Heft 6/2019, afrika süd-Dossier: Tradition im globalen Zeitalter

Fußabdrücke der Erinnerungen

AFRIKAS LANDSCHAFT IST EIN TEXT, DER DARAUF WARTET, GELESEN ZU WERDEN. Fußpfade erzählen Geschichten, bergen kollektives Verständnis von Verwandtschaft und sozialen Beziehungen.

Die Kenntnisse über Afrika sind außerhalb des Kontinents gering und seine Lebenswelten werden nur selten verstanden. Von den ersten Reisenden bis hin zur Kolonialisierung wurde viel Falsches über Afrika geschrieben und missinterpretiert. Einige Europäer wie Hugh T. Roper glaubten, Afrika habe vor der Ankunft der Weißen keine Geschichte gehabt. „Vielleicht", schrieb er 1966, „gibt es in Zukunft ein bisschen afrikanische Geschichte zu unterrichten. Aber zur Zeit gibt es keine oder nur sehr wenig: Es gibt nur die Geschichte der Europäer in Afrika. Der Rest ist größtenteils Dunkelheit. Und Dunkelheit ist kein Thema für die Geschichte."

Eine andere Einschätzung war, dass Afrikaner ihre Umwelt nicht wertschätzten; ihnen fehle das Verständnis für den ästhetischen Wert der Landschaft. Diese beiden Wahrnehmungen waren falsch. Es war bedauerlich, dass sich die Europäer nicht die Zeit nahmen, die Werte, Kulturen und alltäglichen Bedeutungen von und Interaktionen mit der Umwelt zu verstehen. Wie Tuan es treffend ausdrückt: „Keine zwei Menschen oder zwei Gruppen von Menschen können dasselbe sehen." Das gleiche musste zwangsläufig zwischen Europäern und Afrikanern bei ihrem Aufeinandertreffen geschehen.

In der Landschaft lesen
Aus der Sicht eines Menschen, der in einer ländlichen Umgebung in Simbabwe geboren, erzogen worden und aufgewachsen ist, soll hier eine Einschätzung dessen gegeben werden, was von Forschern und Umwelthistorikern als „afrikanische Umwelt" bezeichnet wird.

Ich stimme Ingolds Argumentation zu, dass Wahrnehmung und Verständnis der Umwelt nicht eine Frage des Sehens, sondern des Verweilens in, Begreifens von und Interagierens mit der Umwelt sind. Als Kind, Teenager und später als junger Mann wurde mir klar, dass es nicht reicht, die Umwelt mit all ihrem Land, ihren Wäldern, Landschaften, Orten, Räumen und Ressourcen nur zu bewundern, sondern sie da ist, um mit ihr in Interaktion zu treten, denn sie ist es, aus der unsere Geschichte, unsere sozialen Beziehungen, unsere Verwandtschaftsbeziehungen, unsere Identität als Gruppe und unserer Lebensgrundlage einen Sinn gewonnen haben.

Die Welt war damals nach lokalem Wissen nicht rund, wie die Wissenschaft sagen würde, aber sie wurde so verstanden, dass sie dort begann, wo die Sonne aufging, und dort endete, wo sie unterging. Andere Koordinaten schlossen Norden und Süden ein, und das schloss die Welt für uns ab. Für die Menschen, die diesen Raum besetzten, war die gesellschaftspolitische Bedeutung abhängig von der Beziehung, die zwischen ihnen und der Umwelt bestand. Die meisten Forscher und europäischen Touristen haben sich für heilige Orte wie die Chinhoyi-Höhlen in Simbabwe interessiert, für eindrucksvolle Orte wie die Viktoriafälle in Simbabwe und Sambia oder Nationalparks wie Etosha in Namibia und Serengeti in Tansania. Dies waren jedoch nicht die wichtigsten Orte der Umwelt für die Afrikaner, insbesondere nicht für uns im ländlichen Simbabwe und allgemein im südlichen Afrika.

Pfade als soziale Netzwerke
Ich möchte hier den Fußweg beschreiben und diskutieren, wie er in der afrikanischen Umwelt gefunden und geschaffen wurde. Fußpfade sind für einen „Außenstehenden" etwas ganz Normales, sie sind nichts anderes als ausgetretener Boden. Für den Bewohner repräsentieren die Fußwege jedoch eine Vielzahl von Dingen und Bedeutungen. Erstens und vor allem sind Fußpfade ein Netz von Verbindungen und Beziehungen, die in der Landschaft gezeichnet sind. Sie bringen soziale Bedeutungen in das Leben der afrikanischen Bewohner. Bedeutungen, die nur verstanden werden können, wenn man die Pfade benutzt und ihnen folgt. Auf dem Land wurden koloniale Schotterstraßen für den Fahrzeugverkehr gebaut, um die Randgebiete mit den Ballungszentren in den Hauptstädten der Länder zu verbinden. Fußpfade bedeuteten mehr als Bewegung und die Verbindung zwischen Orten. Sie verbanden Dörfer und Gehöfte, ja, vor allem aber war das Gehen auf den Pfaden eine Möglichkeit, Beziehungen in der Landschaft herzustellen. Über Beziehungen oder Verwandtschaftsbindungen wurde nicht nur gesprochen, sondern sie wurden auch ausgeübt, indem man durch die Landschaft lief.

