Heft 6/2017, afrika süd-Dossier: Entwicklung

Von der Entwicklungshilfe zur militärischen Ertüchtigung

DIE MILITARISIERUNG DES ENTWICKLUNGSDISKURSES ist eine Folge der strategischen Interessen der Europäischen Union, bei denen Sicherheit Vorrang vor Entwicklung hat. In der Sprache der deutschen Außenpolitik heißt der Aufbau afrikanischer Streitkräfte und Sicherheitsapparate „Ertüchtigungsinitiative".

Seit dem Ende des Kalten Krieges führten die EU- und Nato-Staaten überwiegend asymmetrische Kriege. Sie griffen mit überlegener Technologie und insbesondere mit der Luftwaffe in Drittstaaten ein, um etwa im ehemaligen Jugoslawien die Unabhängigkeit früherer Teilrepubliken und Provinzen zu unterstützen bzw. in Afghanistan und Irak die bestehenden Regierungen durch neue zu ersetzen. Nach den zunächst schnell errungenen militärischen Siegen wurden in großem Umfang Bodentruppen stationiert, deren Ziel nicht das Niederringen eines staatlich organisierten Gegners, sondern die Errichtung und Stabilisierung einer neuen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ordnung war. Diese Aufgabe wurde im Fachjargon zunehmend als Staatsaufbau/Statebuilding beschrieben.
Flankiert wurden die militärischen Maßnahmen durch Versuche, in den betreffenden Ländern zivilgesellschaftliche Institutionen und eine neue politische und akademische Elite zu etablieren. Obwohl das Militär auch hier mitwirkte, fokussierte es bald auf den Aufbau eines neuen „Sicherheitssektors", also primär von Polizeikräften und Armee. Die Vorstellung, dass zukünftig vom Westen bezahlte und ausgebildete Sicherheitskräfte selbst die Stabilisierung der neuen politischen Strukturen durchsetzen sollten, diente zugleich als Exitstrategie der langwierigen, kostspieligen und vor allem auf Dauer unpopulären Einsätze ausländischer Bodentruppen.
Für tatsächliche gesellschaftliche Aushandlungsprozesse insbesondere um eine durch Öffnung für internationales Kapital und minimale Besteuerung geprägte, zukünftige wirtschaftliche Ordnung bestand dabei kein Spielraum. Auch die außenpolitische Orientierung, also die Anbindung an EU und Nato, stand für die intervenierenden Staaten nicht zur Debatte und wurde wesentlich über die „Sicherheitssektorreformen" festgelegt. Gleichzeitig scheiterten der politische Staatsaufbau und der gesellschaftliche Neubeginn. Obwohl dies vor allem auch an den fehlenden Spielräumen und Aushandlungsprozessen gelegen haben dürfte, leiteten westliche Thinktanks hieraus die Notwendigkeit ab, zivile Kapazitäten für den Aufbau von Staatlichkeit in anderen Ländern strategisch bereitzuhalten und mit den Militärmissionen besser zu vernetzen. So sind seit 2007 EU-Polizeiausbilder in der DR Kongo, später folgten Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau in Dschibuti, Kenia und auf den Seychellen (EUCAP Nestor), in Niger und Mali. Bereits vor der Abspaltung des Südsudan waren deutsche Juristen an der Ausarbeitung der neuen Verfassung und dem Aufbau der Polizei beteiligt.
Auch bei UN-Einsätzen fand eine Verschiebung statt weg von der reinen Eindämmung bewaffneter Konflikte hin zur Herstellung und Absicherung neuer politischer Ordnungen, die häufig bereits in den Resolutionen des UN-Sicherheitsrates festgelegt wurden.

