AFRIKANISCHE RELIGION UND KOLONIALISMUS. Durch den Kolonialismus wurde der afrikanische Kontinent seiner Geschichte beraubt und seine Glaubensformen abgewertet. Worauf beruhen aber der spirituelle Glaube und die Ethik in Afrika? Es sind traditionelle Ressourcen, die neu bewertet in die Zukunft führen können.
von Benson Ohihon Igboin
Die aktuelle Debatte zur Entwicklung Afrikas richtet den Fokus zumeist auf die Zukunft. Dies ist zwar legitim, lässt aber viele Werte der Vergangenheit außer Acht, die dazu beitragen können, Entwürfe für Afrikas Zukunft zu entwickeln. So erinnerte uns der afrikanische Literaturgigant Chinua Achebe daran, dass, wenn die Afrikaner:innen nicht wissen, wo sie der Regen trifft, können sie auch nicht wissen, wo er wieder trocknet. Und, solange die Löw:innen nicht ihre eigenen Historiker:innen haben, werden die Jagdgeschichten immer die Jäger:innen verherrlichen.
Welchen Einfluss hatte aber der Kolonialismus auf die afrikanische Religion? Zunächst einmal glaubten die ersten europäischen Anthropolog:innen, dass es in Afrika keine Religion gebe; sie argumentierten, dass sich der Begriff Religion ausschließlich auf das Christentum beziehE. Einige behaupteten auch, dass sie in Afrika keine Spur von „Weltreligion" finden könnten; andere behaupteten, dass Gott für Afrikaner:innen zu abstrakt sei, um ihn zu begreifen. Afrika wurde nicht nur als dunkler Kontinent beschrieben, sondern für gar nicht existent gehalten, ein extremer Ausdruck rassistischer Abscheu.
Das Eindringen der Europäer:innen auf den afrikanischen Kontinent und ihre Aktivitäten markierten nach ihrer Auffassung somit den Beginn der „Zivilisation" und der Geschichte Afrikas, wofür die Afrikaner:innen ihnen auf ewig dankbar sein sollten. Obwohl einige Afrikaner:innen diese Ansichten für veraltet halten mögen und diese von afrikanistischen Gelehrten bereits beantwortet wurden, bleibt die Tatsache, dass sie bei der Definition Afrikas in zeitgenössischen Auseinandersetzungen immer wieder auftauchen. So gibt es beispielsweise außerhalb des Kontinents mehr Organisationen und Zentren für Afrikastudien, die Afrika definieren, als innerhalb.
Was ist Religion?
Einige Europäer:innen vertraten die Auffassung, dass das, was sie später durch eingehende Nachforschungen in Afrika entdecken würden, eher Tradition oder Glaube als Religion sei. Dies hat teilweise zu Schwierigkeiten bei der Definition von Religion geführt, da einige von ihnen die Konzepte und Praktiken afrikanischer Religion aus dem grundsätzlichen Bereich der Religion ausschließen wollten. Die Behauptungen der Europäer:innen über die Dunkelheit bzw. Nichtexistenz des afrikanischen Kontinents waren jedoch offensichtlich nicht haltbar, denn während ihres dunklen Zeitalters blühten jenseits ihres Verständnisses zahlreiche afrikanische Reiche auf.
Gibt es in Afrika nun eine Religion? Wenn Afrika nach Einschätzung der europäischen Sessel-Anthropolog:innen nicht existierte, kann es auch keine Religion gehabt haben. Wenn es in Afrika nur Tradition und Glauben anstatt von Religion gibt, bleibt die Frage: Was ist Religion? Die mit der Religion verbundene Definitionsproblematik einerseits und die Vielzahl kontroverser Definitionen andererseits können basierend auf einer Reihe von Europäer:innen entwickelten Kriterien die afrikanische Religion nur davon ausschließen, eine Religion zu sein. Für sie geht eine als Weltreligion einstufbare Religion mit einer Form der Zivilisation einher, die Afrika nicht zugestanden werden konnte.
Infolge ihrer Unfähigkeit, den Glauben und die Werte Afrikas zu verstehen, entwickelten die Europäer:innen Begriffe, um afrikanische Religion abzuwerten. Tatsächlich aber zeigt jede systematische und historische Analyse solcher Begriffe – Heidentum, Fetischismus, Synkretismus, Wildheit, Aberglaube, Primitivität, Polytheismus usw. – deutlich, dass ihr eigenes Glaubenssystem nicht frei von den Inhalten dieser Begriffe ist. Auf gleiche Weise wurden die Religionen der Inder:innen, Japaner:innen usw. von den Europäer:innen abgewertet. Die Strategie bestand darin, den afrikanischen Menschen eine Religion abzusprechen, damit sie die von ihnen propagierten fremden Religionen akzeptierten. Und leider ging die Strategie zu gut auf!
