Heft 6/2017, afrika süd-Dossier: Entwicklung

Ubuntu, Buen Vivir und die Suche nach Lebensalternativen

EINE ANDERE WELT AUS SICHT DER MARGINALISIERTEN


 „Eine Person mit Ubuntu ist offen und zugänglich für andere, fühlt sich durch andere bestätigt, fühlt sich nicht von den Fähigkeiten und der Güte anderer bedroht, verfügt über eine angemessene Selbstsicherheit, die sich aus dem Wissen um die eigene Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen herrührt, und fühlt sich selbst herabgewürdigt, wenn andere gedemütigt oder herabgewürdigt, wenn andere gefoltert oder unterdrückt werden."
Desmond Tutu,
Anglikanischer Geistlicher und früherer Erzbischof von Kapstadt, Friedensnobelpreisträger und Menschenrechtsaktivist


Während das vorherrschende Wachstums- und Entwicklungsmodell an die planetarischen Grenzen stößt, haben die sozioökonomischen Ungleichheiten national wie international zugenommen. Zurück bleiben die Versprechen auf „Entwicklung", die sich auf die Idee des „Fortschritts" gründen, die mit der Moderne auftauchte. Angesichts dieser Debatte zieht die weltweite Suche nach alternativen Gesellschaftsentwürfen immer weitere Kreise. Anknüpfend daran befinden sich immer mehr Menschen in verschiedenen Teilen der Welt in einem Prozess der Wiederbegegnung mit ihren Wurzeln. So entstehen immer mehr alternative Vorstellungen, die ihren Ursprung vor allem in traditionellen Völkern und Nationen aus vielen Regionen der Erde haben, sei es in Amerika, Asien oder Afrika, einschließlich in Europa.
Interessant ist hervorzuheben, dass aus philosophischen Weltanschauungen verschiedener Erdteile diese Art der Fokussierungen und Ansätze aus Lebenskulturen und mit verschiedenen Namen und Eigenschaften entstehen, die sich von vielen existierenden Praktiken in unterschiedlichen Zeiträumen und in unterschiedlichen Regionen der „Mutter Erde" nähren. Die Entstehung dieser Alternativen hat somit tiefe Wurzeln. Sie sind Teil einer langen Suche nach Lebensalternativen, geschmiedet in der Hitze des Kampfes der Menschheit für ihre Emanzipation und ihr Überleben.
Die wohl am bekanntesten Bezeichnungen verweisen uns auf das „Buen Vivir" (Gutes Leben) oder das „Vivir Bien", Wendungen, die aus indigenen, traditionell marginalisierten Sprachen Südamerikas stammen, wie „sumak kawsay" (in Quichua), „suma quamaña" (in Aymara) oder „ñande reko" (in Guaraní). Hervorzuheben ist daneben „Ubuntu" in Afrika – insbesondere im südlichen Afrika. Aber es gibt viele mehr. Ohne eine vollständige Liste anzustreben, ist als weiteres Beispiel „Swaraj" in Indien nennenswert.

Bewegung und Harmonie
Sowohl Ubuntu als auch Buen Vivir stellen Weltanschauungen von einheimischen Völkern dar, die überhaupt nicht vergleichbar sind mit westlichen Philosophien. Es sind lebendige Philosophien ohne professionelle Philosophen, es sind Praktiken ohne Theorien. Es sind insbesondere Erfahrungen der Gemeinschaft und kollektive Erinnerungen. Es sind keine ausdruckslosen Konzepte, sondern tägliche Lebenserfahrungen.
Das bemerkenswerte und tiefgreifende der dargelegten Alternativen ist, dass sie aus traditionell marginalisierten, sogar kolonisierten und dauerhaft ausgebeuteten Gruppen entstehen. Völker, die noch versuchen, ihre Werte, ihre Erfahrungen und ihre Praktiken zu erhalten. Buen Vivir oder Ubuntu sind keine akademische oder parteipolitische Kreation. Es sind keine neuen Rezepte oder einfach neue Entwicklungsprogramme, es sind vielmehr gemeinschaftliche Lebensprozesse.
Ubuntu, bekannt vor allem in den Bantu sprechenden Völkern, hat sein Leitprinzip in der Bewegung, Buen Vivir in der Harmonie. Beide Prinzipien – im Wesentlichen ähnlich bis komplementär – stellen einen konstanten und komplexen Fluss von Interaktionen und wechselseitigem Austausch auf: Geben und Empfangen in einem endlosen Prozess der Wechselseitigkeiten und Solidarität. Ubuntu und Buen Vivir nehmen die ethische Einstellung an, die das Leben eines Menschen leiten sollte: für sich selbst und die anderen Lebewesen zu sorgen. Daher beinhalten diese Konzepte eine direkte harmonische Beziehung zur Natur, mit ihren Rhythmen, ihren Kreisläufen und ihren Bewegungen. Und in dieser Welt der Bewegungen und Harmonien steht das Leben über jeglicher anderer Erwägung. Wir würden sagen, von Interesse ist die Reproduktion des Lebens und nicht die des Kapitals.
Sowohl die Vision des Ubuntu als auch die des Buen Vivir verstehen die Gemeinschaft wie eine harmonische Verbindung der Lebenden, der Vorfahren und der zukünftigen Generationen. Und aus der genannten Harmonie, verbunden mit der Mutter Erde, wird die Bewahrung des Lebens gewährleistet. So weitet sich das Konzept des Lebens auf die Umwelt und die zukünftigen Generationen aus. Und die verschiedenen Fruchtbarkeitsrituale in diesen afrikanischen und amerikanischen Gemeinschaften bezeugen diese ganzheitliche Sichtweise von einer Welt in Harmonie und Bewegung.
So gesehen ist die Arbeit eine Gruppeninstitution der gegenseitigen Unterstützung in einem gemeinschaftlichen und inklusiven Raum. Folglich ist die Arbeit für das Gemeinwohl der Bevölkerung bestimmt. Sie wird ausgeführt, um die Bedürfnisse und die kollektiven Interessen der Gemeinschaft zu erfüllen. Es sind diese Organisationsformen ihrer Wirtschaften, die es, verstärkt durch Reziprozität und Solidarität, ermöglicht haben, das Vergessen und die Ausgrenzung durch das koloniale und republikanische System zu konfrontieren. Darüber hinaus sind es Institutionen, die den Gemeinschaften geholfen haben, ihre Produktion unter äußerst widrigen Bedingungen aufrechtzuerhalten und dabei Kreativität und an den sozialen Erfordernissen orientiertes Haushalten zu fördern. Sie sind gleichermaßen ein leistungsstarker Ausdruck von kulturellen und feierlichen Ritualen der Einberufung und des Zusammenhalts von Gemeinschaften wie von Räumen des Austausches sozio-kultureller Richtlinien.
Aus dieser Perspektive fördern sowohl Ubuntu als auch Buen Vivir das Leben durch gegenseitige Sorge, Fürsorge und Teilen unter allen Menschen.

