Heft 6/2016, Südafrika

Symptom einer gebrochenen Gesellschaft

DIE #FEESMUSTFALL STUDIERENDEN-PROTESTE 2016 fordern eine freie Hochschulbildung und die Dekolonisierung der Universitäten Südafrikas.

 

„Jeder, der sagt, die Forderung laute einfach nur ‚freie (höhere) Bildung', ist unehrlich. Die Herausforderungen liegen nicht nur bei den Universitäten, sondern es geht um ein tiefes und strukturelles Problem, das lange Zeit unangetastet blieb. Die Universitäten sind Symptom einer gebrochenen Gesellschaft", erklärte ein Mitarbeiter der Stellenbosch-Universität im September gegenüber „Daily Vox".


Dieses Statement stellt den Kontext der größten Studierendenbewegung Südafrikas seit 1976 dar, die sich unter #FeesMustFall (FMF) organisierte und „freie, dekolonialisierte, qualitativ hochwertige Bildung" verlangt. Als die Studierenden an den südafrikanischen Universitäten im Oktober 2015 unter den Slogans #RhodesMustFall, #OpenStellenbosch, #TransformWITS demonstrierten, ging es darum, die „ehemals" weißen und schwarzen, englischsprachigen bzw. afrikaanssprachigen Universitäten wie die UCT (Universität von Kapstadt) und Wits (Witwatersrand-Universität) sowie die Universitäten in Pretoria und Stellenbosch zu dekolonialisieren. Die Studierenden forderten, wie Antje Schuhmann, Professorin für Politikwissenschaften an der Wits, kürzlich in dem Policy Paper „Die Dekolonialisierung von Südafrikas Universitäten" treffend beschrieb, „das Ende eurozentrischer Lehrpläne, das Entfernen kolonialer Statuen, das Umbenennen von Gebäuden, die Politiker der Apartheid ehren, die Transformation des nach wie vor hauptsächlich weißen Lehrkörpers und letztlich eine neue Universitätskultur, die allen nicht nur gleiche Chancen auf Bildung verspricht, sondern auch die Teilnahme an ihr ermöglicht." (Standpunkte 26/2016, Rosa Luxemburg Stiftung)


Die #FeesMustFall-Proteste 2016 sind für Südafrika nicht neu. Sie lassen sich nicht von ähnlichen Protesten an den Universitäten des Vorjahres trennen. Ihre Kritik setzt an denselben weiß-dominierten, rassistischen, neokolonialen und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, Herausforderungen und Repressionen an. Die Studierendenproteste von 2015 richteten sich gegen die erneute Gebührenerhöhung um zehn Prozent für 2016 und mobilisierten für die Besetzung der Universitäts-Gelände. Sie forderten „freie [höhere] Bildung für alle!". Als Antwort auf die Proteste wurden Studierende unter massiver Polizeipräsenz aus dem Eingangsbereich des Parlaments in Kapstadt geprügelt und mit Tränengas, Gummigeschossen sowie Wasserwerfern von den Straßen gejagt. Unter dem Druck der nahenden Examenszeit stellten sie im Dezember 2015 die Proteste ein. Für 2016 gab es keine Gebührenerhöhung.

 

Strukturelle Herausforderungen
In Südafrika sind die Universitäten öffentliche Einrichtungen, doch die hohen Studiengebühren bereiten dem Großteil der schwarzen Bevölkerung Kopfzerbrechen. Sie können nur mit größter Mühe aus eigener Hand oder mit der Aufnahme von Krediten gestemmt werden. Aktuell investiert Südafrika nach Informationen der Daily Maverick 0,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in den tertiären Bildungssektor. Damit lasten Analysen zufolge dreißig Prozent der Hochschulkosten – eine Summe von jährlich ca. 15 Billionen Rand (ca. 1 Mrd. Euro) – auf den Schultern der Studierenden und ihrer Familien. Die Studiengebühren an der Wits betragen durchschnittlich 30.000 bis 58.000 Rand (ca. 2.000-3.800 Euro) allein für das erste Jahr. Kosten für Unterkunft, Essen, Transport, Computer und Bücher kommen obendrauf. Die Hälfte aller schwarzen Haushalte hat aber nur ein Bruttoeinkommen von 34.000 Rand (ca. 2.300 Euro) jährlich. 2015 hatte die Regierung eine Erhöhung der Gebühren um weitere zehn Prozent angekündigt. Den folgenden Protesten ist sie mit massiver Polizeigewalt begegnet.

