Heft 5/2023, Madagaskar

Schwere politische Krise vor den Präsidentschaftswahlen

Voraussichtlich am 16. November 2023 soll die Präsidentschaftswahl in Madagaskar stattfinden und – sofern eine Stichwahl erforderlich ist – am 20. Dezember 2023 entschieden werden. Hohe Wellen schlägt dabei die Kandidatur des derzeitigen Präsidenten Andry Rajoelina wegen seiner französischen Staatsbürgerschaft.

Von Marie Aimé Joël Harison

In Europa ist Madagaskar (die viertgrößte Insel der Welt) vor allem touristisch wegen seiner außerordentlichen Natur bekannt, von den politischen Gegebenheiten erfährt man aber in der Regel so gut wie gar nichts. Nun besteht die Gefahr, dass Madagaskar als ein weiterer Dominostein der aktuellen afrikanischen politischen Erdbeben fällt, denn seit Bekanntwerden der französischen Staatsbürgerschaft des derzeitigen Noch-Präsidenten Madagaskars, Andry Rajoelina, ist die Hölle los. Seine erst kürzlich bekannt gewordene bereits neunjährige französische Staatsbürgerschaft (bzw. Doppelstaatsbürgerschaft) widerspricht dem Art. 46 der madagassischen Verfassung. Jeder Kandidat für das Amt des Präsidenten der Republik muss Vater und Mutter mit madagassischer Staatsangehörigkeit haben.

Verfassungsgericht hält eigene Verfassung nicht ein

Das Oberste Verfassungsgericht (HCC) hätte damit die Wiederkandidatur Andry Rajoelinas zur Präsidentschaftswahl verbieten müssen, hat seine Aufstellung zur Wahl aber dennoch erlaubt. Damit hielt das Oberste Verfassungsgericht die eigene Verfassung nicht ein.

Darüber hinaus wird die unabhängige nationale Wahlkommission (CENI) von der Opposition massiv kritisiert als nicht „unabhängige" Wahlkommission, sondern als „Sprachrohr" und „Wahlmanipulationsinstrument" der Machthaber. Wahlkartenfälschung und Wahlmanipulation waren an der Tagesordnung (bereits Verstorbene stehen auch jetzt auf der Wahlliste, bestimmten Personen werden Wahlkarten mehrfach ausgestellt, etc.).

Turbulenzen um Interimspräsidentschaft

Der Senatspräsident Herimanana Razafimahefa, der als Interimspräsident das Amt des Präsidenten der Republik vor der regulären Wahl führen sollte, hatte am 8. September beim Obersten Verfassungsgericht eine Verzichtserklärung unter Berufung auf „persönliche Gründe" eingereicht, aber einen Monat später im „Vaovao MBS" vom 9. Oktober erklärt, dass er „Druck" und „Morddrohungen" von Regierungsmitgliedern ausgesetzt gewesen war, bis zur Präsidentschaftswahl keine Interimsmacht auszuüben. Die Erklärung vom 8. September möchte er nun zurückziehen, um die in der Verfassung vorgesehene Funktion „Interimspräsident" doch wahrnehmen zu können.

Daher lud Premierminister Christian Ntsay, der derzeit als Interimspräsident fungiert, den Senat zu einer außerordentlichen Sitzung ein, in der die Senatoren mehrheitlich für eine Entlassung des Senatspräsidenten stimmten aufgrund des Vorwurfs einiger Senatoren, dass er „geistige Defizite" hätte. Eine am selben Morgen durchgeführte Untersuchung der neuropsychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Befelatanana kam allerdings zum Schluss, dass der Senatspräsident bei guter Gesundheit sei. Er sei „in guter körperlicher Verfassung" und „in der Lage, seine berufliche Tätigkeit auszuüben und aufzunehmen". Das Gutachten hat er dem Obersten Verfassungsgericht vorgelegt, um zu beweisen, dass die Vorwürfe seiner Kollegen im Senat unbegründet sind – bis zur Veröffentlichung dieses Artikels ohne Erfolg.

Als neue Variante wurde am 13. Oktober der ehemalige Staatssekretär, Senator und General der Gendarmerie, Richard Ravalomanana, ins Spiel gebracht und von 15 anwesenden der insgesamt 18 Senatoren als neuer Senatspräsident gewählt.

