Heft 6/2015, Editorial

Speaking Truth To Power

ES GAB EINE ZEIT, IN DER EINMISCHUNG AUCH ALS INTERNATIONALE SOLIDARITÄT VERSTANDEN und praktiziert wurde. Die Unterstützung der antikolonialen Kämpfe in Afrika – von A (wie Algerien und Angola) bis Z (wie Zimbabwe) – gehörte dazu. Die Informationsstelle Südliches Afrika (issa) gründete sich vor über 40 Jahren als Ausdruck dieses Engagements. Seither mussten sich solidarisches Verständnis und dessen Praxis im Wandel der Zeiten – sprich die Machtverhältnisse – einer Prüfung unterziehen. Die issa hat sich nicht gescheut, in unpopulären Fragen einen wertegeleiteten Standpunkt zu beziehen. Im Englischen gibt es hierfür das nur schlecht übersetzbare Leitmotiv „Speaking truth to power". Sie hat trotz mancher Kontroversen die Navigation durch Skylla und Charybdis einer kritischen Solidarität bislang trotz chronischer finanzieller Lecks ohne Schiffbruch überstanden. Vielleicht auch dank ihrer Glaubwürdigkeit, Solidarität als fortgesetzte Verpflichtung zum grundsätzlichen Schutz von Menschenrechten zu begreifen und deren Missachtung durch wen auch immer zu kritisieren. Die Themen und Inhalte dieser Zeitschrift dokumentieren dies.


Auch durch einen mittels internationaler Solidarität begünstigten Machttransfer regieren nunmehr die einstmals Entrechteten – meist eher schlecht als recht (und auch nicht immer rechtens). Diejenigen, die noch immer vom Geiste internationaler Solidarität motiviert sind, werden mitunter auf eine harte moralische Probe gestellt. Die Gewissensfrage ist längst nicht mehr so einfach zu beantworten, wie in den Zeiten, wo ein „Schwarz-weiß-Denken" (man möge mir die Wortspielerei nachsehen) einfach darüber befinden konnte, was gut und böse (in diesem Falle in umgekehrter Reihenfolge) ist. Mit den Führungsriegen der antikolonialen Bewegungen an der Macht hat sich die Perspektive der Herrschenden verändert. Durch die Erlangung des politischen Selbstbestimmungsrechts wurde ein wesentliches Ziel der Befreiungskämpfe verwirklicht. Die durch den institutionalisierten Rassismus zu Objekten Degradierten wurden nicht nur durch ihren Widerstand zu handelnden Subjekten, sondern nun auch zu neuen Machtträgern. Es ist ernüchternd zu verfolgen, wie sich durch diese Positionierung Sicht- und Handlungsweisen einstiger Hoffnungsträger verändert haben.


Befreiungskämpfer erwarteten die aktive Parteinahme für die Verdammten dieser Erde als kollektive Verantwortung. Sie appellierten an ein „Weltgewissen". Apartheid wurde als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geächtet. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen erklärte die Swapo zur einzigen und authentischen Vertretung des Volkes von Namibia. Das individuelle Engagement in der Soli-Szene reichte vom Früchteboykott bis hin zu Spendenkampagnen zur Umrüstung von Unimogs zum Einsatz im Kampf gegen das Siedlerregime in Rhodesien. Aber Solidarität durch Einmischung scheint mittlerweile von deren früheren Nutznießern weder erwünscht noch praktiziert zu werden.


Dies bezieht sich im konkreten Fall auf die Distanzierung vom Internationalen Strafgerichtshof/International Criminal Court (IStGH/ICC) durch afrikanische Staaten, nicht zuletzt der Regierungen des ANC in Südafrika und der Swapo in Namibia. Beide haben – wie über dreißig andere Länder Afrikas – zu Beginn dieses Jahrhunderts das Rom-Statut und damit die Institutionalisierung und Anerkennung des ICC ratifiziert. So wurden die geschaffenen Rechtsnormen und sich daraus ergebenden Verpflichtungen auch zu nationalen Gesetzen. Dass der ICC in der Folgezeit überwiegend – aber nicht ausschließlich, wie fälschlicherweise oft behauptet – für Massenverbrechen auf dem Kontinent Verantwortliche (darunter auch Staatsoberhäupter) zur Rechenschaft zu ziehen versuchte, wird als einseitige anti-afrikanische Intervention ausgelegt. Dabei geschah dies meist auf Ersuchen der Länder selbst. Doch mangelt dem ICC tatsächlich die Autorität, um die von den weltweit Mächtigen begangenen Kriegs- und andere Verbrechen zu ahnden. Die Großmächte jeglicher Couleur haben sich dessen Jurisdiktion verweigert. Grund genug, diese an den Pranger zu stellen. Aber reicht dies, sich deshalb der eigenen Verantwortung zu entziehen und Unrecht mit Unrecht zu entschuldigen?


Dass die Regierung Südafrikas den sudanesischen Staatschef Al-Bashir trotz des Auslieferungsgesuchs nicht dem ICC überstellte, sondern bei schwebendem Gerichtsverfahren zur Klärung der Verpflichtung vorzeitig vom AU-Gipfeltreffen Mitte Juni nach Khartum ausfliegen ließ, war ein Skandal. Immerhin trug der Protest dazu bei, dass Al-Bashir beim chinesisch-afrikanischen Forum Anfang Dezember an selber Stelle die neuerliche Präsenz scheut. Wie Südafrika hat auch Namibia angekündigt, sich zusammen mit anderen Ländern Afrikas aus dem ICC zurückziehen zu wollen. Präsident Geingob begründete dies damit, dass dieser sich in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten einmische. Womit wir wieder beim Thema internationale Solidarität wären. Das Legal Assistance Centre in Windhoek stellte in einer Presseerklärung fest, dass Menschenrechtsverletzungen niemals nur innere Angelegenheiten sind. Diese sind die Rechte aller Menschen, egal wo sie leben. Wieso hätten sonst die issa und viele andere Organisationen und Individuen in aller Welt den Kampf gegen die Apartheid unterstützt?


Henning Melber