Sicherheit vor Entwicklung
Diese Verschiebung, Statebuilding nicht mehr allein als Konzept des Wiederaufbaus nach westlichen Interventionskriegen zu verstehen, sondern lokale Konflikte im Zuge von kleineren UN-Missionen zu einer umfangreichen Transformation der jeweiligen politischen Ordnung zu nutzen, kam insbesondere auch der EU entgegen, die sich ab 1999 selbst als außenpolitischer Akteur etablieren wollte. Während es der EU an umfangreichen militärischen Strukturen, insbesondere zur Führung von Luftoperationen, fehlte, verfügte sie über große finanzielle Mittel für die sogenannte „Entwicklungshilfe". Außerdem stellte unter anderem Deutschland tatsächlich strategische Kapazitäten für den Staatsaufbau bereit, wie speziell für Auslandseinsätze vorgesehene Polizeieinheiten und Rechtsstaatsexpert/innen, die kurzfristig für Auslandsentsendungen bereitstehen. Erfahrungen bei der Verquickung solcher „ziviler" Mittel mit militärischen Einsätzen konnten bei Polizei-, Grenzschutz- und Rechtsstaatsmissionen in Folge von Nato-Interventionen (Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Irak) oder UN-Einsätzen (DR Kongo) gewonnen werden.
Die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) war zugleich mit der Erfahrung konfrontiert, bei Ihrer Arbeit in den „Partnerländern" immer häufiger auf deutsche Soldaten zu treffen und in militärische Lagebilder, Operationen und Zielvorstellungen eingebunden zu sein. Damit einher ging eine stärkere Betonung von Sicherheitsaspekten und konfliktbezogenen Themen innerhalb des Diskurses der EZ-Organisationen. Die gezielte Finanzierung ihrer Aktivitäten im Kontext bewaffneter Konflikte trug dazu bei, dass das Narrativ, wonach „Sicherheit eine Vorbedingung für Entwicklung" sei, weitläufig von staatlichen und nicht-staatlichen EZ-Organisationen übernommen wurde – anstatt Entwicklung jenseits des neoliberalen Paradigmas als Voraussetzung für gesellschaftlichen Frieden zu sehen.

Geld für Militärmissionen der AU
Relevanter als diese Verschiebungen innerhalb der EZ-Community dürften jedoch die politischen Ansätze insbesondere der EU gewesen sein, unter Verweis auf das oben genannte Narrativ gewaltige Finanzmittel unter dem Schlagwort „Entwicklung" für den Aufbau von militärischen, geheimdienstlichen und polizeilichen Strukturen bereitzustellen. Herausragendes Beispiel hierfür ist die Einrichtung der Afrikanischen Friedensfazilität (African Peace Facility, APF) im Jahr 2004, die bis 2016 mit 1,9 Mrd. Euro aus dem Europäischen Entwicklungsfonds ausgestattet wurde (2,7 Mrd. bis 2020). Neben der Finanzierung von Militärmissionen unter dem Dach der Afrikanischen Union (AU) – allein in den AMISOM-Einsatz in Somalia flossen zwischen 2007 und 2016 1,2 Mrd. Euro aus der APF – wird das Geld fast ausschließlich für den Aufbau von Interventionstruppen der AU und ihrer subregionalen Organisationen verwendet. Zwar fließen geringere Summen auch etwa in Frühwarnsysteme und den afrikanischen „Friedens- und Sicherheitsrat", letztlich handelt es sich jedoch dabei lediglich um den akademischen und politischen Überbau einer umfassend militarisierten AU.
Nach einem ähnlichen Prinzip wurde 2006 von der EU das Instrument für Stabilität (IfS) eingerichtet und bis 2013 mit zwei Mrd. Euro ausgestattet. Neben Afrika wurden mit dem IfS auch in Zentral- und Südasien sowie in geringerem Umfang in Lateinamerika vergleichsweise kleinere Projekte durchgeführt, die fast ausschließlich einen starken Sicherheitsbezug hatten und meist Einzelaspekte sogenannter Sicherheitssektorreformen umfassten. Typische Inhalte waren der Aufbau spezialisierter polizeilicher Strukturen, verbesserter Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden und die Einbindung zivilgesellschaftlicher und akademischer Organisationen. Gerade in Afrika zielten die Projekte häufig auf die Bekämpfung des Terrorismus und eine verbesserte Kontrolle der Migration ab – zunehmend auch beides in Kombination. In Algerien wurden Forschung zur Bekämpfung des Terrorismus und eine gemeinsame Geheimdienstzelle der Sahel-Staaten finanziert, außerdem wurde u.a. der Aufbau einer Westafrikanischen Polizeidatenbank unterstützt.
Ähnliche Projekte führte parallel die deutsche EZ-Durchführungsorganisation GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) durch: Ab 2008 half sie dem Südsudan – noch vor dessen Unabhängigkeit 2011 – beim Aufbau eigener Polizeistrukturen u.a. durch den Aufbau eines eigenen Funksystems. 2009 wurde das bis heute laufende Polizeiprogramm Afrika der GIZ ins Leben gerufen, mit dem laut GIZ-Website die „institutionelle und personelle Leistungsfähigkeit nationaler und regionaler Polizeiinstitutionen in (Post-)Konfliktländern und fragilen Ländern Afrikas" u.a. durch den „Neu- und Wiederaufbau von Polizei- und Grenzstationen" sowie Polizeischulen verbessert werden soll.
Der mit Hilfe der GIZ aufgebaute neue Staat Südsudan, der bereits 2013 wieder in einen blutigen Bürgerkrieg zerfiel, ist dabei kein Einzelfall: Auch in anderen Staaten wie der DR Kongo, der Elfenbeinküste und dem Tschad ist die von der GIZ unterstützte Polizei Partei in gewaltsam ausgetragenen, innergesellschaftlichen Konflikten auf Seiten autoritärer Regime.