Verständnis von Gott als erfahrbares Wesen
Die afrikanische Religion ist strukturiert: Glaube an Gott, Gottheiten, Überzeugungen, Vorfahren, Magie und Medizin. Gott ist das Höchste Wesen, der Schöpfer aller Dinge. Dieses Höchste Wesen, das in Afrika in verschiedenen Sprachen mit verschiedenen Namen bezeichnet wird, ist kein Gott, der aus der Realität und der Substanz heraus rationalisiert und theologisiert wird und die menschlich-göttliche Beziehung verliert, sondern es ist ein Wesen, das in konkreten Formen erfahren und zu dem eine Beziehung aufgebaut wird. Die Gottheiten können ursprünglich sein oder verherrlicht werden; sie beaufsichtigen Lebensbereiche und Territorien und sorgen für Ordnung und Zusammenhalt in den Gemeinschaften. Dabei können die Ahnengeister gut oder bösartig sein; sie werden gerufen, um den Menschen behilflich zu sein. Von Kolonial- und Missionsbehörden wurden diese spirituellen Geister als böse bezeichnet. Aber tief im Inneren wissen sie, dass sie auch ihnen helfen können, wenn sie mit dem Labyrinth des Lebens konfrontiert werden.
So soll beispielsweise ein ehemaliger US-Präsidentschaftskandidat nach Haiti gereist sein und an Voodoo-Zeremonien teilgenommen haben, um die Wahl zu gewinnen. Der Priester riet ihm, er solle ein Ritual befolgen, bei dem er sieben Tage lang eine einzige Hose zu tragen habe, was er auch tat. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte! Auch bei der letzten Wahl 2020, als Paula White, die spirituelle Beraterin von Präsident Donald Trump, feststellte, dass die Wahlergebnisse ihren Auftraggeber nicht begünstigten würden, betete sie und beschwor Engel, um die Ergebnisse zu Trumps Gunsten zu beeinflussen. Als sie jedoch feststellte, dass amerikanische Engel zu abstrakt, säkular, unempfänglich und vielleicht machtlos waren, bat sie um „engelhafte Verstärkung" aus Afrika, um den „dämonischen Bündnissen" gegen den Wahlsieg ihres Chefs entgegenzuwirken. Sie erkannte, dass die Geister in Afrika unvergleichlich mächtig waren und sogar in die innenpolitischen Prozesse Amerikas eingreifen konnten. Vielleicht weigerten sich die afrikanischen Engel wegen der schmutzigen Politik und den Visa-Verfahren, zu reagieren! Das waren die Geister oder Engel, die sie früher als Mächte der Finsternis bezeichnet hatten, die dringend des Exorzismus bedurften.
Alternative Systeme
Die Vorfahren sind „lebende Tote". Sie sind nicht wirklich tot, denn tot zu sein bedeutet, nicht mehr zu existieren und vergessen zu werden. Sie spielen eine bedeutende Rolle bei der Rechtspflege in der Familie. Ein Ahne zu werden, ist die höchste Errungenschaft eines/r Afrikaner:in: Nicht jedem/r gelingt dies. Die Art des Lebens, das eine Person zu Lebzeiten geführt hat, die Familie, die Art des und das Alter zum Zeitpunkt des Todes sowie die Art der Beerdigung sind einige der Kriterien, die bestimmen, wer ein Ahne wird.
Insbesondere die Art des Lebens, wie es jemand gelebt hat, ist bemerkenswerterweise von entscheidender Bedeutung, denn nach dem Tod wird das Leben der verstorbenen Person von den Lebenden überprüft. Es werden Fragen gestellt, die sich darauf beziehen, ob das Leben der Person nachahmenswert war oder nicht. Dies bildet einen wichtigen Aspekt von Ethik und Moral in Afrika, da das eigene Leben anhand der moralischen Ordnung der Gemeinschaft bewertet wird. Die Vorfahren helfen bei rechtlichen Anliegen, vor allem wenn sie durch das Ausgießen von Trankopfern (libation) errufen werden. Während heute allerdings selten an afrikanische Ahnen erinnert wird, werden die kolonialen Vorfahren im nationalen Geschichtsunterricht gelehrt.
Schließlich gibt es noch den Bereich der Magie und Medizin. Unter Magie versteht man das Bestreben des Menschen, die Natur und übernatürliche Kräfte zur Zufriedenstellung der eigenen Bedürfnisse zu manipulieren. Der Unterschied zwischen guter und schlechter Magie liegt in dem damit zu erreichenden Ziel. Unter Medizin hingegen wird der Einsatz sowohl materieller als auch geistiger Ressourcen zur Vorbeugung oder Heilung von Krankheiten und Leiden und zur Erhaltung eines gesunden Lebens verstanden. Die Konturen von Krankheit gehen dabei weit über die biophysiologische Auffassung hinaus; sie erstrecken sich auf den sozialen, emotionalen und spirituellen Bereich. Die afrikanische Medizin bezieht sich in ihrem vollen Umfang auf das Wohlergehen des Menschen in seiner Gesamtheit. Von Kolonialist:innen und Missionar:innen wurde sie als Fetisch und Teufelszeug angesehen. Doch aufgrund ihrer Widerstandsfähigkeit gilt sie in Afrika heute als Alternativmedizin. Auch das afrikanische autochthone Rechtssystem wird als „alternative Streitbeilegung" bezeichnet. Die Frage ist: Was soll die Alternative für Afrika sein?
