Heft 6/2017, afrika süd-Dossier: Entwicklung

„Wir brauchen einen New Deal“

SÜDAFRIKAS ANTWORT AUF VORZEITIGE DEINDUSTRIALISIERUNG und den Beginn der vierten industriellen Revolution. Zu diesem Thema hat Südafrikas Minister für Handel und Industrie, Rob Davies, afrika süd ein Interview gegeben.

Im Lauf der letzten 30 Jahre ist in Ländern niedrigen und mittleren Einkommens ein Trend zu einer relativen, vorzeitigen Deindustrialisierung zu beobachten, der von der europäischen Entwicklungshilfe selten thematisiert wird. Meistens hatten diese Länder nach dem zweiten Weltkrieg einen bescheidenen Sektor der verarbeitenden Industrie hinter hohen Importschutzzöllen aufgebaut, um teure Importe aus den kolonialen „Mutterländern" mit eigenen Produkten zu substituieren. Noch vor Ende des 20. Jahrhunderts begann aber ein Prozess, in dem sich Entwicklungsländer in Dienstleistungsökonomien wandelten, bevor sie überhaupt die Erfahrung einer ernst zu nehmenden Industrialisierung gemacht hatten. Für die reichen Länder des Nordens war die verarbeitende Industrie der sprichwörtliche Motor der technischen Modernisierung und finanziellen Entwicklung der Wirtschaft gewesen. Was bedeutet dann eine vorzeitige Deindustrialisierung für Entwicklungsländer oder Schwellenländer wie Südafrika? Eine Rückstufung in Rohstoffproduzenten ohne Aussicht auf Entwicklung? Gleichzeitig betritt Südafrika die Ära der digitalisierten Produktion.
Mitten in seiner hektisch getakteten Arbeit nahm sich Südafrikas Minister für Handel und Industrie, Rob H. Davies, Zeit, unsere Fragen zu bedenken. Wir danken der Soziologin Judith Head, ohne deren Hilfe dieses exklusive Interview für afrika süd nicht zustande gekommen wäre.

Wie lässt sich Deindustrialisierung charakterisieren? Handelt es sich um eine relative Verringerung der Zahl der Beschäftigten der verarbeitenden Industrie in der Gesamtwirtschaft sowie ihres Beitrags zum Bruttoinlandsprodukt (BIP)?
In der Tat gab es in Südafrika eine relative Abnahme des Beitrags der Verarbeitenden Industrie zum BIP, während der Beitrag der finanziellen Dienstleistungen zum BIP massiv expandierte. Die Abnahme ist relativ zu sehen, nicht in absoluten Zahlen. Aufgrund der zunehmenden Kapitalintensität und der abnehmenden Arbeitsintensität der Produktion ist die Zahl der Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie nicht proportional zum Wachstum des Industriesektors angestiegen.
Das Ende der Uruguay-Runde (achte im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT durchgeführte Welthandelsrunde von 1986 bis 1994; d. Red.) in der Welthandelsorganisation (WTO) korrespondierte mehr oder weniger mit dem Übergang Südafrikas zur Demokratie. In den frühen Jahren des demokratischen Südafrika erklärte die Regierung eine Notwendigkeit zu einer Tugend: Sie setze eine drastischere Reduzierung ihrer Importzölle durch, als von der WTO selbst gefordert. In einigen Fällen führte das zum Verlust von Arbeitsplätzen. Bis ungefähr 2009 gab es eine ungeschriebene Regel, nach der Importzölle nur sinken, aber niemals steigen könnten. Nach 2009 veränderten wir hier unsere Politik. Jetzt nutzen wir alle Optionen, die uns die WTO-Regeln noch erlauben. In einigen Fällen, wo wir Arbeitsplätze gefährdet sahen oder wo Beweise dafür vorlagen, dass dies die Industriepolitik schützen könnte, haben wir die Tarife wieder höher gesetzt.

Wie haben sich die Handelsabkommen mit der Europäischen Union und China ausgewirkt?
Das Abkommen über Handel, Entwicklung und Zusammenarbeit (TDCA) mit der EU wurde 2000 abgeschlossen. Dessen Tarifphase wurde 2012 beendet. Dieser Zeitpunkt fiel mit einem wachsenden Handelsdefizit Südafrikas gegenüber der EU zusammen. Wir kaufen immer noch viel mehr von der EU, als wir an sie verkaufen. Das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) trat 2016 in Kraft. Wir konnten das EPA auf den Warenhandel eingrenzen. Das Ergebnis stellt im Vergleich zum TDCA eine bescheidene Verbesserung dar. Für einige unserer landwirtschaftlichen Exportgüter erhielten wir besseren Zugang zum EU-Markt, während wir unser Handelsabkommen mit dem unserer Partner in der Zollunion SACU (Southern African Customs Union mit Südafrika, Namibia, Botswana, Lesotho und Swasiland; d. Red.) besser harmonisieren konnten. Um es kurz zu machen: Wir sind nicht scharf auf Freihandelsabkommen (FTAs). Wir haben auch keines mit China. Innerhalb des WTO-Rahmens und besonders im Blick auf Handelspartner außerhalb des afrikanischen Kontinents verteidigen wir unsere politischen Gestaltungsmöglichkeiten.
Aber im Zuge unserer Bemühungen zu Gunsten wachsender regionaler Integration auf unserem Kontinent setzen wir nichtsdestotrotz auf FTAs als Teil eines Programms entwicklungspolitischer Integration. Das schließt den Ausbau der Infrastruktur und Kooperation zur Förderung der Industrialisierung ein.

Worin bestand die Antwort der Regierung auf die Deindustrialisierung?
Seit etwa 2007 hat sich bei uns die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir eine Deindustrialisierung riskieren und darauf mit einer dezidierten Industriepolitik antworten müssen. Vor 2009 identifizierte der nationale Rahmen für Industriepolitik (NIPF, National Industrial Policy Framework) die wesentlichen Aktionen, die zu ergreifen waren. Das schloss eine entwicklungspolitische Perspektive auf Importzölle ein: Wo notwendig, sollten Zölle auch angehoben werden können; hinzu kamen Finanzierungshilfen für eine weitere Industrialisierung durch die Gewährung von Krediten, Beharren auf südafrikanische Industriestandorte und andere Maßnahmen. Das wurde je nach Sektor gestaltet, aber auch querbeet, um Industrialisierung überhaupt und in allen Bereichen zu fördern.
Wir haben jetzt einen rollenden Aktionsplan zur Industriepolitik (IPAP, Industrial Policy Action Plan) mit einer Zeitperspektive von drei Jahren. Jedes Jahr wird dieser Plan erneuert; er bezieht sich auf das bevorstehende Finanzjahr und die darauf folgenden zwei Jahre. Wir versuchen, Industrialisierung tiefer zu verankern, indem wir Wertschöpfungsketten verlängern, indem wir Zulieferbetriebe für Endprodukte gründen oder neue, lokal hergestellte Produkte einführen.

Worin besteht die Antwort der Regierung auf die vierte industrielle Revolution?
Die ist ja schon Realität. Aktuell sehen wir die wachsende Einführung der Digitalisierung des Arbeitsprozesses, den zunehmenden Einsatz von Robotern in der Produktion, von künstlicher Intelligenz (AI) oder dreidimensionalen Druckern. Das alles erhöht die Anforderungen an die Qualifikation derer, die einen Arbeitsplatz in einer Fabrik anstreben. In der Vergangenheit hätte diese Art des technologischen Fortschritts den ungelernten Arbeitskräften immer noch genügend Chancen auf bestehende Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor gelassen. Aber an vielen Stellen des Dienstleistungssektors findet derselbe Übergang zur Industrialisierung 4.0 statt. Zum Beispiel führt der elektronische Handel dazu, dass der Bedarf an gering qualifiziertem Personal an der Kasse des Einzelhandels zurückgeht.
Die südafrikanische Regierung tut alles, was sie kann, um sich darauf vorzubereiten. Das schließt ein, dass wir die Gelegenheit schaffen, höhere Fähigkeiten besonders bei digitalen Technologien zu erwerben. Wir errichten eine neue Breitbandinfrastruktur für schnellere Kommunikation. Wir versuchen auch, einige der jetzt anfallenden sozialen Aufgaben anzugehen; allerdings vermuten wir, dass einige Probleme nicht auf der Ebene der einzelnen Länder gelöst werden können.

Wie wirkt sich die globale Aufblähung der Aktivitäten des Finanzsektors und die Existenz einer globalen alternativen Schattenwirtschaft aus?
Das ist in der Tat ein signifikanter Trend, welcher in der Periode um 2008 eine globale Wirtschaftskrise auslöste. Hier geht es ja nicht nur um einen Finanzsektor, der die Finanzierung von Investitionen in den produktiven Sektoren der Wirtschaft bereitstellt. Hier geht es um einen Sektor, dessen Aktivitäten weit über seine traditionelle Rolle hinaus rasant expandierten und jetzt eine Serie riskanter spekulativer Aktivitäten umfasst, die vom Ponzi-Schema (betrügerische Tricks zum Anlocken von Investitionen; d.Red.) bis zu neuen Tricks der Steuervermeidung und dergleichen mehr reichen. Das sind signifikante Probleme. Aber man kann sie nicht auf der Ebene von Nationalstaaten lösen. Wir müssen dies auf globaler Ebene lösen. Aus diesem Grund unterstützen wir den Ansatz, den dieses Jahr ein UNCTAD-Bericht aufgezeigt hat. Der Bericht hat den Titel „Austerity towards a Global New Deal". Hier geht es um strukturelle Probleme, die den Aufbau einer stabilen Grundlage für Wirtschaftswachstum, Industrialisierung und den Übergang der Arbeitskräfte in Entwicklungsländern in entwicklungsfreundliche und einkommenssteigernde Tätigkeiten gefährden.

Erfordert die Digitalisierung der Industrie nicht die Formulierung eines völlig neuen Arbeitsrechtes, um die Arbeitskräfte in der neuen, atomisierten Umwelt schützen zu können?
Was wir brauchen, ist ein „New Deal", der darauf abzielt, eine hohe Ebene von Inklusivität zu fördern. Was wir aber gegenwärtig haben, ist, dass die Gewinner gleich alle Märkte oder doch die meisten Märkte an sich reißen. Wer immer als Erster neue Produkte einführen kann, räumt riesige Gewinne ab. Diejenigen, die an zweiter oder dritter Stelle ins Ziel kommen, erhalten ein recht geringes Einkommen, wenn überhaupt.
Wenn sich aufgrund der Digitalisierung die Nachfrage nach Arbeitskräften massiv verringert, sollten wir dann nicht erst einmal die Arbeitsstunden pro Tag reduzieren? Schließlich war die erste industrielle Revolution auch begleitet von der Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages. Ferner ist zu hinterfragen, ob das Einkommen so direkt und eng an einen Arbeitsvertrag gebunden sein sollte, wie das jetzt der Fall ist. Das sind große Fragen, die wir in mehreren internationalen Foren debattieren. Da wir in einem globalisierten Wirtschaftssystem handeln, müssen wir sie letzten Endes auch auf globaler Ebene lösen.

Das Interview wurde von Gottfried Wellmer in Kooperation mit Judith Head, Kapstadt, am 26.10.2017 geführt.