Heft 6/2017, afrika süd-Dossier: Entwicklung

„Die afrikanische Moderne ist schon da, sie wird täglich neu erfunden“

INTERVIEW MIT FELWINE SARR. Den Geist zu dekolonisieren, das Imaginäre wiederzufinden, ein System der Repräsentanz zu etablieren, das Individuen in den Mittelpunkt stellt: Für den senegalesischen Ökonom und Autor Felwine Sarr verfügt der afrikanische Kontinent heute über alle Mittel, um ein Laboratorium der Ideen und einer neuen Ordnung zu sein. Mit ihm sprach Wendy Bashi.


Felwine Sarr: Afrotopia
Geboren 1972 in Sine-Saloum, 150 km südlich von Dakar, studierte Ökonomie in Orléans, Frankreich. Er ist Direktor der ökonomischen Fakultät an der Universität „Gaston Berger" in Saint-Louis im Senegal.
In „Afrotopia", 2016 bei Ed. Philippe Rey erschienen, plädiert Sarr für eine Zukunft Afrikas, bei der das kulturelle, politische und spirituelle Erbe des Kontinents Einzug hält in die Verwaltungssysteme. Eine englische Übersetzung wird voraussichtlich im Frühjahr 2017 erscheinen.


Im ersten Kapitel Ihres Buches „Afrotopia" erwähnen Sie einen doppelten Diskurs, wenn man vom Kontinent Afrika spricht: Es geht einerseits um eine leuchtende und andererseits um eine chaotische Zukunft. Wird sich in der Realität nicht die Bestürzung über das Chaos durchsetzen?
So weit würde ich nicht gehen. Angesichts einer großen Zahl von Krisen, von Ländern mit Kriegen, den Schwierigkeiten, Grundbedürfnisse zu befriedigen oder die Macht zu organisieren, wie auch die Beteiligung aller in gleicher und gut verteilter Weise, ja, da gibt es Bestürzung. Aber ich komme auf dem Kontinent herum, in den Städten, auf dem Lande, in verschiedenen Regionen, ich habe nicht das Gefühl, dass die Afrikaner bestürzt sind über ihre Lage in der Welt.

Viele Länder Afrikas werden heute als Staaten mit erheblichem Wachstum dargestellt, Beispiele wie Ruanda oder Ghana werden genannt. Zugleich aber zeigt sich im Alltag der Menschen, dass es ganz anders zugeht. Wie erklären Sie sich als Ökonom diese Diskrepanz?
Man kann das Ganze auf zwei Ebenen betrachten. Zum einen gibt es einen Fetischismus des Wachstums. Wachstum an sich sagt nicht viel aus, denn entscheidend ist ja, ob es die Lebensbedingungen der Menschen verbessert. Wir sollten da nicht Aussagen hineininterpretieren, die nicht darin enthalten sind. Der Indikator sagt nichts über Ungleichheiten, Beschäftigung und Wohlergehen aus, wie diese Vermögenszunahme umverteilt wird oder zur Verbesserung des Lebensniveaus beiträgt.
Man muss sich nicht nur in Bezug auf Afrika vom Fetischismus des Wachstums trennen. Man muss den Begriff neu definieren. Beobachtete Tendenzen zu wachsendem Wohlstand sind zwar richtig, aber das bedeutet ja nicht gleich, dass den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprochen wird. Wenn Sie eine Gesellschaft haben, in der eine Minderheit Reichtum und Macht an sich reißt, wird sich auch durch Wachstum kaum etwas ändern.

Es wird viel über die große globale Krise in ökologischer und wirtschaftlicher Hinsicht und einen Anstieg von bewaffneten Konflikten gesprochen. Was sind die Ursachen und wie sehen Sie diesbezüglich die Reaktionen Europas?
Die Hauptursache ist bekannt: das westliche kapitalistische Modell. Es hat gravierende Folgen für die Umwelt, belastet die Ressourcen des Planeten stark und bedroht seine Regenerationsfähigkeit. Der Kurs muss sich ändern, das ist eine grundlegende Frage. Da geht es auch um eine bedeutende zivilisatorische Entscheidung, wie man das industrielle Abenteuer des 20. Jahrhunderts in Europa anhalten kann, wie man eine intelligentere Beziehung zwischen Ökonomie und Ökologie herstellen und viel ressourcenschonender, respektvoller gegenüber der Umwelt und nachhaltiger sein kann. Das Problem ist freilich, dass, was immer in einer Region entschieden wird, Auswirkungen auf planetarer Ebene hat und die desaströsen Folgen überall spürbar werden. Damit ist es eine globale Frage.