Recht der Natur...
An dieser Stelle erkennen wir an: Während ein guter Teil der Vorstellungen über konventionelle Entwicklung und sogar viele kritischen Strömungen sich innerhalb der eigenen westlichen Kenntnis der erwähnten Moderne entfalten, entziehen sich diese alternativen Visionen ihrer Grenzen, wie es der Anthropozentrismus und der Utilitarismus sind. Durch ihre Herkunft aus gemeinschaftlichen nichtkapitalistischen Wurzeln werfen beide Visionen unterschiedliche Optionen zur westlichen Weltanschauung auf; ohne die individuellen Rechte abzusprechen, schätzen und stärken sie die Gemeinschaftsrechte. Sie brechen sowohl mit der anthropozentrischen Logik des Kapitalismus als dominante Zivilisation als auch mit den verschiedenen, bis heute bestehenden Formen des „real existierenden Sozialismus", indem sie als grundlegende Koordinate das vorschlagen, was wir als „Recht der Natur" interpretieren könnten. Aus dieser Lesart wird eine sozio-biozentrische, das heißt zivilisatorische, Transformation aufgeworfen.

... versus wachstumsorientierter Fehlentwicklung
Die Sichtweisen und Lebenspraktiken aus Afrika, Lateinamerika und auch Teilen Asiens haben nichts mit Entwicklung gemein. Es geht nicht darum, ein Bündel von Richtlinien, Instrumenten und Indikatoren anzuwenden, um aus der „Unterentwicklung" herauszukommen und jenen erwünschten Zustand der „Entwicklung" zu erreichen. Eine im Übrigen nutzlose Aufgabe. Denn wie viele Länder haben „Entwicklung" erreicht? Sehr wenige unter der Annahme, dass „Entwicklung" als angestrebtes Ziel vorausgesetzt wird.
Nach einem langen und nutzlosen Wettlauf nach Entwicklung wird uns heute klar, dass das Problem im Entwicklungskonzept selbst besteht, das bis heute imperialistische und Leben zerstörende Praktiken reproduziert. Mehr noch, die Welt lebt in einer allgemeinen „Fehlentwicklung", eingeschlossen die als Industrieländer angesehenen, sprich die Länder, deren Lebensstil als Referenz-Leuchtturm für die zurückgebliebenen Länder dienen sollte. Das ist nicht alles: Die Funktionsweise des Weltsystems ist „fehlentwickelnd". Diese Feststellung gewinnt weltweit immer mehr Zulauf.
Es wird höchste Zeit, das traditionelle Konzept von Fortschritt in seiner produktivistischen Form und Entwicklung mit all ihren Synonymen als einzig gültige Richtung aufzulösen. Darüber hinaus sind andere, viel reichere und übergreifende Visionen, im Inhalt und in Lösungsansätzen, erforderlich. Und einige dieser Sichtweisen bieten uns die zuvor genannten indigenen Beiträge.
Für diese existiert kein analoges Konzept zur Entwicklung, was dazu führt, dass diese Idee in vielen Fällen abgelehnt wird. Es existiert kein Konzept eines linearen Fortschritts des Lebens, das einen Zustand des Vorher und Nachher, der Unterentwicklung und Entwicklung, festlegt; eine Dichotomie, die die Menschen zur Erreichung des Wohlstands durchlaufen sollen, wie es in der westlichen Welt gedacht wird. Es existieren auch keine Konzepte von Reichtum und Armut, bestimmt durch die Akkumulation oder den Mangel an materiellen Gütern. Buen Vivir oder Ubuntu zeichnen sich als Kategorien in dauerhafter Konstruktion und Reproduktion ab.
Ubuntu und Buen Vivir sowie die anderen alternativen Lebensanschauungen bieten die konzeptionelle und praktische Grundlage für eine alternative Vorstellung zu Wirtschaftswachstum und Entwicklung. Das heißt nicht nur, dass einige Länder Wachstum abbauen und andere vielleicht auf andere Weise wachsen müssen. Erforderlich ist gleichzeitig, die Religion des ständigen Wirtschaftswachstums zu überwinden und Raum zu lassen, damit die einheimischen alternativen Vorstellungen teilhaben können bei der Gestaltung einer anderen Welt, ohne Ausgrenzungen, ohne Gewalt, in der alle Menschen und alle Lebewesen in Würde und Frieden leben können. Es wird auch darauf ankommen, ob es gelingt, global zu denken unter der Erneuerung regionaler und lokaler Räume. Denn nur so können andere territoriale und konzeptionelle Landkarten entstehen.