Diese Wege und der Akt des Gehens spielten eine wichtige Rolle bei der Erstellung mentaler Karten, auf denen die Anordnung der Gehöfte und Dörfer sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart lokalisiert, beschrieben und ebenso Verwandtschaft und soziale Bindungen erklärt wurden. Einfach ausgedrückt, stellen Fußpfade ein Netzwerk von Beziehungen und Verwandtschaft dar. Sie waren ein zentrales Instrument, um uns Kindern und Jugendlichen beizubringen, wer wer in unserer Gemeinschaft ist. Sie waren ein Mittel, um Erinnerungen, Beziehungen und soziale Bindungen von einer Generation zur anderen zu übermitteln.

Fußpfade spielen auch im Alltag und Lebensunterhalt der Menschen eine wichtige Rolle. Die Umwelt wurde nicht danach beurteilt, ob sie ästhetisch, gastfreundlich oder unwirtlich sei, sondern unter dem Gesichtspunkt der Interaktion. Die Ethnologin Ute Dieckmann, die über den Etosha-Nationalpark in Namibia schrieb, gestand, dass es schwer vorstellbar sei, wie die Menschen in dieser unwirtlichen Landschaft überlebt hätten.

Dieckmann machte eine wichtige Beobachtung: „Als ich zusammen mit den dort aufgewachsenen Menschen [Hai-om, eine San-Gemeinschaft] durch die Gegend ging, lernte ich die verschiedenen Pflanzenressourcen, die jahreszeitlichen Schwankungen von essbaren Pflanzen und die Tierverteilung sowie die Überreste früherer Siedlungen besser kennen ... "

Pfade halfen den Menschen, ihren Weg zu Wasserlöchern, Bergen oder Wäldern zu finden, wo sie Pilze und wilde Früchte sammeln, Honig holen, wilde Tiere jagen konnten, Pflanzenheilmittel kennen oder einfach nur spielen gingen. Dieckmanns Erfahrung mit den Hai-om war, dass „sie beim Gehen den Blick auf den Boden richten und nach Tierspuren Ausschau halten ... wobei nicht offensichtlich ist, wie die Männer Tierpfade von Menschenpfaden unterscheiden."

Der Fußweg ist eine Spur in der Landschaft, der die sozialen Erinnerungen der Menschen und zahlreiche andere Geschichten trägt, die mit der Umwelt, die als kollektives Gedächtnis dient, verbunden sind. In meinem ländlichen Zuhause konnten die Leute erkennen, dass ein Fremder vorbeigegangen war, indem sie einfach auf die Abdrücke der Schuhe auf den Wegen schauten. Die Schuhabdrücke halfen auch, Diebe aufzuspüren oder die Bewegungen der Menschen zu beobachten. In Anbetracht dessen, was ich oben erklärt habe, sind Fußpfade für Landbewohner nicht irgendetwas Gewöhnliches, sondern sie haben eine große soziale und historische Bedeutung. Sie werden verwendet, um das Leben der Menschen und ihre Sozialgeschichte zu interpretieren und Verwandtschaft und soziale Bindungen zu erklären.

Ich gehe davon aus, dass die Art, wie die Umwelt wahrgenommen und wie mit ihr interagiert wird, seit der Kolonialzeit unter Belagerung steht. Jene Wahrnehmungen, die überliefert wurden, beeinflussen jedoch noch immer die Art und Weise, wie Menschen mit der Umwelt und Landschaft umgehen und interagieren, insbesondere auf dem Land. Die Landschaft Afrikas ist ein Text, der darauf wartet, vom Betrachter gelesen zu werden. Leider haben Beobachter oder Touristen von außerhalb des afrikanischen Kontinents kein Interesse daran, die afrikanische Landschaft zu lesen, außer Orte zu fotografieren und zu dokumentieren, die sie einer Aufnahme für wert halten. Es gibt eine Menge Abdrücke in der Landschaft, die uns viel über die Menschen und nichtmenschlichen Akteure als Schlüsselfiguren bei der Entstehung von Geschichte erzählen. Wenn Sie eines Tages eine ländliche Landschaft Afrikas aufsuchen, nehmen Sie sich Zeit, um nicht nur den ästhetischen Wert, sondern auch die Geschichte und die gesellschaftspolitischen Bedeutungen zu studieren, die darin eingeschrieben sind. Es ist ein Palimpsest, das viele persönliche und kollektive Erinnerungen von den Anfängen bis zur Gegenwart in sich trägt. Sie sind nur zugänglich, wenn man sich der afrikanischen Landschaft mit den richtigen Fragen nähert und sich Zeit nimmt, sie zu verstehen.

Dr. Ivan Marowa

Der Autor ist Dozent am Department of History der University of Zimbabwe.