Sie sprechen von Dekolonisierung des Geistes und davon, die Vorstellungskraft neu zu erfinden. Gibt es da nicht die Gefahr, die Vergangenheit zu glorifizieren?
Nein, man sollte nicht in eine solche intellektuelle Falle geraten. Die Tradition ist ein symbolisches Kapital, das man erneut mobilisieren muss. Sie ist nie erstarrt, wenn man Tradition sagt, meint man kulturelle Sachverhalte, die Menschen im Laufe der Zeit stabilisieren. In diesem Erbe muss man nach dem suchen, was funktioniert hat, um es zu reaktivieren und gegebenenfalls anzupassen. Diese Sachverhalte wurden erfunden, um den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen. Man muss festhalten, dass unsere Vergangenheit systematisch niedergemacht worden ist. Der Kolonialismus hatte ja nicht nur mit Waffen oder Waren zu tun, sondern damit, dass ihre Ideen an die Stelle der unseren gesetzt wurden. Wie können wir als die ältesten Zivilisationen der Welt gelten und dann auf lange Sicht keine interessanten Antworten hervorgebracht haben? Europa hat sich ja auch eine alte Zivilisation angeeignet, die der Antike. Wer uns Afrikaner an einer solchen Wiederbefruchtung hindern will, redet dann gerne von „Nostalgie". Es ist diese subtile Art, uns mitzuteilen, dass unser Beitrag zur Welt nichts wert sei. Daher müssen wir diese Art von Diskurs ablehnen.

Wie soll man der Krapfen-Verkäuferin an der Straßenecke in Kinshasa oder dem Bauern der Sahel-Zone erklären, dass man die Vorstellungskraft neu erfinden muss?
Ich denke, dass deren Vorstellungskraft weniger belastet ist. In unseren ländlichen Gebieten sind die Menschen weniger vom Wunsch infiziert, im Zeitalter von Industrie und Neoliberalismus zu leben. Nein, all das betrifft unsere Eliten, deren Hauptanliegen es ist, ein Modell zu imitieren, das systematisch alles abwertet, was auf dem Kontinent produziert wird. Stattdessen glauben sie, mit dem Streben nach Höherem Lebensformen zu erreichen, die aus dem Westen kommen. Diese Arbeit findet auf mehreren Ebenen statt, sie erfordert Wissen, Kino, die Künste, das Bild, das wir von uns selbst haben. Sie bedeutet, uns unserer Kulturen und unseres Erbes gewahr zu werden und diese sich wieder anzueignen. Das heißt nicht, dass wir nicht kritisieren dürfen, was rückschrittlich ist, aber offensichtlich gibt es viele grundlegende Ressourcen, denen wir folgen müssen.