Gemeinschaftliche Wertvorstellungen
Afrikanische Werte sind teilweise in der afrikanischen Religion verankert. Sie sind institutionalisierte Ideale, die die Menschen in Afrika bei der Gestaltung ihres Lebens leiten. Moralische Werte sind von sich aus sozial; es sind gemeinsame und bewährte Werte, die sich aus den voneinander abhängigen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft ableiten und diese anleiten sollen. Die Moral ist für das reibungslose Funktionieren der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Ihr gesamtes Wohlergehen und -befinden ist Bestandteil afrikanischer moralischer Werte. So gelten Verantwortung, Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Gastfreundschaft, Beherbergung, Großzügigkeit, Mitgefühl, Treue, Ergiebigkeit, Liebe, Würde oder Fleiß als moralische Qualitäten. Besonders wichtige Werte sind die Heiligkeit des Lebens, Moral, Gemeinschaft, Ästhetik, Ubuntu und Geschwisterlichkeit.
Afrikanische Werte sind ebenso zielorientiert, wie sie dem Einzelnen und der Gemeinschaft helfen, ihr Handeln zu überwachen und zu bewerten. Es wird angenommen, dass diese Werte von Gott durch die Gottheiten genehmigt und von den Vorfahren durchgesetzt wurden, obwohl auch Verstand und Erfahrung eine Rolle spielen. Das Verständnis von Gemeinschaft in Afrika ist also komplex. In den meisten Fällen werden diese Werte zunächst im Familienkontext ausgelebt. Sie bilden die kulturelle Grundlage für die Entwicklung von Kindern. Moralische, kulturelle, soziale und andere gemeinschaftliche Werte werden den Kindern in der Familie eingeprägt. Jedoch wurden diese afrikanische Familienethik und ihre Systeme wie die Ehe, Geburt, Kindererziehung und -sozialisierung, Erstsprache, Art der Begrüßung, Fürsorgepflichten usw. durch Kolonialismus, Missionsreligionen und jetzt durch die Globalisierung ernsthaft angegriffen. Christliche, islamische und europäische Kulturen haben die afrikanischen Familienwerte so negativ beeinflusst, dass es einige Afrikaner:innen als beleidigend empfinden, als afrikanisches Kind bezeichnet zu werden. Zudem hat der moderne Trend die Attraktivität afrikanischer Familienwerte definitiv untergraben, und der schroffe Individualismus nimmt die zentrale Bühne in vielen Familien ein.
Schließlich betrachten einige Europäer:innen die Säkularisierung als eine zivilisatorische Errungenschaft, die ihrer Meinung nach jenseits der Vorstellung und des Verständnisses der Afrikaner:innen liegt. Säkularisierung als Trennung von Staat und Religion in der politischen Verwaltung – wenn das die Zivilisation und der Höhepunkt der demokratischen Entwicklung ist, dann gab es dies schon vor dem Kolonialismus in Afrika. Unter den Igbo, Bini, Yoruba in Nigeria und Dagomba in Ghana usw. gab es ein unbestreitbares, tief verwurzeltes säkulares System, das für ein reibungsloses Leben ihrer Königreiche und Gemeinschaften sorgte. Monarchen waren für die tägliche Verwaltung ihrer Territorien verantwortlich und die Priester wurden mit spirituellen und rituellen Ämtern beauftragt. Diese Funktionen waren klar abgegrenzt und dienten der gegenseitigen Kontrolle. Das soll nicht heißen, dass es keinen Missbrauch gab, sondern, dass es institutionalisierte Verhandlungsverfahren gab, um mit solchen Missbräuchen sowohl politisch als auch spirituell umzugehen. Der Kolonialismus aber, der kaum von den Fesseln der missionarischen Bewertung getrennt war, zerstörte die etablierte Trennung von Staat und Religion und erlegte Afrika eine undemokratische Herrschaft auf.
Heute haben die postkolonialen afrikanischen Länder mit Christentum und Islam und ihren widersprüchlichen Doktrinen zum Säkularismus mit einem religiösen Wiederaufflammen der Religionen zu kämpfen, was zu einer instabilen Politik und dem Verlust von Menschenleben führt. Die Afrikaner:innen müssen ihre spirituellen, moralischen, religiösen und traditionellen Ressourcen bewerten und damit beginnen, diejenigen voranzutreiben und einzusetzen, die für ihre Entwicklung relevant sind, so wie es die asiatischen Tigerstaaten im Zuge der Entkolonisierung taten.
Der Autor ist Leiter der Abteilung für Religion und afrikanische Kultur an der Adekunle Ajasin Universität in Nigeria sowie außerordentlicher Professor am Forschungsinstitut für Theologie und Religion an der Universität von Südafrika.
Übersetzt aus dem Englischen.