist. Damit schließt sich der Kreis zur kolonialen Weltsicht der Geschichte.
Aufklärung ist nötig
Dass Jesus Afrika nicht rettet, jedenfalls nicht durch die evangelikalen Kirchen, Sekten, selbsternannten Propheten, Apostel und „Men of God", dafür gibt es viele Argumente und Erfahrungsberichte. Oder kann dieser von den evangelikalen Propheten oft zitierte Satz aus dem 1. Brief des Heiligen Petrus das Elend, die Hoffnungslosigkeit, die Unterdrückung der Mehrzahl der Menschen in Afrika heilen? Da heißt es: „Freut Euch, dass Ihr mit Christus leidet, damit Ihr auch zur Zeit der Offenbarung seiner Herrlichkeit Freude und Wonne haben mögt." (1. Petrus 4:13)
Es gibt Hoffnungen durch den Wandel anderer Kirchen. So ist die katholische Kirche auf dem Weg sich zu dekolonisieren; sie lernt allmählich, die afrikanischen Kulturen zu achten, Riten zu übernehmen und sich für die Freiheit und Würde der Menschen und soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Doch ihr fehlt die Massenbasis, auch wegen mangelnden Personals. Auch eine Reihe lutherischer Kirchen haben sich afrikanisiert, während andere protestantische Kirchen sich den evangelikalen immer mehr angleichen, um angeblich bei den Menschen anzukommen. Natürlich gibt es ein mögliches Potenzial von Religion und Glauben – insbesondere in den immer größer werdenden Städten –, sich frei zu machen von traditionellen familiären Verpflichtungen. Dort haben viele Menschen ihre Verbindung zu den Traditionen afrikanischer Spiritualität verloren und suchen nach einem Lebenssinn in einem oft sinnlos erscheinenden Leben. Das ist der Nährboden für die Evangelikalen und Pfingstler, ihre einfachen Antworten und die Totalvereinnahmung des Menschen.
Was in Afrika dagegen dringend notwendig ist, ist eine Aufklärung. Eine Aufklärung, die die europäische und nordamerikanische Aufklärung aufnimmt und mit afrikanischer Geschichte und Tradition, afrikanischer Philosophie und dem Denken und den Taten von anerkannten Vorbildern wie Nelson Mandela und Desmond Tutu verbindet. Zum Weg aus der Abhängigkeit ist auch eine Reform des Bildungssystems notwendig, das bisher frontal nur Fakten und Techniken vermittelt, statt zum eigenständigen Denken und Weiterdenken zu erziehen. Demokratie, Menschenrechte, Wege aus Korruption und tribalistischem Denken und Handeln können in einer „Non-Reading-Society" nicht gefunden werden.
Darüber einen Dialog zu führen ist unerlässlich, wenn wir eine menschenwürdige Welt anstreben.
Der Autor ist Sozialwissenschaftler, war als MdB Mitglied im Bundestagsausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und hat fast 17 Jahre als Landesdirektor des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) in verschiedenen Ländern Afrikas gearbeitet.