 

#FeesMustFall-Proteste 2016
Als der Minister für Hochschulbildung, Blade Nzimande, am 19. September 2016 verkündete, er rate den südafrikanischen Universitäten eine weitere Gebührenerhöhung um acht Prozent, begannen die #FeesMustFall-Proteste an der Wits, UCT, UP, UJ und anderen öffentlichen Hochschulen erneut. In den folgenden Tagen legten sie viele Campus lahm. Das Wits-Universitätsmanagement blies kurzzeitig alle akademischen Aktivitäten bis auf Widerruf ab. Die Gebührenerhöhung von acht Prozent ergebe sich, so Nzimande, aus den immer geringer werdenden staatlichen Finanzierungszuschüssen. Sie sind zwischen 2000 und 2012 um neun Prozent gesunken. Die achtprozentige Gebührenerhöhung müsste nur von den Studierenden aufgebracht werden, die nicht durch Kredite der staatlichen Studierendenbeihilfe (National Student Financial Aid Scheme, NSFAS ) unterstützt würden oder deren Eltern über 600.000 Rand (ca. 40.000 Euro) jährlich verdienten. Das mache dreißig Prozent der Studentenschaft aus.


Ist das nicht eine akzeptable Lösung? Nein, sagt die #FeesMustFall-Bewegung, denn es geht nicht um eine einmalige nullprozentige Erhöhung der Studiengebühren, auch wenn die #FeesMustFall-Proteste 2015 an dieser Stelle gestoppt haben, sondern um nachhaltige Veränderung durch „freie, dekolonialisierte, afrozentrierte, qualitativ hochwertige Bildung".


Der Kontext dieser Forderung ist tief in südafrikanischen universitären und gesamtgesellschaftlichen Dynamiken verwurzelt: 2013 konnten nur fünfzehn Prozent aller Immatrikulierten ihr Studium abschließen, wobei mangelnde Finanzen wesentliche Hindernisse waren. Professor Schuhmann beschreibt: In ihrem Postgraduiertenseminar sind zwei von fünfzehn Studierenden obdachlos, an fünf Tagen in der Woche übernachten sie in der 24-Stunden-Bibliothek. Sie können sich nur eine Mahlzeit am Tag leisten. 2014 waren über zwei Drittel aller Studierenden an der Universität Kapstadt Weiße, was die Demographie Südafrikas mit einer schwarzen Bevölkerung von circa 80,2 Prozent alles andere als widerspiegelt.


An der Wits-Universität und anderen öffentlichen Hochschulen Südafrikas unterrichten immer noch einige weiße Professorinnen und Professoren, die schon während des Apartheidregimes lehrten. In Seminaren berichten sie überwiegend über Jan van Riebeeck und Karl Marx, aber meistens nicht über politisch bedeutende Persönlichkeiten wie Steve Biko, Amílcar Cabral und Solomon Mahlangu. Darum haben sich #FeesMustFall-Proteste das Ziel gesetzt, den rassistischen und kapitalistischen Status-quo, der durch extrem hohe Studiengebühren manifestiert wird, nachhaltig zu verändern. Diese Struktur ist unter anderem ein Grund dafür, dass fünfzig Prozent aller Erstsemestler ihr Studium abbrechen müssen.


Sipho Singiswa, Journalist von Media for Justice, prangert den untransformierten Zustand der Wits-Universität in einem Gespräch mit schwarzen Studierenden an: „Wie kann es sein, dass ihr in keinem Gebäude dieser Uni Symbole und Persönlichkeiten findet, mit denen ihr euch identifizieren könnt? Wie kann es sein, dass ihr jeden Tag aufs Neue dazu gezwungen werdet, euch an weißen Standards zu messen?"
Eine weitere wichtige Komponente der #FeesMustFall-Proteste ist, dass der Kampf der Studierenden Hand in Hand geht mit den Kämpfenden der Elterngeneration, den Reinigungskräften und Gärtnern an den Universitäten sowie allen Familien zu Hause. Diese müssen oft hohe Kredite aufnehmen, um die Studiengebühren ihrer Kinder zu bezahlen. Die Proteste an der Wits konnten bis jetzt bewirken, dass ein Großteil der Reinigungskräfte an der Universität nicht mehr bei ausgelagerten Firmen angestellt ist. Dadurch steht ihnen die gleiche Krankenversicherung zu wie die des Lehrpersonals an der Wits, ihre Kinder müssen deutlich weniger Studiengebühren bezahlen als Kinder, deren Eltern nicht an der Wits angestellt sind.

 

Massive Polizeigewalt
„Ich habe gesehen, wie eine schwarze Frau aus der Masse rannte – ihr Kopf blutete. Und mehr als 13 wurden verletzt, als sie die Treppe herunterfielen", berichtete eine Protestierende der FMF-Bewegung an der Wits. Die südafrikanische Regierung hatte beschlossen, die Proteste kompromisslos niederzuschlagen; das sollten die Studierenden zu spüren bekommen. In den nächsten Wochen wurden sie kriminalisiert, indem sie brutaler Polizeigewalt und Repressionen ausgesetzt wurden. Viele wurden verfassungswidrig verhaftet, bedeutende FMF-Persönlichkeiten gesondert herausgegriffen und wochenlang in Hochsicherheitsgefängnissen eingesperrt.