„Ertüchtigungsinitiative"
Ein Schwerpunkt der insbesondere von der EU als Entwicklungshilfe begriffenen Aufrüstungsmaßnahmen waren Westafrika und die Sahelregion. Durch die entsprechenden Maßnahmen wurden die Themen Terrorismusbekämpfung und Migration systematisch miteinander verquickt. Die nationalen Regime nutzten sie, um ihre Kontrolle peripherer Regionen zu intensivieren. In Mali etwa unterstützte das IfS ein Programm der Regierung in Bamako, mit dem neue Polizei- und Militärposten sowie Gefängnisse im Norden des Landes errichtet wurden, was die dortigen Sezessionsbestrebungen befeuerte und zum Ausbruch jenes Krieges in Mali beitrug, an dem mittlerweile gut 1.300 Soldaten der Bundeswehr beteiligt sind.
Theoretisch war das 2014 in „Instrument für Frieden und Sicherheit" (IcSP) umbenannte IfS auf nichtmilitärische Maßnahmen begrenzt, in der Praxis erwiesen sich entsprechende Grenzziehungen gerade in militarisierten Konflikten als schwierig (wie es scheint, für die EU auch wenig relevant). Gegenwärtig jedoch ist eine Ausweitung des Instruments auch auf Maßnahmen mit Militärbezug in Vorbereitung, zusätzliche Mittel hierfür (100 Mio. Euro) sollen aus dem Instrument für Entwicklungszusammenarbeit mobilisiert werden. Das EU-Parlament hat dieser Erweiterung bereits zugestimmt, aktuell wird im Rat noch um die konkrete Formulierung gerungen.
Absehbar wird eine Übernahme laufender Kosten für Streitkräfte und Munitionsbeschaffung ausgeschlossen bleiben, der Aufbau militärischer Infrastruktur und „Kapazitäten" hingegen problemlos möglich sein. Damit nähert sich das IcSP entwicklungspolitisch dem an, was die Bundesregierung verteidigungspolitisch seit 2011 als „Ertüchtigungsinitiative" verfolgt: 2016 wurden für die „Ertüchtigung" ausländischer Streitkräfte erstmals 100 Mio. Euro im Bundeshaushalt eingestellt, 2017 waren es bereits 130 Mio. Geliefert wurden hiervon Panzer nach Jordanien und mobile Grenzsicherungsanlagen nach Tunesien. Bodenradare für Nigeria und LKW für den Niger sollen folgen, „damit die Truppen für die Aufgabe der Grenzsicherung mobil sind", wie es auf der Seite des Verteidigungsministeriums heißt. In Mali wurden bereits zwei Munitionsbunker gebaut und dort wurde noch im Oktober mit dem Ausbau der Start- und Landebahn in Gao begonnen.
„Gemeinsam mit den Vereinten Nationen unterstützt Deutschland den malischen Friedens- und Versöhnungsprozess durch eine Verbesserung der Infrastruktur in Nord-Mali", so heißt es vonseiten des BMVg unter dem Titel „Mali: Ertüchtigung des Flughafens in Gao". Gebraucht wird die neue Startbahn jedoch v.a. auch, damit die Aufklärungsdrohne Heron I der Bundeswehr starten und landen kann, ohne Schaden zu nehmen. Zukünftig könnten solche Maßnahmen auch aus dem IcSP finanziert und als Entwicklungshilfe deklariert werden. Denn Entwicklungshilfe wird insbesondere von der EU zunehmend als Aufbau von Repressionsapparaten verstanden, die eine katastrophale neoliberale Weltordnung gewaltsam durchsetzen sollen.

Christoph Marischka

Der Autor ist Politikwissenschaftler und Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung. Seine Schwerpunkte sind u.a. die EU-Afrikapolitik und Aufklärungstechnologie in den Nord-Süd-Beziehungen.