EIN BEITRAG ZUM VERSTÄNDNIS VON UBUNTU. Wenn es darum geht, das Wissen oder Kulturprojekte vom Erbe des Kolonialismus und der Apartheid zu befreien, ist die Wiederbelebung vorkolonialer Werte ein wichtiger Bezugspunkt. Welche Bedeutung soll Ubuntu hierbei haben?
Wenn sich Menschen in Südafrika auf Ubuntu beziehen, wird das Wort generell so verstanden, als habe es eine klar ersichtliche Bedeutung. Demnach soll das Verhalten darauf ausgerichtet werden, was gut und erstrebenswert ist für den Aufbau konstruktiver zwischenmenschlicher Beziehungen. Oft wird Ubuntu als spezifisch afrikanisches Konzept gedeutet, etwa in „African Philosophy" von Mogobe Ramose. Auch Johann Broodryks „Ubuntu: Management Philosophy" ist hier zu nennen.
Professor Ramose interpretiert Ubuntu als Philosophie: „Menschliche Individualität ist notwendig, aber keine ausreichende Bedingung für das Menschsein. Solange ein Individuum nicht in eine Gemeinschaft integriert ist, gilt es nicht als Person im umfassenden Sinn. Persönlichkeit muss errungen werden, sie ist nicht einfach gegeben. Im langen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung spielt die Gemeinschaft eine zentrale Rolle. Sie wirkt wie ein Katalysator, denn sie vermittelt Normen."
Das Wort „menschlich" (ubuntu) ist von Sprichwörtern abgeleitet, die bedeuten, dass sich jede Person durch Beziehungen mit anderen verwirklicht. Es ist in Südafrika, Simbabwe und anderen Teilen des Kontinents verbreitet. In der Kontroverse über Ubuntu widersprechen manche Autoren der Vorstellung, dass es außerhalb Afrikas Äquivalente gibt, etwa den Humanismus oder die Brüderlichkeit. So schreibt Broodryk, der sich selbst als ersten Doktor der Ubuntu-Philosophie versteht: „Ubuntu sollte nicht mit westlichem Humanismus verwechselt werden. Ubuntu im Sinn von Menschlichkeit ist afrikanisch."
Das Wort „ubuntu" und vergleichbare Begriffe gibt es in vielen afrikanischen Sprachen in Südafrika, wie im isiXhosa, isiZulu und anderen Nguni- und Sotho-Sprachen: „Umntu ngumntu ngabantu / motho ke motho ke bantu." Das heißt sinngemäß: Eine Person ist eine Person durch Andere. Die südafrikanische Wissenschaftlerin und politische Analystin Nomboniso Gasa schreibt: „Dieses Sprichwort bezieht sich auf soziale Beziehungen im weitesten Sinn. Wie sollen sie gestaltet werden und welche Gesetze sollen gelten, um eine harmonische Gemeinschaft aufzubauen? Das Sprichwort dient als Richtlinie in Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. Es betont das Zusammensein als Teil der Gemeinschaft und regelt, wie Menschen gemeinsam Probleme lösen und sich in Krisenzeiten unterstützen sollen."
Gasa erläutert weiter: „Das Sprichwort schafft die Basis für die Rechenschaftspflicht jedes Individuums gegenüber der Gemeinschaft. Es geht um Moral und Werte, die individuelle Interessen unter die Interessen der Gemeinschaft und der Harmonie einordnen."
Basis für nationale Einheit versus Marketing Label
Der Begriff Ubuntu wird in südafrikanischen Diskursen hoch gehandelt. Er wird von politischen und religiösen Autoritäten oft benutzt, um Respekt zwischen Individuen einzufordern. Ubuntu wird oft als etwas betrachtet, das Südafrikaner zusammenhalten kann – als eine Basis für die soziale Kohäsion und die nationale Einheit.
Während es möglicherweise eine lobenswertes Ziel ist, das emanzipatorischen Werten entspricht, lebt die Mehrheit der Südafrikaner aber nicht gemäß der Maxime, die Ubuntu wörtlich vorschreibt und die Ramose und Gasa in den oben genannten Zitaten kurz erläutern.
In vieler Hinsicht wurde Ubuntu bereits kommerzialisiert, es wurde zusammen mit anderen Worten und Phrasen zur Namensgebung von Unternehmen genutzt: Ubuntu-Finanzdienste, Ubuntu Catering, Ubuntu-Fahrräder, Ubuntu-Sicherheitsunternehmen mit bewaffnetem Personal, um nur einige zu nennen. Die Geschäftsleute wissen, welche Bedeutung diese Worte für viele Südafrikaner haben, doch sie wollen damit nur Profit machen. Ubuntu wird zur Management-Philosophie, um die Produktivität zu steigern.
Plurale Bedeutungen
Wir wissen: Ubuntu ist umstritten. Inwieweit kann es zu konstruktiven sozialen Interaktionen in Südafrika beitragen? Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft sollten sich miteinander zu einer Gemeinschaft verbinden. Wörtlich heißt das: Sich durch Andere zu entfalten, miteinander konstruktiv umzugehen, nicht egoistisch oder rücksichtslos zu sein; das ist die Basis für das Wohl jedes Einzelnen.
Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie Ubuntu benutzt wird. Oft wird es als unveränderbares Element afrikanischer Kultur betrachtet und als Qualität, die allen Afrikanern innewohnt. Das meint beispielsweise Ramose. Aber es ist wichtig, dass wir eine Debatte über die Pluralität an Bedeutungen beginnen. Weil dieses Konzept offen ist für viele Deutungen, ist mein Ziel zu fragen, ob es mit einer übergreifenden emanzipatorischen Perspektive gedacht und weiterentwickelt werden kann. Ist es möglich, eine gemeinsame Synthese zu entwickeln, die sowohl inklusiv, an Gemeinwesen orientiert und respektvoll für alle Menschen in Südafrika ist? In welcher Weise und wie kann Ubuntu von Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen genutzt werden? Antworten darauf können nur durch eine Debatte gefunden werden. Schließlich lebt nur noch ein Teil in sozialen ländlichen Kontexten, wo es einst entstand.
Widersprüche und komplexe Systeme
Zudem gibt es Sprichworte in den Nguni-Sprachen und den äquivalenten Sotho- und anderen Sprachen, die dem Orientierungswert von Ubuntu widersprechen. Gasa erklärt: „Das Problem ist, wenn ein Sprichwort zu einer Philosophie erkoren wird. Das zerstört die Komplexität kultureller Kontexte und Milieus. Es raubt afrikanischen Gemeinschaften reiche, vielschichtige und auch widersprüchliche Formen der Auseinandersetzung, die es in jeder Gesellschaft und Zivilisation gibt. Es destilliert ein komplexes System an Sprichwörtern und negiert oder verschweigt andere Aspekte, die nicht so gut in die essenzialistische und ehrenwerte afrikanische Güte passen."
Gasa weiter: „Neben Ubuntu gibt es weitere Sprichworte, die alle zusammen gehören und Güte und Gemeinschaft kontextualisieren. Etwa: ‚Kein Fasan kratzt für den Anderen. Derjenige, der es dennoch tut, macht es für seine Kinder.' Damit wird die Balance zwischen individuellen und gemeinschaftsorientierten Aufgaben und Verantwortungsbereichen angedeutet. Wie kannst Du Mitglied einer Gemeinschaft werden, wenn Du Deine eigenen Familienbelange nicht gerecht und partnerschaftlich handhabst?"
Gasa erläutert: „Wenn wir Ubuntu aus dem ethnophilosophischen Diskurs herausnehmen und ihm eine progressive Substanz verleihen, müssen wir verstehen, dass es keine Philosophie ist, obwohl es so betrachtet wird. Selbst wenn wir es dahingehend entwickeln wollten, können wir nicht verneinen, dass es Teil einer komplexen sozio-kulturellen Welt ist, die auf das Patriarchat aufbaut, manchmal auf Gewalt und Machtbeziehungen. Diese Aspekte müssen wahrgenommen und vollständig aufgedeckt werden."
Die Idee von Ethnophilosophie wurde von Paulin Hountondji entwickelt; der Philosophieprofessor aus Benin beschreibt essenzialistische Grundlagen des afrikanischen Denkens. Das ist die auch von den Südafrikanern Ramose und Broodryk postulierte Vorstellung, es gebe eine afrikanische Philosophie, die sich von der unterscheidet, die Philosophen aus Afrika und Deutschland anderswo entwickelt haben.
In den Sprichwörtern, die Orientierungen für das Verhalten bieten sollen, wird ersichtlich, dass konkurrierende Visionen bezüglich vorbildlichen Verhaltens existierten. Das bedeutet: in vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften herrschte keineswegs per se Eintracht. Sie basierten auch nicht auf imaginiertem Konsens, wie Hountondji meint. Es gab Kontroversen darüber, wie man leben sollte. Wie alle Menschen hatten Afrikaner Konflikte und Widersprüche mussten geklärt werden. Ubuntu war nur ein Weg, all dies zu handhaben.
Im Unterschied zu Zynikern glaube ich, dass es wichtig ist, eine humanistische und emanzipatorische Vorstellung von Ubuntu zu entwickeln, die umstrittene Bedeutungen akzeptiert. Damit Ubuntu weiterhin wichtig ist, muss es als dynamisches Konzept verstanden werden. Als Teil afrikanischer Kulturen kann es nicht isoliert oder statisch betrachtet werden, denn genau so wie Elemente aus anderen Kulturen hat es immer Verbindungen nach außen.
Die Bedeutungen, die Ubuntu umfasst, müssen diskutiert werden. Das heißt, man muss gegen die patriarchalen, hierarchischen und anti-demokratischen Inhalte argumentieren – auch gegen die essenzialistischen und ahistorischen Dimensionen. Wenn wir diese analysieren, sehen wir, dass Leute hier ähnlich wie bei anderen Elementen von Kultur eine Bedeutung postulieren, die sie als zeitlos ausgeben und wofür sie Deutungshoheit beanspruchen. Diese geht oft mit der Fortsetzung patriarchaler und hierarchischer Vorstellungen einher.
Ganz entscheidend ist, den Verlockungen zu widerstehen, dass die Mutmaßungen, wie Sprichwörter verstanden werden sollen, augenscheinlich und offensichtlich sind. Wir müssen gegen angebliche Selbstverständlichkeit Vorbehalte bewahren. Gleichzeitig müssen wir uns fragen, was es bedeutet, sich durch die Beziehungen mit anderen zu verwirklichen, und warum dies so wichtig ist für den Aufbau einer humanen und mitfühlenden Gesellschaft.
Raymond Suttner
Der Autor ist Sozialwissenschaftler und politischer Analyst. Er ist Prof. em. der UNISA und an die Rhodes Universität assoziiert. Als Anti-Apartheid-Aktivist war er lange Jahre inhaftiert oder stand unter Hausarrest. Zu seinen Büchern zählt „Inside Apartheid's Prison". Raymondsuttner.com
Der Beitrag erschien am 26.9.2017 unter dem Titel „Decolonising project – what is the place of ubuntu?" in englischer Version auf polity.org. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.