Dies leitete im September 2016 eine weitere Ära massiver Polizeigewalt und die Militarisierung an den Universitäten Südafrikas ein. Im Laufe der nächsten zwei Wochen verkündete die Regierung, sie werde bis zum bitteren Ende gegen die Proteste vorgehen. Der Minister für staatliche Sicherheit, David Mahlobo, sagte, die Polizei bekäme keine Belohnung dafür, keine scharfe Munition zu verwenden. Fast täglich forderten Zusammenstöße mit bewaffneter Polizeigewalt und unbewaffneten Demonstranten an vielen Universitäten für immer bleibende Narben. Die Polizei schoss mit Gummigeschossen auf Studierende, feuerte Tränengas und Blendgranaten ab und setzte Wasserwerfer ein. So wollte sie die Studierenden von ihrem Recht zu Protestieren abhalten.


Am 10. Oktober 2016, nach vier Wochen massiver Polizeigewalt, fanden die Wits-Protestierenden Zuflucht in der nahegelegenen Kirche „Holy Trinity". Dort hielten sie ihr Treffen ab und organisierten sich. Als Pastor Graham Pugin versuchte, die Polizei davon abzuhalten, auf die Protestierenden zu schießen, und sich zwischen sie und Polizei stellte, traf ihn ein Schuss aus einem der berüchtigten Polizeifahrzeuge, einem Nyala, ins Gesicht. In derselben Woche wurde mit scharfer Munition auf einen Studenten in Pretoria (TUT) geschossen. Die Wits-Universität wurde offiziell der Polizei übergeben und für alle Universitäten wurde der Ausnahmezustand erklärt. Die Universitätsleitung von Wits verhängte am 14. Oktober eine Ausgangssperre. Sie gab der Polizei die Legitimation, auf alle Menschen, die sich nach 22 Uhr auf dem Campus aufhielten, zu schießen und sie zu verhaften. Diese Nachricht verbreitete sich rasch in den sozialen Medien unter #HabibsApartheid.


Hier drängt sich eine wichtige Frage auf: Warum schließen sich die Universitäts-Rektoren nicht den Protesten ihrer Studentinnen und Studenten gegen eine repressive Regierung an? Wo finden sich die Akademiker und Akademikerinnen in diesem System wieder? Der Wits-Universitätsrektor Prof. Adam Habib steht einem mehrheitlich weißen, männlich dominierten Senat vor. Verfolgt er vielleicht eigene Karriereinteressen und möchte beweisen, dass er eine jüngere Generation in die Schranken weisen und für „Ordnung" sorgen kann? Dies würde erklären, warum sich die Repressionen nicht nur gegen Studierende richten, sondern auch Verwaltungsangestellte und Lehrende dazu gezwungen wurden, an ihrem Arbeitsplatz, der einem Kriegsgebiet glich, zu erscheinen, um Normalität des akademischen Alltags zu erzwingen.

 

Medialer Einfluss und gesellschaftliche Kontroversen
Die von Gegnern der FMF-Proteste geäußerte Kritik richtete sich vor allem gegen die Anwendung von Gewalt von Seiten der Studierenden. Diese zeigte sich in dem Abbrennen von Autos und Unigebäuden sowie dem Werfen von Steinen auf Sicherheitsbeamte, die mit Helmen und Schildern geschützt waren. Besonders Menschen in privilegierten Positionen und Personen, die die Proteste einzig und allein aus dem Wohnzimmersessel beurteilten, waren der Ansicht, die Proteste hätten sich durch die gezeigte „Studierendengewalt" delegitimiert. Sie verstanden nicht, dass dieses Verhalten eine Form des politischen Drucks und militante Reaktionen zur Selbstverteidigung waren, um sich gegen ein strukturelles System der Gewalt zu wehren. Nur so ergab sich überhaupt für die FMF-Bewegung die potenzielle Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben und vom Universitätsmanagement und der Regierung gehört zu werden.


Die mediale Berichterstattung hat ihr Übriges getan, um die Kriminalisierung von Studierenden als gerechtfertigt darzustellen und das gesellschaftliche Bild von protestierenden „Hooligans" zu verstärken. Beschädigte Gegenstände und Gebäude, die weder im Kontext des Protestes noch von Protestierenden zerstört worden waren, wurden als studentische Gewaltakte verbreitet. Ein abgebrannter Bus in Braamfontein nahe der Wits-Universität wurde ohne Überprüfung der Fakten im Radio, Fernsehen und sozialen Medien den Studierendenprotesten angehaftet. Später stellte sich dies als Falschmeldung heraus.


Um Argumenten gegen und Zweifel an den Finanzierungsmöglichkeiten freier Hochschulbildung entgegenzuwirken, entwickelten Wits-Studierende und Wissenschaftler ein Finanzierungsmodell, das detailliert darlegt, wie freie Hochschulbildung im aktuellen wirtschaftlichen Kontext Südafrikas realisiert werden kann. Dieses Modell kann nicht nur 100 Prozent der Studiengebühren, sondern auch die Kosten für Unterbringung und Essen abdecken. Die Umsetzung dieses Finanzierungsmodells hängt Ökonomen wie Kaya Sithole zufolge vom politischen Willen der Regierung ab und beweist: Freie Hochschulbildung an Südafrikas Universitäten ist möglich.


Maren Denker

 

Die Autorin ist zurzeit Forschungsassistentin an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg.