Heft 6/2017, afrika süd-Dossier: Entwicklung

Mehr als bloße Nachhaltigkeitsrhetorik?

VON DEN MDGS ZU DEN SDGS: Anspruch und Wirklichkeit des globalen Entwicklungsdiskurses aus afrikanischer zivilgesellschaftlicher Perspektive oder die Notwendigkeit eines grundlegenden Umdenkens.

Unter dem Dach der Vereinten Nationen einigte sich die internationale Gemeinschaft im Jahr 2000 auf konkrete gemeinsame Entwicklungsziele, die Millennium Development Goals (MDGs). Auf dem sogenannten Millenniumsgipfel zogen „die Staats- und Regierungschefs der Welt Bilanz über den ungleichen Stand der menschlichen Entwicklung auf der Welt und bekannten sich zu ihrer gemeinschaftlichen Verantwortung, weltweit die Grundsätze der Menschenwürde und der Gleichberechtigung zu wahren" (UN-Entwicklungsprogramm 2002). Sie erklärten ihre Unterstützung für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte und formulierten darüber hinaus acht Ziele für Entwicklung sowie zur Beseitigung der Armut, die bis zum Jahr 2015 erreicht sein sollten. Obwohl diese Ziele, die sich um Hungerbekämpfung, Geschlechtergerechtigkeit, Förderung von Bildung und Gesundheit besonders für Kinder und Mütter, Umweltschutz und Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung drehten, minimalistisch und wenig ambitioniert waren, lässt sich ihr Scheitern nicht mehr leugnen. Ohne die tiefen Ursachen dieses Scheiterns zu analysieren und Konsequenzen zu ziehen, schickte sich die internationale Gemeinschaft an, 2015 ein neues Programm zu verabschieden. So geschieht es in der Entwicklungspolitik seit der ersten Dekade.

Neue Schläuche – alter Wein
Anders als etwa in vielen afrikanischen traditionellen Religionen, in denen Namensänderungen zu Schlüsselmomenten im Leben einer Person oder einer Gemeinschaft „Wesensänderungen" einläuteten, hat es die Entwicklungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten fertig gebracht, immer wieder neue Schlagwörter zu erfinden, ohne dabei aber etwas Grundlegendes zu verändern. Die Geschichte von Entwicklungspolitik ist auch in diesem Zusammenhang eine Geschichte von sich ablösenden Schlagwörtern ohne nennenswerte Konsequenzen für die Praxis.
Egal ob von Modernisierung und sozialem Wandel, Handel statt Hilfe und Weltmarktorientierung, grundbedürfnisorientierter Förderung, Nachhaltigkeit und Schuldeninitiative oder guter Regierungsführung und Menschenrechten die Rede war, der Referenzrahmen blieb und bleibt mit Abstrichen stets das in der nördlichen Hemisphäre vorherrschende, wachstumsorientierte, ressourcen- und energieintensive Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Das Modell der nachholenden Entwicklung, das von der Annahme ausgeht, dass die Industrienationen das verkörpern, wonach die als „Unterentwickelte" bezeichneten Länder streben (müssen), wurde unter Rückgriff auf diese wechselnde Rhetorik aufrechterhalten.
Das jüngste Kapitel dieser irreführenden Strategie stellen die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) dar. Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive ist es begrüßenswert, dass die SDGs wie bereits die MDGs einige der zentralen weltweiten Probleme erkennen und zu deren Lösung beitragen wollen. Aber der Quantensprung, den die Menschheit angesichts der Tragweite globaler Krisen benötigt, sind sie nicht. Sie könnten es schaffen, die Geschwindigkeit des „Schiffes" zu verlangsamen, während dieses weiterhin auf das Eis zusteuert. Nichtsdestotrotz lohnt es sich für zivilgesellschaftliche Organisationen, für die Umsetzung der SDGs Lobby-, Sensibilisierungs-, und Mobilisierungsarbeit zu betreiben. Über so einen Rahmen zu verfügen, so unverbindlich er auch sein mag, ist besser als nichts.
Wenn die SDGs, die im Gegensatz zu den MDGs nicht nur für Entwicklungsländer gelten, sondern auch den Norden in die Pflicht nehmen, umgesetzt werden sollen, ist eine starke Mobilisierung von unten notwendig. Nur bei ausreichender zivilgesellschaftlicher Einmischung kann es gelingen, das vorhandene Potenzial der SDGs zur Entfaltung zu bringen. Dennoch wäre es besonders aus afrikanischer Perspektive zu kurz gegriffen, sich exklusiv auf die SDGs als Referenzrahmen zu beziehen. Der Referenzrahmen für zivilgesellschaftliche Organisation, die Krisen der Menschheit und besonders die Situation in Afrika ernst nehmen, ist und bleibt die globale Gerechtigkeit mit all ihren Implikationen. Diese konnte in den SDGs aufgrund konkurrierender Interessen zwischen den Protagonisten nur begrenzt abgebildet werden.
Neben den SDGs gibt es andere Instrumente in internationalen Beziehungen, welche zumindest einem Teil der SDG-Rhetorik entgegenlaufen. Zu erwähnen sind der nach wie vor imperiale Zugriff auf die Ressourcen der Entwicklungsländer und besonders Afrikas, die wiederkehrende Schuldenkrise und vor allem die EU-Offensive rund um die Freihandelsabkommen. Diese Entwicklungen werden von ihrer Gestaltung her „harte" Fakten schaffen und drohen, die SDGs zu einem Reparaturbetrieb und Ablenkungsdiskurs zu reduzieren. Dies verlangt von der Zivilgesellschaft ein strategisches Denken und Handeln: Die Auseinandersetzung mit den SDGs soll lebendig bleiben, aber letztendlich, um die Entscheidungsträger/innen in allen Regionen der Welt an ihre Selbstverpflichtung zu erinnern. Darüber hinaus hat eine selbstbewusste und sich ernst nehmende Zivilgesellschaft die Pflicht, sich Handlungsspielräume zu verschaffen, die es ermöglichen, die herrschende Gesellschaftsordnung selbst grundlegend zu verändern. Dafür muss die Zivilgesellschaft die Fähigkeit entwickeln, mit den in diesen Handlungsspielräumen entstehenden Konflikten umzugehen. Die Welt ist nie im Konsens verändert worden.