Was sollten wir von afrikanischen Traditionen behalten und was sollte geändert werden?
Dies erfordert einen Diskurs von zivilisatorischer Bedeutung, der die Art der Gesellschaft reflektiert, die wir aufbauen wollen, und die Werte, die im Mittelpunkt dieser Gesellschaften stehen sollten.
Es gibt verschiedene Formen des Wirtschaftens, die wir Kreislaufwirtschaft nennen, die Ökonomie des Schenkens und Gegenschenkens, in denen Beziehungen und Austausch anders betrachtet werden. All diese Formen sind latent vorhanden, sie existieren in Gesellschaften und verdienen es, daraufhin überprüft werden, wie sie uns helfen können, auf die Dringlichkeit zu reagieren, das Wirtschaftliche, das Soziale, das Politische und die Beziehung zum Leben neu zu erfinden. Das ist meiner Meinung nach die globale Frage der Zukunft: Wie erfinden wir unsere Zivilisation neu? Wie gestalten wir unsere Beziehung zu unserer Umwelt?
Was ich in unseren Kulturen grundlegend finde, ist, dass sie schon wissen, wie man soziale Bindungen webt, wie man Konvivialität und Zusammenhalt schafft und Unterschiede artikuliert. Natürlich gibt es wie in allen Gesellschaften Reibungen und Probleme, doch man weiß dem Einzelnen seinen Platz in der Gruppe zu geben. In einer Welt, die sich auflöst, in der überall Gesellschaften zusammenbrechen, wo die soziale Bindung zum Problem wird und die zentrifugalen Tendenzen des neoklassischen Individualismus herrschen, müssen wir wissen, wie man Gemeinschaft wiederherstellt. Das bedeutet nicht, Individualität zu leugnen, doch die gesamte menschliche Produktion wird von der Gruppe erledigt. Da, finde ich, haben unsere Gesellschaften in der Sprache der Ökonomen einen außerordentlichen Wettbewerbsvorteil. Wir haben viel zur Welt beizutragen.

Gibt es hier Überschneidungen zu Ansätzen wie Degrowth, Transitions Towns, Ubuntu oder Buen Vivir?
Die afrikanischen, asiatischen und indischen Welten haben Antworten auf wirtschaftliche, ökologische, gesellschaftliche Themen geliefert, die sich nicht erschöpft haben. Auf diese Ressourcen können wir uns stützen, können, wenn wir bereit sind, in sie investieren.
Ich denke, dass der alternative Modus, den wir wollen, durch die Formulierung all dieser Ansätze erreicht wird. Die Vielfalt der Erfahrungen bietet interessante Möglichkeiten. All diese Initiativen interessieren mich, denn sie sind Gesichter eines Experiments, das man ausprobieren kann. Es wird in verschiedenen Kontexten spezifische Antworten geben.

Wie würde Afrika in diesem neuen demokratischen System aussehen? Wie würde das Problem der Repräsentation gelöst?
Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass wir es erforschen müssen. In vorkolonialer Zeit gab es im Senegal Gesellschaftsstrukturen, in denen die Menschen auf vielerlei Art in sich überlagernden Netzwerken verbunden waren. Da gab es die auf die Geburt bezogenen Netzwerke, matrilineare oder patrilineare Abstammungslinien, sozio-professionelle Netzwerke, ethnische Netzwerke, Altersklassen-Netzwerke. All diese Gemeinschaften sind konzentrische Kreise, die Dinge werden miteinander geteilt, das bedeutet für mich Reichtum. Es gab Versammlungen für jede Art von Gemeinschaft, für jede Gemeinde, die wirklich repräsentativ waren. Ich glaube an den Genius der Gesellschaften, wir müssen diesen nur in Aktivität umsetzen.

Heute redet man oft von der problematischen Bevölkerungsentwicklung Afrikas. Die Afrikanische Union hat unlängst einen Fahrplan veröffentlicht, wonach vornehmlich in die Jugend investiert werden muss. Wie denken Sie, kann man die demographische Dividende zu einer Kraft für den Kontinent nutzen?
Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass man vorwiegend in Humankapital, also in Bildung und Gesundheit, investieren muss. Wenn man in das physische Wohlbefinden des Menschen, in seine intellektuellen Fähigkeiten investiert und seine Kapazitäten transformiert, wird er ein nützlicher Agent sein. Aus rein ökonomischer Sicht wird er eher dazu beitragen, Reichtum zu produzieren. Dass man in das Humankapital investieren und dies von Qualität sein muss, darüber dürfte es in der Theorie kaum Kontroversen geben. Politisch stellt sich indes die Frage, wie man dahin kommt, dass weniger für das Militär, den Sicherheitssektor und andere Bereiche ausgegeben wird, wenn man von der Prämisse ausgeht, dass Investitionen in den sozialen Bereich an erster Stelle stehen müssen, um Entwicklung, Wachstum, Frieden und Sicherheit zu erreichen. Das ist die große Herausforderung.