Opposition fordert Wiederherstellung des Rechtsstaates

Aus allen obigen Gründen fanden bereits mehrere friedliche Demonstrationen statt, geführt von allen elf Oppositionskandidaten (von denen zwei bereits Präsidenten der Republik gewesen waren und einer der Sohn des früheren langjährigen Präsidenten Admiral Didier Ratsiraka ist). Sie fordern vom Obersten Verfassungsgericht die Aberkennung der Kandidatur des derzeitigen Noch-Präsidenten aufgrund seiner ungesetzlichen Doppelstaatsbürgerschaft. Sie fordern auch die Wiederherstellung des Rechtsstaates, vor allem, dass keine Person über dem Gesetz stehen darf, und dass das Oberste Verfassungsgericht die Verfassung selbst einhalten muss. Außerdem soll die unabhängige nationale Wahlkommission (CENI) abgeschafft werden.

Repressive Auflösung von Demonstrationen

Bisher wurden die bislang friedlichen Demonstrationen von der Polizei und Gendarmerie mit dem Einsatz von Gewalt, Tränengasgranaten und Weißgummigeschossen repressiv aufgelöst. Viele Demonstrierende wurden dabei verletzt oder festgenommen. So wurde z. B. ein Präsidentschaftskandidat durch eine Tränengasgranate schwer im Gesicht verletzt. Auch der frühere Präsident und Präsidentschaftskandidat Marc Ravalomanana erlitt Verletzungen; sein Leibwächter – ein Spezialeinheitssoldat der Bodenstreitkräfte – wurde festgenommen, ebenso der Generalsekretär der Oppositionspartei Tiko Madagascar, der bis dato von der Gendarmerie gefangen gehalten wird.

UN fordern Menschenrechte, Meinungsfreiheit, friedliche Versammlungen und Demonstrationen ein

Die Vereinten Nationen (UN) sind über die Verschlechterung der Menschenrechtssituation in Madagaskar im Vorfeld der in einem Monat geplanten Präsidentschaftswahlen besorgt, nachdem die Polizei mit unnötiger und unverhältnismäßiger Repression vier friedliche Demonstrationen innerhalb von zwei Wochen aufgelöst hatte. In ihrer Stellungnahme vom 10. Oktober fordern die UN den madagassischen Staat und die Regierung in klaren und einfachen Worten zur Einhaltung der Menschenrechte und Meinungsfreiheit und zur Ermöglichung von friedlichen Versammlungen und Demonstrationen auf.

Aufruf von Oberstleutnant Charles Randrianasoavina

Aufgrund der willkürlichen Verhaftung eines der Spezialeinheitsleibwächter des früheren Präsidenten und Chefs der Oppositionspartei Tiko Madagascar appelliert der Oberstleutnant der Bodenstreitkräfte Madagaskars, Charles Randrianasoavina, im Vaovao MBS vom 11. Oktober nachhaltig an den Oberstleutnant der Gendarmerie in Fiadanana sich zu entschuldigen. Ohne eine entsprechende Entschuldigung beim betroffenen Spezialeinheitsleibwächter sowie beim Chef der Bodenstreitkräfte wäre eine direkte militärische Konfrontation zwischen Gendarmerie und Bodenstreitkräften kaum zu vermeiden. Er appelliert auch an den Präfekten von Antananarivo, nicht nur im Büro Befehle zu geben, sondern auch im Feld bei der Durchführung von ihnen dabei zu sein, um die ordnungsgemäße Durchführung kontrollieren zu können.

Zudem appelliert er an das Oberste Verfassungsgericht und an die Regierung, Herimanana Razafimahefa in seiner Funktion als Senatspräsident und als derzeitigen Interimspräsidenten zu belassen bzw. wiedereinzusetzen. Er fordert das madagassische Militär (Tafika Malagasy) auf, das Volk zu schützen. Damit erklärt er seine Gegenposition zu Polizei und Gendarmerie, die sich auf der Seite des noch herrschenden Regimes sehen. Eine Situation, die an den „Mai 1972" erinnert!

Unzufriedenheit der Bevölkerung

Die Mehrheit der Bevölkerung kann sich das Leben kaum mehr leisten. Die extensive Verteuerung von lebensnotwendigen Gütern (Reis, Öl, Zucker, Wasser, usw.) und Medikamenten sind zur Herausforderung für das Überleben geworden. Stark gestiegen sind auch die Preise für Benzin und Diesel. Die Preise der Taxi-Brousse (die madagassische Version von öffentlichem Verkehr, die auf viel frequentierten Routen Personen und ihr Gepäck transportieren) hatten sich verdoppelt oder mehr und sind zur Herausforderung für die Bevölkerung geworden.

In allen Lebensbereichen sind die Folgen der Corona-Krise durch hohe Inflation, steigende Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt, Diebstahl, Kriminalität usw. deutlich nachzuspüren.

Die Strom-Wasser-Netze Madagaskars JIRAMA sind nicht mehr in der Lage, das ganze Land mit Strom und Wasser zu versorgen. Wasser-Knappheit gib es in den Bereichen Haushalt, Industrie und Landwirtschaft. In Haushalten läuft Wasser maximal nur zwei Stunden am Tag. Für die Stromversorgung gilt dasselbe, mehrere Stunden am Tag gibt es einfach keinen Strom. Gründe dafür sind z.B. in den alten Wasserrohren zu finden (meistens aus den 1970-Jahren), die schon längst hätten getauscht werden müssen (vgl. „Anhaltende Stromkrise" in afrika süd 4-2023).

Ein Land mit 29,6 Millionen Einwohnern (Stand 2022) wird hauptsächlich mittels zentralistischer Stromkonzepte in den jeweiligen Regionen versorgt.
Für die Hauptstadt Antananarivo produziert JIRAMA in Mandroseza mittelweile zwar bis zu 40 Megawatt Strom, der aber nicht einmal die Stromversorgung der Stadt Antananarivo zu decken in der Lage ist. Aber auch diese Teilversorgung funktioniert nur, weil JIRAMA 2017 die beiden alten schwerölbetriebenen Generatoren renoviert und einen neuen schwerölbetriebenen Generator dazu bekommen hat. Ähnliche Situationen kommen in fast allen anderen Regionen auch vor. Für moderne umweltfreundlichere Formen der Stromgewinnung fehlen sowohl das Geld, das technische Know-How als auch der wirtschaftliche Wille. In Zukunft könnte dieses sonnenreiche Land von der Solarenergie mittels lokaler Konzepte Energieversorgung sehr profitieren.

Darüber hinaus wurden von vielen angekündigten Versprechen „Velorano" des Noch-Präsidenten wenige umgesetzt.

Vermittlerrolle der Kirchen

Seit 1960 ist die madagassische Kirche auch in sozialpolitischen Angelegenheiten besonders engagiert. Die Partei PSD unter der Führung von Philibert Tsiranana (Erste Republik 1960-1972) hatte nicht nur die Unterstützung der französischen Sozialisten und der deutschen SPD, sondern auch das Wohlwollen der Kolonialverwaltung sowie der katholischen Kirche.
Der Besuch von Papst Johannes Paul II. im April/Mai 1989 bewirkte einen Demokratisierungsschub und eine Ermutigung der Kirche, der Unterdrückung und dem Elend der Bevölkerung die Stirn zu bieten und große Veränderungen ins Auge zu fassen. 1990 wendete sich Bischof Joseph Rabenirina an die Kirche, mobilisierte sie und erklärte, dass es die Pflicht der Kirche sei, bei einer politischen Krise nicht zu schweigen. Diese Einstellung der madagassischen Kirche, bei politischen Krisen eine Vermittlerrolle einzunehmen, hält sie bis heute aufrecht.

In diesem Sinne lud der Rat der christlichen Kirchen Madagaskars FFKM im Oktober alle Kandidaten der Präsidentschaftswahl 2023 zum (politischen) Dialog ein. Nur der derzeitige Noch-Präsident Madagaskars, Andry Rajoelina, konnte dieser Einladung nicht nachkommen, gab aber keine genaueren Gründe an. Er ließ sich nur vertreten. Konkrete Ergebnisse aus diesem Vermittlungstreffen des FFKM mit den Oppositionskandidaten der Präsidentschaftswahl 2023 und dem Vertreter von Andry Rajoelina sind aber derzeit nicht zu erwarten.

Könnte Madagaskar das nächste Bürgerkriegsland Afrikas werden? Welche Akteure könnten das noch verhindern?

Dr. Marie Aimé Joël Harison ist Buchautor und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.