Jenseits von irreführender Rhetorik
Trotz der neuen Rhetorik um Nachhaltigkeit setzen auch die SDGs die Intensivierung des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells fort, das selbst zutiefst in der Krise steckt. Sieben Prozent Wachstum sollen laut SDGs die Entwicklungsländer bis 2030 erreichen, um die darin definierten Ziele zur Reduktion der Armut verwirklichen zu können. Daraus resultiert noch mehr Ressourcenübernutzung, noch mehr Produktion, noch mehr Konsum für die Privilegierten, und zugleich noch mehr Zerstörung. Dass die Früchte dieses Wachstums automatisch auch zu denjenigen durchsickern, die das kapitalistische System aus „unserer", zu einem reinen Markt verkommenden Welt verdrängt, hat sich in der bisherigen Geschichte des herrschenden Wirtschaftssystems nicht bestätigt.
Die Welt braucht nicht etwa mehr Handel, sondern ein Handeln, das die Mobilisierung aller spirituellen, kulturellen, intellektuellen und moralischen Ressourcen nutzt, um Alternativen zum thanatolgischen (auf das Sterben bezogene) System zu entwickeln. Damit eine tatsächliche „Transformationsagenda" und nicht die grün gefärbte Nachhaltigkeitsagenda an Fahrt gewinnt, bedarf es im Norden wie im Süden vieler Orte, an denen Pionierpraxen entstehen, wo experimentiert und der steinige Weg zur Überwindung des „Mainstream-Denkens" gewagt wird. Um dabei nicht in der Nische zu bleiben, sind alternative Praxen auf breit angelegte Strategien angewiesen, um an Tiefe und Breite zu gewinnen und die politischen Rahmenbedingungen so zu beeinflussen, dass lokale Initiativen gefördert und nicht konterkariert werden.
An solchen Orten des Lernens und des Austausches gilt es, die Annahme in Frage zu stellen, der Süden habe undifferenziert Nachholbedarf und der Norden darauf eine Antwort. Gefragt sind gemeinsame Lernprozesse, damit ein Paradigmenwechsel vollzogen werden kann, in dem die Menschen beginnen, den Reichtum der Armut und die Armut des Reichtums wahrzunehmen und zu reflektieren. Ohne diesen konkreten Einsatz für grundlegende Veränderungen läuft auch das Nachhaltigkeitsprojekt Gefahr, Fehler der vergangenen Entwicklungsdekaden zu wiederholen.
Mit der SDG-Agenda der internationalen Gemeinschaft erfreut sich die Nachhaltigkeitsrhetorik neuen Lebens, aber der Begriff der Nachhaltigkeit ist längst entkernt. Er hat seine politische Dimension verloren und wird oft auf das „grüne Wachstum" reduziert, das die ursprüngliche Idee der Nachhaltigkeit pervertiert hat. Grüne Ökonomie ist nämlich in Wachstumsstrategien eingebettet, die mit Nachhaltigkeit wenig zu tun haben. Sie setzt allein auf Technik als Weg der Zukunft. So sollen zwar sparsame Autos, aber von ihnen möglichst immer mehr produziert werden. Die Reduktion von CO2-Emissionen wird angesichts des Klimawandels zwar als Ziel definiert, aber an der Wachstumsideologie darf nicht gerüttelt werden. Die Technik regelt das Emissionsproblem schon.
Ohne zu bestreiten, dass Ressourceneffizienz und andere technische Innovationen neue Potenziale erschließen, wäre es naiv zu glauben, dass ein Festhalten an der Wachstumsideologie einen gerechten Interessenausgleich zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich sowohl im Norden als auch im Süden und vor allem gegenüber der Natur und auch der zukünftigen Generationen hervorbringen kann. Aber genau dies suggeriert die neue Nachhaltigkeitsrhetorik. So gesehen ist sie nichts anderes als ein weiteres Beispiel für die Kooptierung progressiver Ideen zur Bewahrung der bestehenden Verhältnisse. Diese Strategie zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Entwicklungspolitik.
Für die Zäsur, die die Menschheit jetzt braucht, ist es deswegen notwendig, sich von dieser neuen Rhetorik nicht blenden zu lassen. Sie lenkt vom notwendigen radikalen Umbau des herrschenden und zerstörerischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells ab. Für diesen radikalen Umbau sind sowohl im Norden als auch im Süden neue Akteure von unten gefragt.
Zivilgesellschaftlichen Initiativen kommt eine zentrale Bedeutung zu. Für die zivilgesellschaftlichen Initiativen der südlichen Hemisphäre bedeutet dies, sich von der Entwicklungsideologie als Referenzrahmen zu verabschieden und Änderungen anzustreben, die den lokalen, nationalen und regionalen Notwendigkeiten entsprechen. Damit dies gelingt, ist der Kampf um neue Gestaltungsmöglichkeiten zentral, jenseits von rein symbolischer Unabhängigkeit und politischen Systemen, die nur der Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse dienen.

Boniface Mabanza Bambu

Der Autor ist für die Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA) tätig.