Wie sieht denn der Weg in die Modernität Afrikas aus?
Wenn ich in Dakar, Abidjan und anderen Hauptstädten Afrikas unterwegs bin, sehe ich, dass die afrikanische Modernität schon präsent ist. Ich schaue mir an, wie die Menschen ihre Synthesen betreiben, wie sie sich kleiden, sei es mit afrikanischen oder nicht-afrikanische Stoffen, die auf aktuelle und moderne Art stilvoll sind. Sie kleiden sich in Anlehnung an verschiedene internationale Stile, die sie in Beziehung zu Afrika artikulieren, das ihnen gehört, in dem sie eine Produktion haben, die ihnen gehört. Modernität ist also kein Prozess, sie ist schon da. Das Problem ist allerdings zu begreifen, dass man modern sein kann, ohne westlich zu sein. Das sind zwei verschiedene Dinge, denn Modernität entsteht überall. Es gibt sie in Asien, Afrika und in Indien, sie erfindet sich jeden Tag neu.

Wie stellt sich bei dieser Suche der Unterschied in der Forschung zwischen Senegal und Südafrika dar?
Natürlich sind die südafrikanischen Universitäten unvergleichlich reicher, sie haben mehr Mittel. Darüber hinaus sollte man Achille Mbembe befragen, der ja in Südafrika lehrt und weiß, ob man sich dort einer Forschung zuwendet, die ich eine prospektive Forschung nennen würde, eine Forschung, die darauf abzielt, die Formen von morgen zu erfinden. Was ich an den senegalesischen Universitäten kritisiere: Sie nehmen lokale Probleme nicht hinreichend wahr, sie sind auch keine Agenten der Transformation ihrer eigenen Umgebung. Sie sind noch allzu sehr von der kolonialen Tradition geprägt, auch wenn es da interessante Ansätze zur Erneuerung gibt, z.B. in der Universität, in der ich lehre.

Während der letzten Ausgabe der von Ihnen initiierten Denkwerkstätten in Saint Louis haben Sie von einer „Afrikanisierung der globalen Frage" gesprochen. Was meinen Sie damit?
Afrika hat dazu alle Mittel, Indien und Lateinamerika machen auch interessante Vorschläge. In Bolivien hat man das Recht der Natur in die Verfassung aufgenommen, die Bewegungen der Indigenen haben verdeutlicht, dass die Trennung von Kultur und Natur eine westliche Vorstellung ist. Natur ist Teil der Gemeinschaft, Erde ist wie eine Mutter, sie ist unveräußerlich und darf nicht zerstört werden. Afrika ist vor allem deswegen interessant, weil der Kontinent alt ist, mit einer alten Zivilisation und Wiege der Menschheit, zugleich aber auch jung, mit einer wachsenden Bevölkerung, einer jungen Bevölkerung. Und weil Afrika nicht vollständig in das Abenteuer des 20. Jahrhunderts verstrickt ist, gibt es Räume für Initiativen, Platz für Konstruktionen, Orte zu besetzen und zu bewohnen, Städte noch zu erbauen; all das sind Elemente, um vieles anderes neu zu gestalten.

Worum geht es in Ihren nächsten Denkwerkstätten?
Wir haben als allgemeines Thema „Planetare Bedingungen und Lebenswelten", und Themen wie Dekolonisation, die Verbreitung von Wissen, Feminismus, Wirtschaft, Formen der Demokratie, Souveränität, Panafrikanismus, den Roman, Identitäten in der Diaspora.

Was ist denn nun Afrotopia? Und wie können wir diesen Ansatz erreichen?
Das liegt an uns: Es geht uns vor allem um einen neuen geistigen und psychologischen Horizont, ihm eine präzise Form zu geben. Das ist das Wichtigste. Zunächst müssen wir an der Imagination arbeiten, aufzeigen, dass der Horizont nicht verschlossen, sondern offen ist, es viele Möglichkeiten gibt, in unserem konkreten Kontext etwas Neues zu erfinden. Das Universum ist nicht blockiert. Afrotopia ist der Ort unserer Erfüllung, an dem wir uns entfalten können.