Nach all diesen Weltanschauungen besteht die Notwendigkeit, Gemeinschaften auf Grundlage von Gleichheit und Gleichberechtigung aufzubauen. Damit diese Prinzipien der gemeinschaftlichen Solidarität Realität werden, ist die Umverteilung des Reichtums und der Zugang der gesamten Gemeinschaft zu den erzielten technologischen Fortschritten unerlässlich; dies erfordert, die Technologien in den Dienst des Lebens und nicht der Akkumulation von Kapital zu setzen. Vielleicht ist es angebracht, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass das weit verbreitete und bekannteste Betriebssystem mit freier Software „Ubuntu" ist, dessen Logik darin besteht, dass, sobald jemand von dieser Erfindung Gebrauch macht, diese an wen auch immer zur Verbesserung frei gibt, so dass die erste Person, der Urheber, davon sogar in Zukunft noch profitieren kann.
Unter Berücksichtigung ganzheitlicher Betrachtungsweisen ist es wichtig, die Vielfalt der Bestandteile zu verstehen, die das menschliche Handeln bedingen, das Ubuntu und Buen Vivir begünstigt, wie das Wissen, ethische und spirituelle Verhaltenskodexe in Bezug zum Umfeld, menschliche Werte, Zukunftsvision u.a. Schließlich stellen diese seit langer Zeit bestehenden Lebensalternativen eine Möglichkeit dar, die aktuelle Welt zu überdenken und um eine andere Welt aufzubauen, in der alle Lebewesen in Würde leben können. So zeigt sich das Potenzial von Ansichten aus dem globalen Süden als Ansatzpunkt für einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zur Wachstumslogik und zum Entwicklungspostulat.
Welchen Schluss wir aus dieser kurzen Annäherung ziehen können ist, dass man nicht einem monokulturellen Ansatz Platz machen darf. Wir haben verschiedene Konzepte zur Hand, mit profunden Ähnlichkeiten und einigen Unterschieden. Weshalb es besser wäre, von „buenos vivires" (guten Leben) oder „buenos convivires" (Formen guten Zusammenlebens) oder von „vielfältigen und gemeinschaftlichen ubuntus" zu sprechen. Wiewohl in einigen Ländern diese Konzepte in ihre Verfassungen integriert wurden, wie es in Bolivien und Ecuador der Fall ist, bedeutet das noch lange nicht, dass in diesen Ländern Buen Vivir oder Vivir Bien hergestellt wird. Um nicht falsch verstanden zu werden: Diese Annäherungen aus indigenen Gemeinschaften verschiedener Erdteile verleugnen nicht die technologischen Vorteile der modernen Welt oder mögliche Beiträge aus anderen Kulturen und Kenntnisse, die unterschiedliche Voraussetzungen der dominanten Moderne in Frage stellen. Sie bieten vielmehr eine Möglichkeit, gemeinschaftlich neue Lebensformen zu entwickeln.
Mit ihrem Postulat vom Einklang mit der Natur, ihrem Widerstand gegen das Konzept der fortwährenden Akkumulation, ihrer Überwindung von utilitaristischen und individualistischen Sichtweisen der Nutzung der Natur und der Gestaltung der Gesellschaften dienen Buen Vivir und Ubuntu dazu, die aktuelle Wirtschaft von ihren Wurzeln neu zu entwerfen und die Demokratie unter Anerkennung und Verstärkung ihrer gemeinschaftlichen Grundlagen tiefgreifend zu modernisieren. Man versteht dann, wie Ubuntu kraftvoll und klar vorgibt, dass „eine Person eine Person nur durch die anderen Personen ist" – immer unter Errichtung von Beziehungen des Einklangs mit der Natur.

Alberto Acosta

Der Autor ist ecuadorianischer Ökonom an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLASCO-Ecuador). Er ist ehemaliger Minister für Energie und Bergbau sowie Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung seines Landes.